Karl Kautsky

Mengers Neue Sittenlehre

(1905)


In: Die Neue Zeit, 24. Jg. (1905/06), Bd. 1, S. 76–85.
Abgedruckt in Detlef Joseph (Hrsgb.): Rechtsstaat und Klassenjustiz. Texte aus der sozialdemokratischen Neuen Zeit 1883–1914, S. 108 ff.
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Es wird bald zwanzig Jahre her, daß der Herr Professor Anton Menger mit einem Schlage ein berühmter Mann ward. Er wurde berühmt, wie man heute in der bürgerlichen ökonomischen und sozialen Literatur berühmt wird, durch ein Buch, nach dem kein Hahn gekräht hätte, das spurlos vorbeigegangen wäre, wenn es nicht eine energische Herunterreißung von Karl Marx enthalten hätte. Wer das in wirksamer Weise leistet, darf immer des Beifalls, ja der Bewunderung der bürgerlichen Welt sicher sein. Marx ist und bleibt der Feind, den sie nicht zu überwinden vermag, der ihr mit Vernichtung droht. Der Nachweis, daß Marx wenigstens hier und da einen Fehler begangen, bleibt die wichtigste Aufgabe, die sie sich stellt.

So erregte es auch großen Spektakel in der wissenschaftlichen und politischen Welt, als 1886 Herr Anton Menger sein Buch über das Recht auf den vollen Arbeitsertrag veröffentlichte, in dem er den Nachweis versprach, Marx habe seine wichtigsten Theorien früheren Theoretikern entlehnt, ohne seine Quellen zu nennen. Damit waren diese Theorien zwar nicht widerlegt, aber doch diskreditiert, und das ist immerhin etwas.

Engels schrieb damals für die Neue Zeit eine Kritik des Buches, die ich vollenden mußte, da Engels durch eine plötzliche Erkrankung daran verhindert wurde. Die Kritik erschien im Februar 1887. Sie wies nach, wie lächerlich der Vorwurf des Plagiarismus sei, wie er nur darauf beruhe, daß bei einigen älteren Sozialisten ein Wort zu finden sei, das auch Marx gebrauche – das Wort „Mehrwert“ –, daß aber völlige Hilflosigkeit in ökonomischen Dingen dazu gehöre, um nicht zu sehen, daß Marx mit diesem Worte einen ganz anderen Begriff verbinde und ganz andere Erkenntnisse daraus ziehe als die früheren Sozialisten. Die große wissenschaftliche Tat von Karl Marx bestand eben nicht darin, daß er die Tatsache des Mehrwerts entdeckte, sondern darin, daß er aus dieser Tatsache den Schlüssel machte, um uns das Verständnis des ganzen kapitalistischen Produktionsprozesses zu erschließen.

Von alledem hat die bürgerliche Wissenschaft natürlich nicht Notiz genommen. Obwohl der Mengersche Vorwurf auf grober Unkenntnis der Geschichte der ökonomischen Theorien beruhte, wird er heute noch von den Kritikern des Marxismus gerne kolportiert. Dank ihm ist der Wiener Professor zu einer von der bürgerlichen Wissenschaft anerkannten Größe geworden.

Da wir uns aber mit ihm wegen seines Angriffs auf Marx beschäftigen mußten, untersuchten wir auch bei dieser Gelegenheit den anderen Inhalt seines Buches, der sonst wohl gänzlich unbeachtet geblieben wäre, den eigenartigen Sozialismus, den er darin im Gegensatz zum marxistischen entwickelte, einen naiven Utopismus, den wir Juristensozialismus tauften. Da der Herr Professor der Rechte keine Ahnung von ökonomischer Theorie hat, erscheint ihm diese für den Sozialismus ganz nebensächlicher Natur. Es gelte jetzt endlich, ihn aus den „endlosen volkswirtschaftlichen und philanthropischen Erörterungen loszuschälen und in nüchterne Rechtsbegriffe zu verwandeln“, seine ganze „nationalökonomische Verbrämung“ zu beseitigen, um die „juristische Bearbeitung des Sozialismus“, „die wichtigste Aufgabe der Rechtsphilosophie unserer Zeit“ in die Hand zu nehmen.

Was wir damals zur Kritik Mengers gesagt, haben seine Schriften seitdem bestätigt, soweit sie dem Aufbau des Staatsrechtes für den sozialistischen Zukunftsstaat und nicht aktuellen juristischen Fragen gelten. Über seine Behandlung der letzteren kann ich nicht urteilen.

Seine neueste Schrift, Neue Sittenlehre [1], ist eine konsequente Fortentwicklung seiner früheren Ideen. Es ist gerade kein erfreuliches Zeichen besonderer Klarheit, daß sie in einem Teile unserer Parteipresse ebenso wie seine „neue Staatslehre“ als eine große, wissenschaftliche Tat gepriesen, ja sogar hervorgehoben wird, daß Mengers Standpunkt sich „grundsätzlich“ nicht von dem der „materialistischen Geschichtsauffassung“ unterscheide; ein Lob, über welches niemand mehr verwundert sein wird als unser Professor selbst, der seit jeher diese Auffassung als einen verderblichen Irrtum bekämpft.

Auch in seiner Neuen Sittenlehre tritt sein „Juristensozialismus“ als die Grundlage der ganzen Arbeit hervor, die nichts ist als eine ununterbrochene Verwechslung von Sittlichkeit und Recht.

Menger untersucht nirgends, was das Wesen der Sittlichkeit eigentlich ausmacht. Aber er sagt ausdrücklich, daß er darunter eine Regel des Handelns, nicht des Wollens versteht.

„Für das friedliche Zusammenleben der Menschen“, meint er, „für ihre wechselseitige Anpassung, die das Wesen der Sittlichkeit ausmacht, ist nur das äußere Handeln von Bedeutung, während das bloße Wollen dem individuellen Dasein angehört.“ (S. 31)

„Eine rein menschliche Moral, die von allen religiösen Triebfedern absieht, wird nur die Taten der Menschen, nicht ihre dunklen und rätselhaften Hintergründe im menschlichen Gemüt in Betracht ziehen. Wir sehen auch, daß im praktischen Leben alle Welt nur die äußeren Handlungen in Betracht zieht: der Gatte begnügt sich mit dem Besitz und der Treue seiner Gattin, der Staat verlangt von seinen Bürgern nur Steuern und Rekruten, ja selbst die Kirche, die das menschliche Gemüt in seinen Tiefen beeinflussen will, ist überall mit der äußeren Wertheiligkeit zufrieden. Auch die Juristen, deren Beruf es ist, die menschlichen Handlungen zu beobachten und zu regulieren, lassen im Zivil- und Strafrecht das bloße Wollen unbeachtet.“ (S. 33)

Der Hinweis auf den Staat und die Juristen stimmt. Denen handelt es sich nicht um das bloße Wollen. Der Gatte aber, dem die Tatsache des Besitzes und der Treue der Gattin genügt, dem es nicht einfällt, danach zu fragen, wie sie denkt und fühlt, dürfte kaum als Mustergatte angesehen werden.

Hätte der Jurist wirklich, wie Menger meint, „die menschlichen Handlungen zu beobachten und zu regulieren“, dann könnte ihm auch das bloße Wollen nicht gleichgültig sein. Denn nur durch Beeinflussung des Bauens kann er auf die Handlungen der Menschen bestimmend einwirken. Aber das ist eben nicht seine Aufgabe. Er hat nur vorgekommene Gesetzesübertretungen herauszufinden und zu bestrafen, und darum gehen ihn nur vollzogene Tatsachen etwas an und kümmert ihn das Wollen gar nichts, solange es nicht zur Tat geworden. Dagegen übt die Sittlichkeit die Funktion, die Menger den Juristen zuschreibt, die menschlichen Handlungen zu regulieren, soweit sie auf das Zusammenleben und Zusammenwirken der Menschen von Einfluß sind, und zu diesem Zwecke muß sie auf den Willen einwirken, diesen bestimmen. Für den Juristen wird ein Mensch erst dann ein Mörder, wenn er sein Opfer getötet hat. Für das sittliche Urteil ist der Wille zum Morden entscheidend. Es wird kein anderes, wenn durch irgendein dazwischentretendes Hindernis das Opfer dem Mörder entschlüpft oder dieser sein Ziel verfehlt.

Aber selbst für den Juristen ist nicht „nur das äußere Handeln von Bedeutung“, auch für sein Urteil kommen daneben noch die Motive des Handelns in Betracht. Wen ausschließlich das äußere Handeln interessiert, das ist nicht der Jurist, sondern der Polizist.

In der Tat ist denn auch für Menger die Polizeigewalt der letzte Grund der Sittlichkeit.

„Die gesamte Sittlichkeit“, sagt Menger, „beruht auf den sozialen Machtverhältnissen“, das heißt auf dem materiellen Zwang, den diese auszuüben imstande sind.

Die größte soziale Macht ist heute der Staat, er ist also auch der Hauptgrund der Sittlichkeit.

„Da auf dem Gebiet des Staates und Rechtes hinter jeder vorzunehmenden Handlung wenigstens ideell die Androhung des Zwanges steht, so ist hier der Zusammenhang von Macht und Sittlichkeit auch für das ungeübte Auge kaum zu verkennen. Und weil der materielle Zwang die sicherste Gewähr des sittlichen Handelns ist, so trachten auch solche Gemeinschaften wie die Kirche oder die Berufsstände, denen ursprünglich jede Zwangsgewalt fehlte, im Laufe ihrer späteren Entwicklung auf ihre Mitglieder wenigstens einen indirekten Zwang auszuüben.“ (S. 6)

Also auch die Klassenmoral entspringt nur aus dem äußerlichen Zwange, der Polizei- oder Disziplinargewalt der Klassen.

„Der dritte (neben Kirche und Staat) eine besondere Sittlichkeit erzeugende Machtfaktor sind die Berufsstände ... Als solche Stände können noch in der Gegenwart gelten: der Adel, die Geistlichkeit, der Soldatenstand, das Beamtentum, die Advokaten, die Ärzte, die Gewerbetreibenden.“ (S. 8, 9)

Man sieht, als echter Jurist, der alle „ökonomischen Verbrämungen“ verachtet und verabscheut, sieht Menger nur Stände, nicht Klassen; und nur jene Berufe erzeugen nach ihm eine besondere Moral, die ein von der Gesetzgebung besonders anerkanntes Dasein mit besonderer Polizeiaufsicht über ihre Mitglieder haben:

„Manche begünstigten Berufe, zum Beispiel der Offiziers-, Beamten- und Advokatenstand, üben über ihre Mitglieder die Disziplinargewalt aus, das heißt, sie beaufsichtigen ihre Tätigkeit im Beruf und im Privatleben und können bei Verstößen gegen die Standesmoral über sie Disziplinarstrafen verhängen, die sich in schweren Fällen bis zur Ausstoßung steigern. Dadurch wird den bevorzugten Ständen die Macht eingeräumt, ihre Standesmoral und ihren Standesegoismus den anderen Volksklassen mit den Mitteln des äußeren Zwanges aufzudrängen.“ (S. 9)

Freilich, ganz kann sich Menger der Einsicht nicht verschließen, daß auch die „anderen Volksklassen“ jede ihre besondere Moral haben. Aber diese ist ihm auch ein Produkt äußeren Zwanges, der Disziplinargewalt, welche Partei und gewerkschaftliche Organisationen ausüben.

„Aber da die strengste Disziplinarstrafe, nämlich die Ausstoßung aus der Partei, für den Bestraften entfernt nicht dieselben wirtschaftlichen und sozialen Nachteile herbeiführt wie die Ausstoßung aus dem Berufsstand, so gelingt es den Parteien nur selten, ihre Parteimoral den übrigen Schichten des Volkes aufzudrängen. Einen bekannten Fall dieser Art bilden die Gewerkschaften gewerblicher Arbeiter, die in vielen Kulturländern die Unternehmer und auch die übrigen Volksklassen zur Anerkennung eines Teiles ihrer sittlichen Auffassungen des Arbeitsverhältnisses gezwungen haben.“ (S. 10)

Aber selbst die „fünfte und letzte Quelle sittlicher Gebote“, die öffentliche Meinung, wird bei Menger unwillkürlich zu einem Machtfaktor, der äußerlichen Zwang hervorruft. Er meint, die Massen besitzen „in der öffentlichen Meinung ein wirksames Mittel, um die nach Lob und Anerkennung dürstenden Mächtigen in ihrem Handeln zu bestimmen“.

Dieser Auffassung der Sittlichkeit als einem Produkt äußerlichen Zwanges entspricht auch die Mengersche Auffassung vom Gewissen.

„Da die Tugend mit der Anpassung an die sozialen Machtverhältnisse, Sünde und Verbrechen mit dem Widerstreit gegen dieselben gleichbedeutend ist, so kann das Gewissen nur in der Furcht vor den nachteiligen Folgen eines solchen Widerstreits bestehen.“ (S. 15)

Das Gewissen sei nur die Folge davon, daß die unteren Volksklassen durch Erziehung und Erfahrungen „zu Furcht und Respekt vor den sozialen Mächten“, das heißt den Besitzern der materiellen Zwangsmittel, angehalten werden. Mit anderen Worten: das Gewissen ist die Furcht vor der Polizei.

Das ist die hohe Weisheit, in der die Mengersche Neue Sittenlehre gipfelt, die uns so sehr angepriesen und als ein Stück materialistischer Geschichtsauffassung hingestellt wurde.

Ihre Flachheit und Unrichtigkeit liegt auf der Hand. Sicher wird es friedliche Philister geben, deren Leben so gleichförmig verläuft, daß höchstens die Übertretung einer Polizeivorschrift ihnen Anlaß zu Gewissensbissen gibt. Das beweist aber noch lange nicht, daß derjenige, der nicht „Furcht und Respekt vor den sozialen Mächten“ hat, jedes Gewissens bar sei, noch auch, daß die Stärke des Gewissens mit der Größe dieser Furcht in irgendeiner Beziehung stehe.

Wenn jemand aus „Furcht und Respekt vor den sozialen Mächten“ ein Mädchen verstößt, mit dem er im Konkubinat lebte, so hat das Gewissen gar nichts mit dieser „sittlichen“ Handlung zu tun. Und auf der anderen Seite, wenn ein Sozialdemokrat einen politischen Verbrecher, etwa einen Attentäter, bei sich verbirgt, um ihn der Strafe zu entziehen, so mag er, wenn er ängstlicher Natur, sehr viel „Furcht vor den nachteiligen Folgen dieses Widerstreits gegen die sozialen Machtverhältnisse“ dabei empfinden, sicher aber keine Gewissensbisse. Dagegen würden diese sich mit Sicherheit einstellen, wenn die Furcht vor den Machthabern in ihm die Oberhand gewänne über das, was er als seine sittliche Pflicht empfindet, und er den Verfolgten seinem Schicksal überließe oder gar seinen Verfolgern preisgäbe.

Hätte Menger mit seiner Erklärung der Sittlichkeit recht; entspränge diese wirklich dem materiellen Zwang, den die verschiedenen sozialen Machtfaktoren auszuüben imstande sind, dann wäre jede soziale Entwicklung unmöglich. Denn diese entspringt der Auflehnung der aufsteigenden Klassen gegen die im Besitz der politischen Macht befindlichen. Politischer oder sozialer Kampf ist aber unmöglich ohne sittliche Empörung gegen den Gegner. Woher soll diese kommen, wenn die Zwangsgewalt der Machthaber die Sittlichkeit produziert? Man wird vielleicht darauf hinweisen, daß die politischen und ökonomischen Organisationen der Unterdrückten ebenfalls eine gewisse Zwangsgewalt entwickeln können, die dann die oppositionelle Sittlichkeit erzeugt. Aber ohne vorhergehende sittliche Empörung ist ein Aufkommen oppositioneller Organisationen der bedrückten Klassen gar nicht denkbar. Die sittliche Empörung über die Herrschenden ist die ursprünglichste Form, in der sich die Opposition einer aufsteigenden Klasse kundgibt. Sie bildet die Grundlage jeder anderen Form der Opposition; und wenn eine auf dem absteigenden Aste befindliche Klasse schon längst aufgehört hat, politisch und sozial Widerstand gegen das neue Regime zu leisten, das ihr aufgezwungen ist, behält sie noch lange ihre Ablehnung dieses Regimes in ihrem sittlichen Bewußtsein bei. So macht zum Beispiel die Bauernschaft nirgends in Deutschland mehr den geringsten Versuch, das Privateigentum am Walde, wo es juristisch anerkannt ist, öffentlich anzufechten. Aber in ihrem Bewußtsein gilt vielfach noch Holz und Wald als Gemeineigentum, gelten Holz- und Wilddiebstahl nicht als unsittlich.

Die sittliche Empörung gegen einen gegebenen politischen und sozialen Zustand, gegen den materiellen Zwang der sozialen Mächte, ist also die erste und letzte, die grundlegende Erscheinungsform des Klassengegensatzes, die primitivste und andauerndste Triebfeder des Klassenkampfes. Für sie ist aber in der Mengerschen Sittlichkeit kein Platz, denn ihm erscheint als „sittlich derjenige, der sich den sozialen Machtverhältnissen anpaßt, unsittlich, wer gegen sie Widerstand leistet“.

Vom Marxschen Standpunkt dagegen wird die sittliche Empörung leicht begreiflich. Denn für ihn sind die sittlichen Anschauungen und Empfindungen nicht das Produkt des materiellen Zwanges, sondern materieller Bedingungen, was etwas ganz anderes ist. Die Ausübung des materiellen Zwanges ist auf die herrschenden Klassen beschränkt. Die materiellen Bedingungen, die auf jede Klasse von selbst, unbewußt, ohne jeden äußeren Zwang wirken, sind dagegen durch den Produktionsprozeß naturnotwendig gegeben und vom Belieben der herrschenden Klassen ganz unabhängig. Diese materiellen Bedingungen vermögen daher auch in jeder Klasse eine besondere Sittlichkeit, unabhängig von den Wünschen und dem Zwange der herrschenden Klassen und im Gegensatz zu ihnen, zu erzeugen.

Die Auffassung des historischen Materialismus von der Erzeugung der Sittlichkeit durch die materiellen Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens gleichsetzen der Mengerschen Auffassung ihrer Erzeugung durch den materiellen Zwang ist ebenso falsch und irreführend wie die oft vorkommende Verwechslung der materiellen Bedingungen mit den materiellen Interessen des einzelnen, die den Marxismus auf das Niveau jener flachen Ethik reduziert, nach der sich alle Sittlichkeit auf den Egoismus zurückführen lasse.

Leute, die auf diese Weise die materialistische Geschichtsauffassung darstellen und verbreiten, mögen sich selbst als gute Marxisten erscheinen. Sie gehören zu jenen, die den Marxismus kompromittieren, zu jenen Marxisten, vor denen Marx graute, mit denen er nicht verwechselt werden wollte.

Wenn aber vom Mengerschen Standpunkt der Klassenkampf unerklärlich ist, wie kommt Menger dann zum Sozialismus?

Es gibt nur zwei Wege, konsequent sozialistische Forderungen zu entwickeln: den marxistischen und den ethischen.

Marx geht bekanntlich von der ökonomischen Entwicklung aus. Diese schafft nach ihm die Elemente des Sozialismus. Sie erzeugt ein Proletariat, das immer stärker und intelligenter wird, und sie läßt in diesem Proletariat das Bedürfnis nach sozialistischer Produktion entstehen, mehr oder weniger klare, sittliche, politische, soziale Anschauungen, die in der Richtung des Sozialismus liegen. Andererseits gibt sie der Produktionsweise immer mehr einen gesellschaftlichen Charakter, wodurch sie geeignet wird, zu einer sozialistischen Produktion umgewandelt zu werden, sobald das Proletariat die nötige Macht erlangt hat, die ihm früher oder später zufallen muß.

Der vormarxistische Sozialismus dagegen war ein utopischer und ethischer. Er ging von einer ewigen Ethik aus, ewigen Forderungen der Gerechtigkeit oder menschlicher Gleichheit, zu denen die bestehende Gesellschaftsordnung im Widerspruch stehe und zu deren Durchsetzung eine neue Gesellschaftsordnung zu erfinden sei.

Zwischen diesen beiden Auffassungen des Sozialismus gibt es mannigfache Zwischenstufen eines inkonsequenten Eklektizismus, die die marxistische wie die utopistische „Einseitigkeit“ überwinden und den Sozialismus einerseits aus den gegebenen materiellen Bedingungen und andererseits aus den Forderungen einer von diesen unabhängigen Sittlichkeit entspringen lassen, wobei merkwürdigerweise diese beiden angeblich voneinander unabhängigen Gebiete sich in den gleichen Konsequenzen begegnen.

Menger verachtet zu sehr die „ökonomischen Verbrämungen“, um dem Marxismus oder auch nur diesem Eklektizismus huldigen zu können.

Wie kommt er aber nun zu einer Begründung des Sozialismus? Irgendwelche ewigen Forderungen der Sittlichkeit gibt es nach ihm nicht, die Sittlichkeit ist steter Veränderung unterworfen und nur ein relativer Begriff. Denn da die sozialen Machtverhältnisse sich stetig ändern, ändern sich mit ihnen auch die sittlichen Vorstellungen. Und da die Abhängigkeit von den sozialen Machtverhältnissen in den verschiedenen Klassen eine verschiedene, muß auch deren Sittlichkeit eine verschiedene sein.

„Objektive Tugenden und Laster gibt es gar nicht.“

Worauf aber dann den Sozialismus begründen? Menger weiß sich zu helfen. Die „ewigen“ Gebote der Sittlichkeit, die er bei der Vordertür hinauswirft, weiß er bei der hinteren wieder hereinzuschmuggeln. Urplötzlich, ohne daß man es recht merkt, taucht neben der von den sozialen Machtverhältnissen produzierten eine zweite Art von Sittlichkeit auf, die nicht näher untersucht wird, die „überlieferte“ oder „landesübliche“ Sittlichkeit.

Woher diese stammt, erfahren wir nicht. Es scheint aber, als sei sie nicht das Produkt irgendwelcher Zwangsgewalt, sondern eine Erfindung von Moralpredigern. Denn diese „überlieferte“ Sittlichkeit wird gleichgesetzt den „überlieferten religiösen und philosophischen Moralsystemen“, also nicht einmal einem bestimmten System, sondern einem unbestimmten Sammelsurium: „Die Handlungen der einzelnen werden noch heute überall auf Grund der überlieferten religiösen und philosophischen Moralsysteme gewürdigt.“ (S. 34) Und als Stifter solcher Moralsysteme werden uns Buddha, Christus, Mohammed und Konfuzius genannt. (S. 58)

Menger operiert also ungeniert mit zwei Arten von Sittlichkeit nebeneinander: einer sittlichen und einer unsittlichen. Die erstere, die „überlieferte“, deckt sich ungefähr mit dem, was man allgemein als Sittlichkeit betrachtet; die zweite, von den sozialen Machtverhältnissen erzwungene, ist tatsächlich nichts anderes als das Recht, das sich vom Rechte der Juristen nur dadurch unterscheidet, daß es nicht bloß das geschriebene, sondern auch das Gewohnheitsrecht umfaßt.

Mit der „überlieferten“ Sittlichkeit hat nun Menger glücklich die Basis erlangt, die er als Utopist braucht. Einerseits mißt er an diesem Maßstab die bestehende Gesellschaft und findet sie höchst lasterhaft. Wenn er wenige Seiten vorher gefunden, daß die soziale Macht alle Sittlichkeit produziert, so findet er jetzt, daß sie alle Unsittlichkeit produziert, denn je mehr Macht einer hat, desto unabhängiger ist er von der Polizei; will man die Unsittlichkeit beseitigen, so muß man die heutigen Machtverhältnisse aufheben. Die „überlieferte“ Sittlichkeit wird bei Menger unter der Hand zur Sittlichkeit der Zukunft, zum sittlichen Ideal.

Er weist hin auf die „wichtige, in dieser Schrift entwickelte Wahrheit, daß die Macht das Laster als Massenerscheinung hervorbringt. Will man diesem also ernstlich zu Leibe gehen, so muß man den sozialen Erscheinungen, welche die überlieferte Sittenlehre als Laster bezeichnet, durch Umbildung der geltenden Machtverhältnisse ihren Nährboden soweit als möglich entziehen. (S. 69)

Also weil die überlieferte Sittenlehre gewisse moderne soziale Massenerscheinungen als Laster bezeichnet, müssen wir eine soziale Revolution machen und die bestehenden Machtverhältnisse umstürzen.

Freilich fällt Menger einmal ein, daß diese überlieferte Sittenlehre recht reaktionärer Natur ist, daß sie zum Beispiel auch die Frömmigkeit zu den Tugenden rechnet. Aber er tröstet sich:

„Im großen und ganzen bewirken aber die Tugenden, welche die religiösen und sozialen Moralsysteme anstreben, erwünschte soziale Zustände, die wir durch Schaffung ihrer tatsächlichen Voraussetzungen fördern müssen.“ (S. 70)

Also die paar Gemeinplätze, die allen Moralsystemen aller Zeiten und Länder gemeinsam sind, das ist die eherne Basis, auf der sich die neueste Art von Professorensozialismus erhebt.

Da die sozialen Machtverhältnisse, die alle Sittlichkeit produzieren, auch die Ursachen aller Unsittlichkeit bilden, so ist die Konsequenz davon sehr einfach: die Aufhebung aller sozialen Machtverhältnisse, der Anarchismus, bringt allein völlige Sittlichkeit. Das ist auch Mengers Ansicht:

„Nur der Anarchismus, der die staatlichen und rechtlichen Machtfaktoren fast völlig beseitigt, könnte seiner Sittlichkeit, wenn er überhaupt durchführbar wäre, die höchsten Aufgaben vorzeichnen. Schon der Sozialismus, der die ganze Staatsmaschine, das Gemeineigentum, ja sogar zum Teil das Privateigentum, aufrechterhält, muß sich notwendig mit einem Zustand bescheidener, mittlerer Sittlichkeit begnügen.“ (S. 71)

Aber selbst dies bescheidene Maß von Sittlichkeit erscheint Menger in seinem sozialistischen Zukunftsstaat gefährdet. Denn kaum hat er konstatiert, daß die Macht das Laster gebiert und nur der Anarchismus, die Beseitigung aller Machtverhältnisse, eine vollkommene Tugend schaffen kann, erinnert er sich seines Ausgangspunktes wieder, wonach die Tugend ein Produkt materiellen Zwanges. Kann der Sozialismus (als Gegensatz zum Anarchismus) wegen der Machtverhältnisse, die er beibehält, nur eine unvollkommene Tugend produzieren, so ist diese andererseits dadurch bei ihm gefährdet, daß er die bestehenden Machtverhältnisse zu gründlich abschafft. Um so notwendiger erscheint es Menger, dem einen Machtverhältnis, das die sozialistische Gesellschaft mit jeder anderen gemein hat, der öffentlichen Meinung, eine größere Zwangsgewalt zu verleihen.

„Die öffentliche Meinung“, sagt Menger, „hat bisher nur dürftige Spuren einer Organisation entwickelt, und eine gründliche Umgestaltung in dieser Richtung würde sie geradezu als ein völlig neues soziales Machtverhältnis von ungeahnter Stärke erscheinen lassen.“

„Die Grundzüge einer solchen Organisation der öffentlichen Meinung zum Zwecke der Sittlichkeitsreform habe ich bereits in meiner Neuen Staatslehre entwickelt. Danach soll der sozialistische Staat durch unabhängige Organe offizielle Zeitungen von lokalem Charakter herausgeben lassen, auf deren Benutzung bei unsittlichen Handlungen, die gegen das öffentliche Wohl gerichtet sind, jeder Staatsbürger, sonst aber nur der Beschädigte, Anspruch hat. Dem Wesen der bloßen Sittlichkeit entsprechend, hätte nur die Veröffentlichung der unsittlichen Handlung stattzufinden, eine andere Strafe dürfte über den Täter nicht verhängt werden. Die Gesetzgebung hätte im einzelnen zu bestimmen, wann vor der Publikation ein Beweis der Wahrheit notwendig und nach derselben ein Beweis der Unwahrheit zulässig ist.“

„Derselbe Zweck könnte auch dadurch erreicht werden, daß die unsittliche Handlung, die ein fremdes Interesse verletzt, in den öffentlichen Versammlungen der Gemeinde oder in besonderen Zusammenkünften mitgeteilt und besprochen wird. Eine solche Einrichtung hat unter dem Namen Criticism durch lange Zeit in einzelnen Kommunistengemeinden Nordamerikas bestanden.“ (S. 78, 79)

Das ist richtig, aber diese Gemeinden hatten mit dem modernen Sozialismus nichts gemein. Sie beruhten nicht bloß auf dem Gemeineigentum an den Produktionsmitteln, sondern auch auf der Gemeinsamkeit des Konsums, auf der völligen Aufhebung jeglichen individuellen Lebens, auf einem Regime, wie es unerträglich sein muß für einen Menschen, der auf der Basis der modernen Produktionsweise erwachsen ist, wie es sich nur Bauern gefallen lassen können, die über die Denkweise primitiver Hausgenossenschaften noch nicht hinaus sind.

Nordhoff berichtet uns in seinem Buche über die kommunistischen Gemeinden in den Vereinigten Staaten (The Communistic Societies in the United States, London 1875, S. 289 ff.) über einen „Kritizismus“ der Perfektionisten, dem er beizuwohnen Gelegenheit hatte. Ein junger Mann, den Nordhoff nur Charles nennt, war das Opfer, das sich die Versammlung ausersehen hatte. Ein Mann warf ihm vor, er habe zu viel Glück im Leben gehabt, das habe ihn verzogen. Hätte er mehr Widrigkeiten erfahren, wäre er ein besserer Mensch, weniger anmaßend und selbstbewußt. Ein junges Weib bestätigte diese Auffassung und beschwerte sich darüber, daß er manche Leute aus Hochmut zu kurz abfertige. Eine andere Frau fügte hinzu, daß der Bösewicht dem Laster huldige, Unterschiede unter den Menschen zu machen und einige öffentlich mit Kosenamen anzureden. Eine dritte Frau entrüstete sich darüber, daß Charles derbe Worte gebrauchte und sich bei Tisch unpassend betrug. Das wurde von einem Manne bestätigt, der mit eigenen Ohren gehört, wie der lasterhafte Charles ein Beefsteak für zäh erklärt hatte usw. usw.

Derart war der Kritizismus, den Menger als Mittel der Reform der Sitten in seinem volkstümlichen Arbeitsstaat empfiehlt. Es wäre nichts anderes als die Verstaatlichung des privaten Klatsches, die schlimmste Sittenpolizei, die es gibt, die unentrinnbare und unverantwortliche der Nachbarn und Bekannten, regelrecht von Staats wegen organisiert.

Dieser Vorschlag krönt das Werk und bezeugt deutlich seinen Charakter: vom Anfang bis zum Schlusse ist es von der Anschauung durchtränkt, daß die Polizei die Macht ist, die die Sittlichkeit schafft; die Polizei des Staates, der Kirche, der Berufs- und Parteigenossen und der Nachbarn. Wo die Macht dieser Polizei endet, endet auch die Sittlichkeit; daher die Sittenlosigkeit der Machthaber. Es ist nichts anderes als die Denkweise der Bewohner des österreichischen Polizeistaats, die da eine „neue Sittenlehre“ gezeugt hat. Der echte Österreicher sieht in der Polizei die wichtigste soziale Macht; von ihr verlangt er alles, mag er liberal oder konservativ sein; sie soll alles für ihn machen.

Der sozialistische Utopismus ist schon längst ein Anachronismus geworden. Für Mitglieder entwickelter Staatswesen ist auch der österreichische Polizeisinn nur noch ein lächerlicher Anachronismus. Was soll man aber von einer „neuen“ Staats- und Sittenlehre halten, die ein Kind dieser beiden Anachronismen ist?

Woher trotzdem der Erfolg Mengers?

„Nur auf dem Gebiet der Sozialwissenschaft, welche eben einer geschichtlichen Tradition entbehrt, sind erfolgreiche Versuche dieser Art denkbar“, dank der fast „absoluten Unkenntnis“ des älteren Sozialismus.

So schrieb Menger 1886 in seiner Polemik gegen Marx. So sehr wir in der Nutzanwendung des Gedankens auseinandergehen, der Gedanke selbst ist leider nur zu richtig.


Anmerkung des Verfassers

1. Jena, Gustav Fischer, VIII und 82 Seiten, 1 Mark.


Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012