K. Kautsky

Republik und Sozialdemokratie in Frankreich


3. Die erste Republik in Frankreich


In einer seiner Amsterdamer Reden und jüngst wieder in einer Artikelserie der Humanité führte Jaurès aus, das in der französischen Revolution die Eigenart der proletarischen Taktik Frankreichs begründet liege, die gerade das Gegenteil der deutschen von Marx und Lassalle inaugurierten zu sein habe, da Deutschland leider nie eine ordentliche Revolution gekannt habe. Daran ist soviel richtig, das die Taktik von Jaurès allerdings das Gegenteil nicht bloß der Guesdeschen, sondern auch der Marxschen und Lassalleschen, der deutschen überhaupt ist, während die Guesdesche und die deutsche von demselben Gedankengang getragen wird.

Doch dies nur nebenbei. Was hier in Betracht kommt, ist die Jaurèssche These, das durch die Revolution dem französischen Proletariat eine andere Taktik vorgeschrieben worden sei, als dem deutschen. Dank der Revolution und der Republik habe das Proletariat seit deren Beginn eine große historische Rolle gespielt, „indem es die revolutionäre Bourgeoisie zuerst unterstützte und dann mit sich riß.“ (Humanité vom 14. September)

Auch darin liegt ein richtiger Kern. Kein Zweifel, dank der Revolution – die aber selbst wieder eine Folge einer besonderen ökonomischen Entwicklung und hochgradiger Zuspitzung der Klassengegensätze war – hat das Proletariat in Frankreich früher als in irgendeinem anderen Lande eine große politische Bedeutung erlangt, aber nur zum Teil dadurch, das es „die revolutionäre Bourgeoisie zuerst unterstützte und dann mit sich riß“, sondern zum größten Teile dadurch, das es in Gegensatz zur Bourgeoisie geriet und sie bekämpfte.

Die feudale Monarchie hatte Frankreich am Ende des achtzehnten Jahrhunderts in eine Lage gebracht, vergleichbar der des heutigen Rußland: Niederlagen nach außen, Korruption, ökonomischer Ruin im Innern; die völlige Niederwerfung des Regierungssystems war eine Lebensfrage für die ganze Nation geworden, an der alle Klassen interessiert waren, die nicht direkt an der bestehenden Staatsverwaltung Anteil hatten. Aber diese Niederwerfung wäre damals schon unmöglich gewesen ohne das Eingreifen der unteren Volksschichten, Kleinbürger, Bauern, Proletarier. Sie bewaffneten sich, erstürmten die Bastille, brannten die Schlösser des Adels nieder, hoben die feudalen Lasten auf, begannen die Selbstverwaltung ihrer Gemeinden.

Die konstituierende Nationalversammlung bestätigte nur, was das Volk volle zogen hatte. Durch das Gesetz vom 14. Dezember 1789 wurde die vollständige Selbstverwaltung der Gemeinde anerkannt, kein Regierungsbeamter stand über ihr. Sie erhielt auch ihre eigene bewaffnete Macht in den bewaffneten Bürgern, der Nationalgarde, die ihre Offiziere selbst wählte; das Gesetz vom 22. Dezember setzte die Selbstverwaltung der Departements fest; am 5. Mai 1790 wurde die Wahl der Richter durch das Volk eingeführt, am 12. Juli endlich bestimmt, das jede Gemeinde ihren Pfarrer, jedes Departement seinen Bischof selbst erwähle.

Dieser Umwälzung der Verfassung entsprach eine Umwälzung des Steuerwesens. Die herrschende Klasse versteht es immer, die Lasten des Staates, den sie ausbeutet und der sie schützt, den ausgebeuteten und niedergehaltenen Klassen aufzuladen. Aus dem Steuersystem kann man daher den sozialen Charakter eines Staatswesens erkennen.

Die große Revolution beseitigte natürlich die Steuerfreiheit der privilegierten Klassen, dann aber auch die indirekten Steuern, die Salz- und Getränkesteuern, das Tabaksmonopol, die inneren Zölle und die Gemeindeoktrois. Neben den Reichszöllen und dem Erlös aus dem staatlichen und kommunalen Grundbesitz, der durch die Kirchengüter gewaltig vermehrt wurde, sollten die Staatseinnahmen durch eine einzige direkte Steuer auf das Reineinkommen gelegt werden, das man, nach der damals herrschenden physiokratischen Lehre, ausschließlich in der Grundrente sah. So hatte das Volk die Machtmittel der Klassenherrschaft, Staatsverwaltung, Rechtsprechung, Armee, Kirche, sich zu eigen gemacht und die Lasten der Erhaltung des Staatswesens von sich ab auf die höheren Klassen abgewälzt: in der Tat, eine großartige Leistung, vollbracht durch das unterstützende und vorwärtstreibende Eingreifen des Proletariats und des Kleinbürgertums in den Kampf der Bourgeoisie gegen die Monarchie.

Aber selbst damals schon, als noch eitel Harmonie zwischen Bourgeoisie und Proletariat zu sein schien und ihre Klassengegensätze höchstens in gelegentlichen Hungerrevolten ohne politische Bedeutung zutage traten, warnte ihr Klasseninstinkt die Bourgeoisie vor allzu großen politischen Konzessionen an das Proletariat. Wenn sie schon nicht wagen durfte, die neugewonnene Freiheit direkt zu konfiszieren, so suchte sie diese wenigstens indirekt zu monopolisieren, indem sie die Unterscheidung des Aktiv- und Passivbürgers schuf. Nicht das Volk wurde bewaffnet, sondern nur die Aktivbürger; nur diese hatten die Gemeindevertreter, Richter, Pfarrer usw., sowie endlich die Deputierten in die Nationalversammlung zu wählen. Aktivbürger wurde aber nach dem Gesetz vom 22. Dezember 1789 nur, wer großjährig war, ein Jahr lang im Bezirk wohnte und eine direkte Steuer im Betrag von wenigstens drei landesüblichen Taglöhnen zahlte. Die Zahl der Aktivbürger betrug 4 Millionen bei einer Bevölkerung von etwa 26 Millionen. Überdies waren alle diese Wahlen indirekte, und da sich die Bourgeoisie dadurch noch nicht genügend geschützt glaubte, machte sie die Wählbarkeit für die Nationalversammlung von dem Besitz eines Grudeigentum und dem Zahlen einer direkten Steuer im Betrag von 1 Mark Silber (etwa 50 Franken) abhängig.

Zu dem politischen Schutzwall des Zensur gesellte sich die Berufsarmee. Neben der Nationalgarde blieb das alte Heer bestehen mit seinen oft im Ausland geworbenen Regimentern, die sich zum Teil immer noch gegen das Volk gebrauchen ließen und die der Disziplin unter aristokratischen Offizieren unterworfen blieben. Endlich blieb noch als Schutzwall der besitzenden Klassen die Monarchie erhalten, die allerdings dem Parlament, der Nationalversammlung, untergeordnet wurde, aber immerhin das Kommando über die Armee, die Ernennung der regierenden Minister und das Recht behielt, den Beschlüssen der Nationalversammlung, wenigstens für einen gewissen Zeitraum, die Zustimmung zu versagen, ohne die sie nicht Gesetz werden konnten (das Veto).

Die große Bourgeoisie hing an der Monarchie und der Armee als der letzten Schutzwehr gegen den Andrang des revolutionären Volkes – Kleinbürger und Proletarier. Und als Ludwig XVI. aus Paris ins Ausland zu fliehen suchte, um mit der Hilfe auswärtiger Monarchen seinen wankenden Thron zu stützen, kam es nach seiner Gefangennahme zum ersten feindlichen Zusammenstoß der beiden Klassen in der Revolution. Während die Volksmasse die Abdankung des Königs forderte, verteidigte ihn die Mehrheit der Nationalversammlung. Wie sehr sie sich dabei schon ihrer Klasseninteressen bewußt war, beweist der damalige Ausspruch Barnaves:

„Die Revolution muß innehalten; ein Schritt weiter auf der Bahn der Freiheit, und wir haben die Vernichtung des Königtums. Ein schritt weiter auf der Bahn der Gleichheit, und wir haben die Aufhebung des Eigentums.“

Als dann am 17. Juli 1791 auf dem Marsfeld eine Petition aufgelegt wurde, welche die Abdankung des Königs forderte, und das Volk in Massen zuströmte, sie zu unterzeichnen, da rückte der „Freiheitskämpfer“ Lafayette mit der bürgerlichen Nationalgarde von Paris an und jagte die Menschenmenge unter blutigem Gemetzel auseinander.

Das war die würdige Einleitung des Klassenkampfes von Bourgeoisie und Proletariat.

Barnave hatte recht gehabt, die Bourgeoisie mußte wünschen, das die Revolution zum Abschluß komme. Sie hatte erreicht, was sie brauchte, jeder weitere Schritt auf dem Wege der Revolution mußte sich gegen das Eigentum, das heißt sie selbst wenden.

Aber in den Kämpfen der Jahre 1789 und 1790 hatten die niederen Volksklassen, namentlich von Paris, ihre Kraft erkannt; sie hatten gesiegt, aber die Frucht des Sieges war dem besitzenden Bürgertum zugefallen. Sie konnten sich dabei nicht beruhigen, sie mußten danach trachten, auf dem Wege der Freiheit und Gleichheit weiter zu marschieren, um sich aus ihrer Not und ihrem Elend emporzuarbeiten; und da sich die Bourgeoisie den Versuchen widersetzte, sie auf diesem Wege mit sich zu reisen, mußte es bald zu erbitterten Kämpfen zwischen beiden Klassen kommen,

Ihre Gegensätze wurden noch gesteigert durch den Krieg, den die verbündeten Monarchien Europas gegen das revolutionäre Frankreich führten, einen Krieg, in dem es sich nur behaupten konnte durch die energischste Aufbietung aller seiner Mittel, wie sie bloß die Rücksichtslosigkeit durchsetzen konnte, welche die unteren Klassen für das Eigentum empfinden. Jetzt (1792 und 1793) wurde die Monarchie in Trümmer geschlagen, das allgemeine Stimmrecht proklamiert, die alte Armee völlig aufgelöst und durch die Bewaffnung des gesamten Volkes ersetzt; jetzt wurde der Reichtum der Reichen dazu verwendet, die Armeen und die Armen zu ernähren. Aber es war eine Zeit des Schreckens, in der dies geschah, eine Zeit des Schreckens für die Bourgeoisie, die sich durch dieses Regime weder „unterstützt“ noch „mitgerissen“ fühlte; Akte, wie etwa die Hinrichtung der Girondisten, empfand sie durchaus nicht als Ausflüsse der „Kooperation der Klassen“.

Die Schreckensherrschaft, diese Diktatur, wenn auch nicht des Proletariats allein, so doch der niederen Volksklassen, entsprang mit Notwendigkeit aus den Verhältnissen, aber sie war mit gleicher Notwendigkeit zum Scheitern verurteilt. Noch war die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Produktion nicht gegeben, bereits aber die Möglichkeit verschwunden, die Gesellschaft auf die individuelle Produktion des Kleinbetriebs zu beschränken. Die Herrschaft des Kapitals war eine gesellschaftliche Notwendigkeit geworden, der Krieg verstärkte, wie er es noch überall in dem letzten Jahrhundert getan hat, die dem Kapitalismus günstigen Tendenzen, da er ein gewaltiges Bedürfnis nach Massenproduktion und Massenhandel schuf. Gleichzeitig mit dem Bedürfnis nach Kapitalismus schuf er aber auch Kapitalien und Kapitalisten, sobald er eine siegreiche Wendung genommen hatte. Unermeßliche Reichtümer der Nachbarländer, namentlich ihrer Kirchen, Aristokraten und Fürstenhöfe floßen in die Taschen der Sieger und ihrer Ausbeuter. Dies und die Lieferungen für die Armeen schuf immer wieder neue Kapitalisten.

Da die Warenproduktion bestehen blieb, blieb auch die Schreckensherrschaft der Notwendigkeit unterworfen, für das wichtigste der modernen Kriegsmittel zu sorgen: Geld, Geld, noch einmal Geld. Und da die indirekten Steuern fast sämtlich aufgehoben waren, die direkten nicht genug abwarfen, bildete die Haupteinnahmsquelle der Regierung der Verkauf der konfiszierten kirchlichen und aristokratischen Güter an Leute, die sie bar bezahlen konnten, also nicht an Proletarier, sondern an Kapitalisten. Ungeheure Bodenflächen wurden von den Bodenspekulanten um billigen Preis erworben und dann in kleinen Parzellen mit großem Profit, meist an Bauern und Taglöhner, verkauft. Auch dadurch schuf der Krieg eine ausgedehnte und reiche Kapitalistenklasse.

Mit dem Siege schwand auch die Zwangslage, welche das Schreckensregiment für alle revolutionären Klassen zur Notwendigkeit gemacht hatte. Seine gewaltsamen Eingriffe ins ökonomische Leben wurden, außer für das Proletariat, immer unerträglicher. Das Proletariat selbst aber beraubte der Krieg seiner kampffähigsten Elemente, nicht nur durch Krankheiten und feindliche Waffen, sondern auch durch Kriegsglück und Beute, die so manchen armen Schlucker in die Reihen der Gebietenden und Reichen emporhoben. Gerade dadurch wurde auch im Volksheer selbst eine neue, vom Volke unterschiedene Offizierskaste mit kapitalistischen Instinkten und Interessen geschaffen, die an die stelle des alten feudalen Offizierkorps trat.

So mußte sich die Wage bald wieder auf die Seite der Bourgeoisie senken. Der 9. Thermidor (27. Juli) 1794, der Sturz Robespierres, bildete den Wendepunkt, die Niederwerfung der Vorstädter von Paris in einer Serie blutiger Straßenkämpfe vom 12. Germinal bis zum 4. Prairial (1. April bis 23. Mai) 1795 war die entscheidende Katastrophe, die Hinrichtung Babeufs am 27. Mai 1797 der letzte Akt in dem Trauerspiel der Niederwerfung der niederen Volksmasse durch die revolutionäre Bourgeoisie. Schritt für Schritt wurde ihr ein Machtmittel nach dem anderen genommen, zuerst natürlich die Waffen des physischen Kampfes; die Nationalgarde wurde wieder zur bewaffneten Bourgeoisie. Die Armee fing wieder an, sich vom Volke abzusondern. Ihre Offiziere wagten schon, sie gegen dieses ins Feld zu führen. Ebenso wurden dem Volke die Waffe der Organisation genommen, seine Vereine aufgelöst (der Jakobinerklub am 12. November 1794), endlich die Waffe des Stimmzettels geraubt. Das Wahlrecht wurde durch die neue Verfassung des Jahres III (1795) an die Zahlung einer direkten Steuer und Ansässigkeit im Wahlbezirk während mindestens eines Jahres gebunden; an Stelle der ·direkten Wahl, welche die Verfassung von 1793 eingeführt, wurde wieder die indirekte durch Wahlmänner gesetzt.

Damit war die Herrschaft des niederen Volkes gebrochen, aber auch das Schicksal der Republik besiegelt. Die Bourgeoisie hatte die Armee wieder vom Volke losgelöst, über dieses gestellt und gegen dieses aufgeboten, min wurde sie selbst vom Herrn der Armee unterworfen.

Napoleon vollendete nach seinem Staatsstreich von1 18. Brumaire (1799) das Werk der republikanischen Bourgeoisie, die neue Staatsgewalt zu einem Werkzeug der Klassenherrschaft zu gestalten. An Stelle der Selbstverwaltung der Gemeinde und des Departements trat die Verwaltung durch eine zentralisierte Bureaukratie.

Die Seele der lokalen Verwaltung wurde der von der Regierung ernannte Präfekt, der an die Spitze des Departements gestellt wurde und die Gemeinderäte aller Gemeinden im Departement, sowie auch die Bürgermeister in den Gemeinden mit weniger als 5.000 Einwohnern ernannte. Die Bürgermeister der größeren Gemeinden wurden direkt von der Regierung bestellt.

An Stelle des vom Volke gewählten trat jetzt auch der vom Staatsoberhaupt ernannte, allerdings angeblich von der Regierung unabhängige Richter. Diesem wurde aber nun als aktivstes Element des ganzen Gerichtsverfahrens der Staatsanwalt zur Seite gestellt, der direkt ein Regierungsbeamter ist, von der Regierung seine Weisungen erhält und diese auszuführen hat.

Endlich wurde auch die kirchliche Hierarchie wiederhergestellt und dem neugeschaffenen Herrschaftsapparat einverleibt, durch das Konkordat von 1801.

Dies Konkordat besteht heute noch, es ist jetzt eben das Objekt lebhafter Kämpfe. Aber nicht bloß das Konkordat, der ganze um die Wende des achtzehnten Jahrhunderts geschaffene Verfassungsbau hat sich in allen wesentlichen Punkten unverändert bis heute erhalten, so sehr entsprach er den Interessen der Bourgeoisie.

Und wie mit der Verfassung, verhält es sich mit der Steuergesetzgebung. Die direkten Steuern traten nun wieder an Bedeutung zurück neben den ins direkten, die hervorgeholt und modernisiert wurden. Das Kaiserreich erneuert die Getränkesteuer, Salzsteuer, das Tabakmonopol, das Oktroi der Gemeinden; es erhöht auch die Einfuhrzölle. Nach Adolf Wagners Finanzwissenschaft (III. Teil, S. 380, 389) rechnete das französische Budget mit folgenden Einnahmen (in Millionen Franken):

 

 

Direkte
Steuern

 

Indirekte
Steuern

Enregistrement
und Stempel

1800

268

  12
(Zölle)

123

1810

803

217

191

Zunahme

15 Prozent

1.700 Prozent

55 Prozent

Gegen alle das hatte die Bourgeoisie nichts einzuwenden. Das einzige, was sie an der Verfassung des Kaiserreichs unangenehm empfand, war der Mangel des Parlamentarismus. Dieser ist die ihrer Klassenlage am besten angepaßte Form für ihre Klassenherrschaft, danach verlangt sie allenthalben, wo sie ökonomische Macht erlangt hat. Um die Gewinnung eines Repräsentativsystems, um die Vermehrung der Rechte des Parlamentes, um die ihren Interessen am besten angepaßte Gestaltung des Wahlrechtes drehten sich allein alle die Politischen Kämpfe der einzelnen Schichten der Bourgeoisie – hohe Finanz, industrielles großes und kleines Kapital, Großhandel, Zwischenhandel – in den nächsten Jahrzehnten nach dem Erstehen und dem Zusammenbruch des Kaiserreichs.

Die unteren Klassen des Volkes dagegen, wenigstens die Kleinbürger und Proletarier in Paris, blieben dem Gedanken der Republik treu, der einzigen Staatsform, durch die sie wenigstens zwei Jahre lang (1792 bis 1794) Frankreich beherrscht und in die Geschicke Europas bestimmend eingegriffen hatten. Die Republik war die Form ihrer Klassenherrschaft gewesen, an ihr hielten sie fest. Zu ihnen gesellten sich alle die mannigfaltigen Ideologen, die teils, mehr oder weniger bewußt, die Interessen der unteren Klassen vertraten, teils sich an der Größe der Erinnerungen von 1793 berauschten, ohne sich über die Klassengegensätze klar zu werden, die damals miteinander rangen.

So oft die Kämpfe der Bourgeoisie mit Königtum, Junkertum, Kirche sich so sehr zuspitzten, das die unteren Volksklassen dadurch aufgewühlt und zu politischen Aktionen getrieben wurden, kamen auch republikanische Tendenzen auf, welche die liberale Bourgeoisie dann eifrig niederzuhalten bestrebt war, denn auch · in ihrer Erinnerung war die Republik gleichbedeutend mit dem Regime der unteren Volksklassen. 1830 gelang es ihr auch, nach Vertreibung der Bourbonen, die drohende Republik zu eskamotieren und den Orleans auf den Thron zu verhelfen. Aber nicht so glücklich war sie 1848, als die Agitation um eine Wahlreform durch die Provokationen der Regierung urplötzlich zu einem Kampfe gegen die Dynastie und deren Umsturz führte, Diesmal beherrschten die unteren Volksklassen so gründlich das Feld, das die Republik unvermeidlich wurde. Um zu retten, was zu retten war, blieb den bürgerlichen Politikern nichts übrig, als sich im Handumdrehen zur Republik zu bekehren, damit sie ihre Regierung bilden könnten. So kam’s zur zweiten Republik.


Zuletzt aktualisiert am 13.7.2011