Karl Kautsky

Patriotismus und Sozialdemokratie

(1907)


Karl Kautsky, Patriotismus und Sozialdemokratie, Leipzig, Verlag der Leipziger Buchdruckerei Aktiengesellschaft, 1907.
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Vorwort

Die vorliegenden Ausführungen erschienen zuerst als Artikel in der Leipziger Volkszeitung. Dem mehrfach geäußerten Wunsch, sie als besondere Broschüre zu veröffentlichen, komme ich um so lieber nach, als das Thema ja auch den nächsten internationalen Kongress beschäftigen wird, auf dessen Tagesordnung es gesetzt ist.

Freilich, über die Frage des Patriotismus selbst dürften erhebliche Meinungsverschiedenheiten in der internationalen Sozialdemokratie kaum zutage treten. Soviel ich sehe, sind die Sozialisten aller Länder in dem Streben einig, jedem drohenden Krieg auf das energischste entgegenzutreten, weil seit dem Ausbruch der russischen Revolution kein Krieg mehr erwartet werden darf, zu dem nicht der Patriotismus des Proletariats, alle seine Interessen und Ziele, im schroffsten Widerspruch ständen.

Aber über die Art und Weise, wie dem Kriege entgegenzutreten, bestehen allerdings bedeutende Meinungsverschiedenheiten zwischen den Sozialisten der verschiedenen Länder. Daran ist jedoch nicht zu zweifeln, dass die deutsche Sozialdemokratie jede Verpflichtung entschieden ablehnen wird, dem Ausbruch eines Krieges durch Insurrektion, Militärstreik oder Massenstreik entgegenzutreten. Wenn die Genossen anderer Länder diese Mittel für erfolgreich halten und in der Lage sind, sie zu propagieren, brauchen wir sie daran nicht zu hindern. Aber wir müssen uns dagegen verwahren, eine Verpflichtung zu derartigem Vorgehen für die proletarische Internationale festzusetzen.

Wir wollen kein Gewicht darauf legen, dass diese Verpflichtung in vielen Staaten sofort die gesamte sozialdemokratische Organisation der völligen Auflösung durch die Behörden ausliefern würde. Das müsste getragen werden, wenn ein unerlässliches Ziel nicht anders erreicht werden könnte. Aber es wäre Torheit, wollte man die Staatsgewalt in dieser Weise provozieren wegen einer Verpflichtung, die ihr Ziel nicht erreichen könnte, die völlig verfehlt ist. Und das gilt vom Militärstreik und ähnlichem Vorgehen bei Ausbruch eines Krieges – wenigstens in der Regel. Es mag ja Staaten geben, in denen die militärische Disziplin schon so gelockert ist, dass man durch eines der oben erwähnten Mittel erfolgreich die Führung eines Krieges unmöglich machen kann – aber auch da müsste es ein bei allen Klassen aufs höchste unpopulärer Krieg sein, sollte das Mittel wirken können. In der Regel aber wird es versagen.

Man muss erwägen, dass absichtlich, mutwillig keine Regierung heute einen Krieg anzetteln wird. Jede scheut ihn. Bricht er trotzdem herein, dann kommt er als letzte unvermeidliche Konsequenz einer Politik, die die Staaten früher schon betrieben haben. Diese Politik, die Kolonial- und Rüstungspolitik, im Frieden zu bekämpfen, ist weit leichter, als dem Krieg selbst entgegenzutreten, wenn er am Ausbrechen ist. Denn im ersteren Falle sind die Leidenschaften weniger erregt, werden Gründe der Vernunft eher gehört, ist das Kriegsrecht noch nicht in Geltung getreten, also die Kraft der Staatsgewalt geringer. Wenn es trotzdem zum Kriege kommt, so ist das ein Beweis dafür, dass die Sozialdemokratie der betreffenden Länder zu schwach war, im Frieden die Kolonial- und Rüstungspolitik zu verhindern. Und nun soll sie unter viel schwierigeren Umständen die ungeheure Kraft entfalten, die erheischt ist, bei Kriegsausbruch die notwendige Konsequenz dieser Politik unmöglich zu machen! Die Sozialdemokratie, die zu schwach war, die Regierung zu hindern, nach auswärtigen Territorien zu angeln, soll plötzlich stark genug sein, der Regierung und der Masse der Bevölkerung die Wehrlosigkeit gegenüber einer befürchteten feindlichen Invasion und Verwüstung des eigenen Landes aufzuzwingen!

Verfügte die Arbeiterklasse über einen solchen Einfluss im Militär, dass sie vermöchte, dieses lahm zu legen, sobald die Abwehr des äußeren Feindes infrage kommt, so müsste sie noch weit eher imstande sein, dasselbe Militär im Frieden zur Untätigkeit zu veranlassen, wenn es gegen den inneren Feind aufgeboten wird, denn sicher werden die Truppen gegen die eigenen Volksgenossen nicht jene Energie und Feindseligkeit entfalten, wie gegen Fremde, durch die sie den eigenen Herd, die eigene Existenz bedroht wähnen.

Vermöchten die Proletarier aber im Frieden das Militär vom Kampf gegen den inneren Feind abzuhalten, dann brauchten sie sich nicht mehr anzustrengen, um einen Krieg zu verhüten, denn dann wären sie stark genug, der Staatspolitik im Frieden schon eine solche Richtung zu geben, die jeden Krieg ausschlösse.

So lange das Proletariat dazu nicht die Kraft besitzt, hat es noch weniger die Kraft, einen ausgebrochenen Krieg durch sein Eingreifen unmöglich zu machen. Und vermöchte es das letztere, so müsste es noch eher imstande sein, von vornherein zu verhüten, dass es überhaupt zum Kriege kommt.

Was Hervé und seine Genossen verlangen, ist nichts anderes, als dass das Proletariat sich verpflichten soll, einen Kampf, dem es unter normalen Bedingungen noch nicht gewachsen ist, unter ganz außerordentlich ungünstigen Bedingungen auf jeden Fall aufzunehmen.

Sicher, die Arbeiterklasse hat heute jeder Politik, die zu einem Kriege zu führen droht, mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln entgegenzuwirken. Sollte sie jedoch trotzdem nicht stark genug sein, eine solche Politik unmöglich zu machen, und führt diese zum Kriege, dann muss es genügen, dass die Vorkämpfer und Vertreter des Proletariats vor der Masse der Bevölkerung als diejenigen dastehen, die sich dem Kriege mit allen Kräften widersetzten. Das mag der Sozialdemokratie im Beginne des Krieges sehr schaden, wenn dieser alle chauvinistischen Leidenschaften entfacht, es muss das Vertrauen der Massen zu ihr in dem Maße steigern, in dem der Krieg sich hinzieht, die Leiden und Opfer zunehmen, die er verursacht, und ihnen gegenüber das Kampfobjekt immer geringfügiger erscheint. Je länger der Krieg dauert, desto mehr werden die Massen auf uns hören, desto mehr muss unser politisches Ansehen und unsere politische Kraft zunehmen. Dann, am Ende des Krieges, können wir auf große Erfolge rechnen. Aber wir wären außerstande, diese Erfolge einzuheimsen, wenn wir am Anfang des Krieges eine Kraftprobe provozierten, die uns für lange hinaus das Rückgrat brechen müsste!

Das wissen die Regierungen sehr gut, und wenn sie den Frieden in den letzten Jahrzehnten bewahrten, geschah es, weil sie das Ende, nicht weil sie den Anfang des Krieges scheuten. Dieser ist noch in ihrer Hand, noch sind die Friedenselemente nicht stark genug, ihnen dabei wirksam entgegenzutreten.

Aber nicht wir sind es, die den Ausgang des Krieges zu fürchten haben. Es gibt keine Klasse, die heißer den Frieden wünscht, eifriger jeder Völkerverhetzung widerstrebt, als das Proletariat. Und doch gibt es keine, die ihm ruhiger entgegensehen darf, denn auch da gilt das Wort des Kommunistischen Manifestes: Die Proletarier haben nichts zu verlieren, als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.

Berlin, Juni 1907

Karl Kautsky


I.

Die jüngsten Verhandlungen des Reichstags über das Militärbudget haben wieder einmal unseren Gegnern Gelegenheit gegeben, alle möglichen weisen Betrachtungen über das Verhältnis der Sozialdemokratie zum Patriotismus anzustellen. Während die einen uns des Mangels an Patriotismus anklagen, sehen die anderen in jeder Erklärung, dass unser Patriotismus an Kraft dem der besitzenden Klassen zum mindesten nichts nachgebe, wieder einmal den Beginn einer Mauserung der Partei, die unter Führung Bebels im Begriffe sein soll, denselben Abfall von ihren Grundsätzen zu vollziehen, den der Freisinn vollzogen hat.

Das eine ist ebenso unsinnig wie das andere, darüber werden wir uns aber mit den Gegnern nie verständigen, aus dem einfachen Grunde nicht, weil unser Patriotismus etwas ganz anderes ist, als der ihre. Mit demselben Worte werden zwei Auffassungen bezeichnet, die sich scheiden wie Feuer und Wasser, und nie war der Gegensatz der beiden so schroff, wie gerade jetzt.

Der Patriotismus des Proletariats entbehrt von vornherein jeder feindseligen Spitze gegen andere Nationen. Das Proletariat als unterste Klasse des Volkes kann zu Wohlstand und Anteilnahme an allen Gütern der modernen Kultur nur gelangen, wenn das gesamte Volk zu diesem Wohlstand und dieser Anteilnahme emporsteigt; es kann dahin nur gelangen durch Aufhebung jeder Ausbeutung, dadurch, dass die Masse des Volkes über alle die Produkte verfügt, die sie mit ihrer Arbeit geschaffen hat, und dass diese Arbeit den höchstmöglichen Grad der Produktivität erreicht, so dass sie mit dem mindesten Aufwand an Kraft und Stoff die größte Summe von Produkten liefert, die unter den gegebenen technischen Verhältnissen möglich ist.

Das Streben, nicht von Ausbeutung, sondern von eigener Arbeit zu leben, hat das Proletariat mit dem kleinen Handwerker und Bauern gemein. Dies Streben schließt den Verzicht auf jede Eroberungspolitik, schließt die größte Friedfertigkeit in sich. Darin sind diese demokratischen Klassen einig. Aber das Proletariat geht über den Handwerker und Bauern hinaus in dem Streben nach größter Produktivität der Arbeit, die allein es ermöglicht, die Masse des Volkes von der sie erdrückenden Arbeitslast zu befreien, ihr die Muße zur Kultur, zu Wissenschaft und Kunst zu geben.

Dies Streben nach größter Produktivität der Arbeit bedeutet das Streben nach dem Großbetrieb, in dem allein sie erreichbar ist, bedeutet die Überwindung der handwerksmäßigen und bäuerlichen Betriebsform, eine Überwindung, die für Handwerker und Bauern selbst ein Segen wäre, wenn sie unter einem sozialistischen Regime vor sich ginge, weil diese Klassen auf anderem Wege die Überarbeit nicht los werden, unter der sie heute seufzen. Aber solange der Kapitalismus herrscht, vollzieht sich der Aufstieg zu höheren Betriebsformen nur unter den furchtbarsten Opfern der Arbeiter und Besitzer der rückständigen Betriebe. Darum bleibt die Masse der Kleinbürger und Bauern dem Streben nach höherer Produktivität der Arbeit, nach Entwicklung des Großbetriebs, feindselig gesinnt. Sie bleibt auch feindselig gegen die Sozialdemokratie und deren Patriotismus, bei aller Gleichheit der friedfertigen Gesinnung.

Der Patriotismus des Proletariats beschränkt sich eben nicht auf die Friedfertigkeit, die es mit dem Kleinbürgertum gemeinsam hat. Er geht darüber hinaus. Die höchste Produktivität der Arbeit, die eine Vorbedingung seiner Befreiung ist, kann nicht erreicht werden durch Beschränkung der Wirtschaft auf den Nationalstaat. Sie erfordert bei dem heutigen Stande der Technik Weltwirtschaft, das Zusammenwirken aller Völker der Welt. So schließt der Patriotismus des Proletariats in sich den Gedanken der internationalen Solidarität, den Gedanken, dass Wohlstand und Kultur der eigenen Nation nur gedeihen, wenn sie Hand in Hand gehen mit dem Wohlstand und der Kultur der anderen Nationen.

Dieser Gedanke entspricht dem Endziel des proletarischen Klassenkampfes; er erhält aber praktische Kraft schon im Klassenkampf von heute, da das Aufsteigen und Erstarken des Proletariats jeder Nation aufs engste verknüpft ist mit dem Aufsteigen der Proletarier der anderen Nationen. Die Solidarität der Proletarier aller Nationen ist eine praktische Notwendigkeit des proletarischen Klassenkampfes von heute, und sie ist es, die die Solidarität der gesamten Nationen der sozialistischen Gesellschaft anbahnt.

Die internationale Solidarität, das ist das wesentliche Kennzeichen, wodurch sich der proletarische Patriotismus von dem jeder anderen Klasse unterscheidet. Auch die kleinbürgerliche Demokratie hat den Wunsch nach allgemeiner Friedfertigkeit, aber bloß das Proletariat empfindet das Bedürfnis nach innigem Zusammenwirken aller Nationen zu gemeinsamem Wohlstand, gemeinsamer Kultur. Und bloß das Proletariat empfindet die daraus hervorgehende Pflicht, den Unterdrückten und Ausgebeuteten jeder Nation in ihrem Kampfe gegen Unterdrückung und Ausbeutung hilfreich zur Seite zu stehen.

Diese Pflicht empfindet es selbst dort, wo die Unterdrücker und Ausbeuter der eigenen Nation angehören und ihre Opfer einer fremden. Mit den letzteren fühlt es sich aufs engste verbunden, den ersteren steht es feindselig gegenüber. Dadurch unterscheidet sich das Proletariat vom Kleinbürgertum, das dem Auslande gegenüber mit dessen Ausbeutern, wenn diese der eigenen Nation angehören, eine gewisse Solidarität empfindet, da es sich durch den Besitz an den Produktionsmitteln mit ihnen verwandt fühlt.

Das tritt auch in unserer Haltung gegenüber der Kolonialpolitik zutage. Die bürgerliche Demokratie bekämpft diese im besten Falle – wenn sie überhaupt noch die Kraft aufbringt, sie zu bekämpfen – deswegen, weil sie den Staat viel kostet und ihm nichts einbringt. Nur das politisch selbständige Proletariat bekämpft die Kolonialpolitik aus dem Grunde, weil sie eine Politik der Unterdrückung und Ausbeutung ist und sein muss, soll sie nur einigermaßen für das Kapital, wenn auch nicht immer für den Staat, profitabel werden.

Der Patriotismus des Proletariats und der des Kleinbürgertums sind sehr verschiedener Natur, und diese Verschiedenheit zwischen beiden kann mitunter zu einem erheblichen Gegensatz anwachsen. Aber noch weit schroffer ist der Gegensatz des Patriotismus des Proletariats zu dem des Kapitals. Auf Schritt und Tritt treten sich die beiden Arten Patriotismus in voller Feindseligkeit entgegen.

Wie jede Klasse setzt auch die Kapitalistenklasse ihre Interessen gleich denen der gesamten Nation. Ihr Interesse beruht aber auf dem Mehrwert. Je größer der Mehrwert der Kapitalisten einer Nation, desto besser gedeiht ihrer Ansicht nach diese Nation selbst; Patriotismus bedeutet für sie die Verfechtung der Interessen des Mehrwerts, den die Ausbeuter der eigenen Nation einstecken.

Der Mehrwert, das heißt, Profit, Zins, Grundrente, steigt aber um so höher, je größer die Ausbeutung der arbeitenden Klassen, je geringer die Löhne, je länger die Arbeitszeit, je mehr teure und widerstandsfähige durch billige und willige Arbeitskräfte, Frauen, Kinder, rückständige Ausländer ersetzt werden. Die Verelendung der Masse des Volkes – nicht bloß ihre relative, das Verlangsamen ihres Aufsteigens gegenüber dem Aufsteigen der Kapitalistenklasse –, sondern die absolute Verelendung, die körperliche und geistige Herabdrückung der Masse des Volkes ist nicht immer das Ergebnis, stets aber das Ziel des Strebens der Kapitalistenklasse. Die Nation dem Verkommen zu überliefern, das gehört zum Patriotismus der Kapitalistenklasse. Und wenn die Nation nicht wirklich verkommt, verdankt sie dies dem energischen Widerstand des internationalen, „unpatriotischen“ Proletariats und nicht denjenigen Kreisen, die den Patriotismus in Erbpacht genommen haben.

Aber damit nicht genug. Die Verelendung der Volksmasse ist nur eines der Mittel des Kapitals, den Profit zu erhöhen. Das andere ist die Erhöhung der Produktivität der Arbeit. Ist bei gegebener Produktivität der Arbeit der Profit um so höher, je niedriger die Löhne, je länger die Arbeitszeit, so ist bei gegebenen Löhnen und Arbeitszeiten der Profit eines Unternehmers um so höher, je größer die Produktivität seiner Arbeiter, je mehr Produkt seine Arbeiter in einem bestimmten Zeitraum liefern.

Das Profitbedürfnis treibt daher das Kapital nicht nur danach, die Löhne zu drücken und die Arbeitszeiten zu verlängern, sondern auch danach, die Produktivität der Arbeit zu steigern, das heißt, den Großbetrieb immer mehr auszudehnen. Und je mehr die erstere Art, den Profit zu erhöhen, gehemmt wird, desto energischer wirft es sich auf die zweite Methode, durch die wieder die erstere gefördert wird, da ja die Arbeitsteilung und die Maschine Arbeiter überflüssig macht und oft die Einstellung einfacherer und billiger Arbeitskräfte an Stelle qualifizierter, teurer gestattet.

Das Streben nach Verelendung der Volksmasse und das nach möglichster Steigerung der Produktivität der Arbeit – darin besteht die historische Rolle der Kapitalistenklasse und durch das eine wie durch das andere bereitet sie den Sozialismus vor. Nicht durch die tatsächliche Verelendung der Volksmasse, wie unwissende und flache Ausleger von Marx als dessen Ansicht ausgeben, sondern durch das Streben nach Verelendung erzeugen sie den Widerstand des Proletariats, den Klassenkampf, dessen Intensität mit dem Klassengegensatz wächst, und der das Proletariat nicht früher zur Ruhe kommen lässt, als bis es die Kapitalistenklasse politisch und ökonomisch expropriiert hat. Durch das gleichzeitige Streben nach Vermehrung der Produktivität der Arbeit aber schafft die Kapitalistenklasse die materielle Grundlage, auf der das siegreiche Proletariat eine neue Produktionsweise zu errichten vermag.

Wie aber das Streben nach Verelendung der Arbeiterklasse den Klassenkampf erzeugt, so erzeugt nicht minder das andere Streben der Kapitalistenklasse nach Vermehrung der Produktivität der Arbeit tiefgehende Gegensätze und schwere Kämpfe; einerseits innerhalb der Nation Kampf des Kapitals gegen die rückständigen Betriebsformen, andererseits Kämpfe zwischen den Kapitalisten der verschiedenen Nationen und damit zwischen diesen selbst, soweit sie sich vom Kapital beherrschen lassen.

Denn die vermehrte Produktivität der Arbeit im industriellen Großbetrieb erzeugt nicht Genussmittel für die Kapitalisten, sondern Konsummittel für die Masse der Bevölkerung, z. B. in der Textilindustrie, und neue Mittel der Massenproduktion und des Massenverkehrs, Maschinen, Dampfschiffe, Eisenbahnschienen usw. Diese Produkte müssen erst verkauft sein, ehe der Kapitalist den Profit daraus erlöst, den er dann teils zu Genussmitteln für sich, teils zu neuen Kapitalanlagen verwenden kann. Die Produktivität der Arbeit in einer kapitalistischen Nation steigt aber rascher, als die Kauffähigkeit der Massen dieser Nation, daher das beständige Bedürfnis der Kapitalisten, den Export zu steigern, neue Märkte und neue Kapitalanlagen im Auslande zu finden, die ihrerseits wieder neue Ausbeutungsstätten werden sollen. Bei diesem Ausdehnungsdrang treffen die Kapitalisten der verschiedenen Nationen feindselig aufeinander und dabei steigt ihr Patriotismus auf seinen Gipfel. Dieser Patriotismus bedeutet für sie nicht Hingabe an das Vaterland, das Opfern von Gut und Blut für das Vaterland, sondern die Ausbeutung des Vaterlands, das Gut und Blut seiner Volksmassen einsetzen soll, um den Profit seiner Kapitalisten im Ausland zu schützen. Das Vaterland ist nicht für das Volk da, sondern die Volksmassen sind für das Vaterland da, dieses aber ist für die großen Ausbeuter da: Das ist die Quintessenz des kapitalistischen Patriotismus.

Dieselbe Volksmasse, nach deren Verelendung durch industrielle Ausbeutung das Kapital strebt, wird also überdies noch vom kapitalistischen Staat gezwungen, das Blut ihrer Söhne zu opfern und ihre ohnehin schon dürftige Existenz noch mehr einzuschränken, um die Kosten einer ungeheuren Wehrmacht zu bezahlen, die angeblich der Verteidigung des Vaterlandes dienen soll, unter den heutigen Verhältnissen tatsächlich nichts anderem dient, als der Verteidigung des Profits, und die nichts anderes bewirkt, als die kapitalistische Tendenz zur Verelendung der Volksmassen enorm zu verstärken.

Denn je mehr die Produktivität der Arbeit steigt, desto mehr wächst auch die Kriegstechnik, wächst das Ausdehnungsstreben der kapitalistischen Nationen, wachsen ihre Gegensätze zu Wasser und zu Land, wachsen die Kosten der Rüstungen. So werden alle verfügbaren Kräfte der Nation immer mehr dem Militarismus zugewendet, werden die Staaten immer unfähiger zu jeder Kultur- und Sozialpolitik, die Geld kostet, werden die Staaten immer unfähiger, die Wunden, die der Kapitalismus schlägt, selbst nur in dem Maße zu heilen, in dem die Lebensbedingungen der bürgerlichen Gesellschaft es gestatten.

Daher bedeutet der kapitalistische Patriotismus nicht bloß eine wachsende Verschärfung der Gegensätze der Nationen, ein Wachstum der Gefahr eines Weltkriegs, ein Wachstum der Verheerungen, die dieser mit der Entwicklung der Kriegstechnik nach sich ziehen muss, er bedeutet auch immer mehr das Hinarbeiten auf den Ruin der eigenen Nation.

Das Kleinbürgertum, das nie zu einer selbständigen Politik fähig war, mag sich durch die patriotische Phrase darüber täuschen lassen, als wären es nicht die eigenen Kapitalisten, sondern die fremden Nationen, die das Volk bedrohten. Das klassenbewußte Proletariat weiß, was es von dieser Art Patriotismus zu halten hat, dass sie in unversöhnlichem Gegensatz steht zu seinem eigenen Patriotismus der Sicherung von Wohlstand und Kultur für die gesamte Volksmasse; einer Sicherung, die erreicht werden soll nicht durch Förderung des Profits und des Militarismus, nicht durch Entfesselung von Kolonialkriegen und Vorbereitung von Weltkriegen, sondern durch die Bekämpfung des Kapitals, des Militarismus, der Expansionspolitik im Klassenkampf des durch die internationale Solidarität aufs engste verbundenen Proletariats.
 

II.

Sind der Patriotismus der Bourgeoisie und der des Proletariats zwei ganz verschiedene, geradezu gegensätzliche Erscheinungen, so gibt es doch Situationen, in denen beide Arten von Patriotismus zu gemeinsamem Wirken sogar in einem Kriege zusammenfließen können.

Bourgeoisie und Proletariat einer Nation haben das gleiche Interesse an ihrer Unabhängigkeit und Selbständigkeit, an der Beseitigung und Fernhaltung jeder Art von Unterdrückung und Ausbeutung durch eine fremde Nation. Beide haben aber auch das gleiche Interesse an der Aufhebung der feudalen Zersplitterung der Nation in kleine Staaten und Stätchen, an der Zusammenfassung aller gleichsprachigen, zusammenwohnenden Elemente in einem Nationalstaat, denn diese Zusammenfassung bedeutet gegenüber jener Zersplitterung einen enormen Fortschritt, eine wichtige Bedingung für die Entwicklung der Produktivität der Arbeit.

Bei den nationalen Kämpfen, die derartigen Bestrebungen entsprossen, hat sich stets der Patriotismus des Proletariats mit dem der Bourgeoisie vereinigt. Indessen zeigte sich auch da bald eine tiefgehende Verschiedenheit zwischen beiden Klassen. Wo es galt, die eigene Nation zu befreien und in einen Nationalstaat zusammenzufassen, da war der Gegner, den es dabei zu überwinden galt, stets eine ausbeutende Klasse oder Regierung. Das Proletariat suchte diese zu bekämpfen durch eine Erhebung der Nation selbst, durch eine Revolution. Das passte der Bourgeoisie sehr wenig, namentlich seitdem das Proletariat eine eigene Klassenpolitik begonnen hatte. Seit dem Jahre 1848, seit der Junischlacht, bevorzugt sie mit aller Kraft eine andere, vorher schon von ihr mit Wohlgefallen betrachtete Art der Befreiung und Zusammenfassung der Nation – die Unterstützung einer herrschenden Klasse oder einer Dynastie, die aus dieser Befreiung und Zusammenfassung Vorteil ziehen kann und die durch einen Krieg die der Nation im Wege stehenden Dynastien und Klassen zu beseitigen hat – ein Weg, weit opfervoller und blutiger, als der der Revolution, und dabei einer, der die Interessen der Nation nur in beschränktem Maße zur Geltung bringt – nur soweit sie mit denen der siegreichen Dynastie zusammenfallen.

Also selbst dort, wo sie im Ziele der nationalen Unabhängigkeit und Zusammenfassung übereinstimmten, gingen der Patriotismus der Bourgeoisie und der des Proletariats auseinander, sobald es sich um den Weg handelte, auf dem dies Ziel erreicht werden sollte.

Seitdem aber das Proletariat eine Macht geworden ist, die bei jeder größeren Erschütterung des Staates für die herrschenden Klassen gefährlich wird; seitdem am Ende eines Krieges die Revolution droht, wie die Pariser Kommune 1871 und der russische Terrorismus nach dem russisch-türkischen Kriege bewiesen, seitdem hat die Bourgeoisie auch solcher Nationen, die nicht oder noch nicht genügend selbständig und geeint sind, ihre nationalen Ziele tatsächlich aufgegeben, wenn diese nur durch den Umsturz einer Regierung erreichbar sind, da sie die Revolution mehr hasst und fürchtet, als sie die Selbständigkeit und Größe der Nation liebt. Daher verzichtet sie auf die Selbständigkeit Polens und lässt so vorsintflutliche Staatsgebilde, wie Österreich und die Türkei weiter bestehen, die schon vor einem Menschenalter dem Untergange geweiht erschienen.

Damit haben in den zivilisierten Teilen Europas die nationalen Kämpfe als Ursache von Revolutionen oder Kriegen aufgehört. Jene nationalen Probleme, die dort auch heute noch nur durch Krieg oder Revolution zu lösen sind, können fortan erst gelöst werden nach dem Siege des Proletariats. Dann aber nehmen sie sofort, dank der internationalen Solidarität, eine ganz andere Gestalt an, als heute, in der Gesellschaft der Ausbeutung und Unterdrückung. Sie brauchen in den kapitalistischen Staaten das Proletariat bei seinen praktischen Kämpfen von heute nicht mehr zu beschäftigen, dieses hat seine ganze Kraft anderen Aufgaben zuzuwenden.

So hat die eine Ursache zu wirken aufgehört, die ehedem in manchen Ländern den proletarischen und den bürgerlichen Patriotismus zusammenführte.

Eine andere Ursache, die sie vereinigte, war die Verteidigung der Demokratie gegen den Absolutismus. Sie spielte nicht bloß in der inneren, sondern auch in der äußeren Politik der europäischen Staaten eine Rolle.

Überall konnte die Bourgeoisie gegen die ihr feindlichen, mit dem absoluten Königtum verbundenen feudalen Mächte, nur aufkommen durch den Appell an die arbeitenden Klassen, Kleinbürger, Bauern, Proletarier, kurz an die Demokratie. Aber nicht in allen Staaten gelangte diese gleichzeitig zum Siege. Der Siegeszug der Demokratie ging sehr langsam von West nach Ost, und so oft sie im Westen einen bedeutenden Fortschritt errungen hatte, in einem Staat zur Herrschaft gekommen war, wurde sie durch einen oder mehrere Despoten des Ostens bedroht. In solchen Situationen flammte gegen den äußeren Feind der Patriotismus aller demokratischen Klassen des angegriffenen Landes aus, der des Proletariats vereinigte sich mit dem der Bourgeoisie und übertraf diesen noch an Kraft und Glut.

Das letzte Beispiel davon gab uns das republikanische Frankreich im Kriege von 1870/71. So lange Napoleon noch Kaiser war, schwieg in diesem Kriege der Patriotismus der französischen Republikaner. Er brach erst los, als es die Verteidigung der Republik galt.

Der demokratischen Republik gegenüber stellte das preußisch-deutsche Reich eine reaktionäre Macht dar, der Eroberungspolitik zurückzuweisen die patriotische Pflicht jedes Demokraten und Sozialdemokraten Frankreichs war.

Aber im Vergleich mit dem russischen Absolutismus jener Zeit bildete dasselbe deutsche Reich einen enormen Fortschritt. Und wie es Pflicht jedes französischen Sozialisten war, im Kriege der Republik gegen das Kaiserreich seinen Patriotismus aufs tatkräftigste zu entfalten, so wäre die gleiche Pflicht den deutschen Sozialisten obgelegen, wenn es zu einem Kriege zwischen Deutschland und Russland gekommen wäre. Daran haben die Wortführer der deutschen Sozialdemokratie nie einen Zweifel gelassen, dieselben, die im Kriege des deutschen Kaiserreichs gegen die französische Republik die Eroberungspolitik des eigenen Staates verurteilt hatten.

Indessen, auch wenn in einem derartigen Falle bürgerlicher und proletarischer Patriotismus zu einem gemeinsamen Strom zusammenflossen, trat nicht eine völlige Vermischung der beiden Gewässer ein, kam immer wieder ihre Gegensätzlichkeit zutage. Wie in der nationalen Frage, so forderte auch in der Verteidigung der Volksfreiheit gegen das Ausland die Eigenart des Proletariats ganz andere Wege als die Bourgeoisie, um zum gemeinsamen Ziele zu gelangen. Das trat deutlich hervor im Kriege 1870/71, es zeigt sich aber auch bei den Militärdebatten, an denen unsere Partei beteiligt ist.

Die Sozialisten verlangten 1870 wie auch sonst immer zur Verteidigung des Vaterlandes die Entfesselung aller Volkskräfte, die Bewaffnung des gesamten wehrfähigen Teiles des Volkes und dessen Übung in den Waffen; Die Bourgeoisie fürchtet aber ein wehrhaftes, selbständiges Proletariat des eigenen Landes weit mehr noch als den Landesfeind, denn dieser kann sie höchstens besiegen und ihre Profite schmälern, jenes droht sie völlig zu expropriieren. Sie hält hartnäckig fest an dem vom Volke losgelösten stehenden Heere, und auch 1870, als das stehende Heer des französischen Kaiserreiches schmählich niedergeworfen war, als die Volksbewaffnung der Republik förmlich aufgezwungen wurde, als fast nur rasch zusammengeraffte Rekruten dem Eindringling entgegen geworfen werden konnten, als es tatsächlich nur Milizen, und noch dazu ungeübte Milizen waren, die den Kampf noch monatelang hinauszogen, nachdem das stehende Heer in wenigen Tagen zusammengebrochen war, selbst damals bot die bürgerliche Regierung der Republik alles auf, den intelligentesten und begeistertsten Teil der wehrfähigen Bevölkerung, die Nationalgarden des revolutionären Paris, vom Gebrauch der Waffen möglichst fernzuhalten und so einen wertvollen Teil der Wehrmacht lahm zu legen, die Volksbewaffnung und Wehrhaftmachung des gesamten Volkes nur unvollständig durchzuführen. Mögen die Kosten der Landesverteidigung dadurch ins Ungeheuerliche steigen, mag die Kraft der Landesverteidigung dadurch erheblich geschädigt werden – tut nichts, die Bourgeoisie bietet alles auf, das Volk wehrlos zu erhalten, die Wehrhaftigkeit auf das in der Kaserne vom Volke abgeschlossene Heer zu beschränken, und dieses dafür ungeheuerlich auszudehnen.

Indessen schwindet die Wahrscheinlichkeit immer mehr, dass sich jemals noch der proletarische und der bürgerliche Patriotismus zur Verteidigung der Freiheit des eigenen Volkes vereinigen. Die aus Gründen der inneren Politik entspringenden Gegensätze zwischen den herrschenden Klassen der verschiedenen Staaten Europas schleifen sich zusehends ab und sind nirgends mehr so schroff, dass sie einen Krieg veranlassen oder auch nur intensiver gestalten könnten. Die französische Republik erfüllte nicht, was man 1870 noch von ihr erwarten konnte, sie behielt fast alle Herrschaftsmittel des Kaiserreiches bei und sie weiß sich auch mit den Monarchien sehr gut abzufinden, ist sie doch in die engste Allianz sogar mit dem russischen Zaren getreten, dessen Absolutismus sie auf jede Weise fördert. Dafür ist auch die Marseillaise, das Kampflied der Republik im Kriege gegen die Tyrannen, in der Heimat der gefährlichsten und bösartigsten aller Tyranneien hoffähig geworden.

Andererseits hat Russland selbst seit dem Ausbruche der Revolution aufgehört, eine Gefahr für die Freiheit des Westens zu sein. Auf lange hinaus ist das Zarenreich militärisch völlig lahm gelegt, sollte es aber wieder kriegstüchtig werden, so könnte das nur unter politischen Formen geschehen, die die russische Freiheit zum mindesten auf die Höhe der deutschen brächten.

Unter diesen Verhältnissen ist ein Krieg zur Verteidigung der Freiheit der Nation, in dem bürgerlicher und proletarischer Patriotismus sich vereinigen könnten, nirgends mehr zu erwarten. Ein solcher Krieg zur Abwehr einer die Freiheit gefährdenden Invasion würde erst wieder möglich als Folge einer proletarischen Revolution in einem Lande, das an Staaten mit starken kapitalistischen Regierungen grenzt. In einem solchen Falle würden aber bürgerlicher und proletarischer Patriotismus nicht mehr zusammen strömen, sondern letzterer allein für die Verteidigung des Landes einzutreten haben, ersterer auf Seite des Landesverrates zu finden sein.

Zwischen bürgerlichem und proletarischem Patriotismus gibt es heute weniger Gemeinsamkeit als je. Schroffer als je stehen sie im vollsten Gegensatze zueinander.
 

III.

Wenn in dem Maße, in dem die revolutionäre Gesinnung der Bourgeoisie schwand, auch die Situationen seltener wurden, in denen proletarischer und bürgerlicher Patriotismus sich begegneten, so ist in demselben Maße immer mehr eine Ursache von nationalen Gegensätzen, ja Kriegen, in den Vordergrund getreten, die den proletarischen Patriotismus in schärfsten Widerspruch zu dem bürgerlichen setzt. Diese Ursache ist die nach ständiger Ausdehnung des Marktes und des Ausbeutungsgebietes drängende Profitgier des Kapitals.

Gewiss, auch das Proletariat muss nach stetiger Vermehrung der Produktivität der Arbeit streben, eine Vermehrung, die nicht möglich ist ohne fortschreitende Erweiterung des Weltmarktes. Aber es sucht diese Erweiterung zu erreichen durch immer weitergehende Niederlegung aller Schranken, die die Völker voneinander trennen, durch Verstärkung der Bande, die sie aneinander knüpfen.

In diesem Sinne tritt das moderne Proletariat für den Freihandel ein, oder, wie man noch besser sagen kann, für den freien Verkehr zwischen den Völkern. Vollmar hatte sehr Recht, wenn er 1898 auf dem Stuttgarter Parteitag die diesem vorgelegte Resolution über die Handelspolitik in der Weise verbesserte, dass er sie nicht den Freihandel, sondern die Verkehrsfreiheit fordern ließ. Denn der Freihandel bedeutet bloß die Beseitigung der Schutzzölle, der freie Verkehr kann aber noch durch andere Maßnahmen geschädigt werden, z. B. durch eine bestimmte Eisenbahnpolitik, durch Erschwerung der Einwanderung und Auswanderung u. dgl.

Dies Streben nach vollster internationaler Verkehrsfreiheit des Proletariats ist aber ganz anderer Art, als die bürgerliche Freihändlerei, die nur noch in England eine Existenz als politischer Faktor fristet. Jenes entspringt aus dem Bewusstsein der internationalen Solidarität, diese dagegen beruhte in ihrem Ursprungslande, in England, dem einzigen Lande, in dem sie unter den industriellen Kapitalisten zum Siege gelangte, auf einem internationalen Interessengegensatz. Der Freihandel sollte nicht das Mittel sein, die Produktivität der Arbeit allenthalben aufs höchste zu steigern, sondern das Mittel, die industrielle Entwicklung der Agrarstaaten zu hemmen, sie von der englischen Industrie abhängig zu machen. Nicht internationale Solidarität, sondern der Glaube an die unbesiegbare Übermacht der englischen Industrie schuf die Freihandelsideen der englischen industriellen Kapitalisten.

Das proletarische Streben nach Verkehrsfreiheit beruht auf ganz anderen Voraussetzungen und hat eine ganz andere Richtung, als die Freihändlerei des Manchestertums. Es erhielt erst seine Kraft durch den Bankrott dieser Freihändlerei und ihrer Illusionen, seitdem sich’s zeigte, wie namentlich Deutschland, aber auch die Schweiz und Belgien bewiesen, dass der Freihandel für industriell rückständige Staaten durchaus nicht notwendigerweise das Unterliegen unter Länder höherer industrieller Entwicklung bedeutet; dass der Schutzzoll, wie Frankreich zeigt, durchaus nicht eine raschere industrielle Entwicklung herbeizuführen braucht.

Von der Verkehrsfreiheit als einem Mittel zur Erweiterung des Weltmarktes will jedoch die Kapitalistenklasse nichts wissen. Denn durch diese Methode wird wohl die Produktivität der Arbeit vermehrt, jedoch zugunsten des Wohlstandes und der Kultur der Massen, nicht zugunsten des Kapitalprofites. Der Profit ist aber der Abgott des Kapitals, der Moloch, dem es alles opfert, auch Wohlstand und Kultur des eigenen Volkes.

Das Kapital zieht daher überall eine andere Methode der Vermehrung der Produktivität der Arbeit vor: deren Förderung durch Staatshilfe für das Kapital. Da die Kapitalistenklasse über die Staatsmacht verfügt, nützt sie diese aus, sich die Volksmasse, die sie eben als Lohnarbeiter und Konsumenten ausgebeutet hat, nun auch noch als Steuerzahler zinsbar zu machen. Fast in allen Ländern sucht sie das Staatsgebiet durch Zölle vom Ausland abzuschließen, Zölle, die angeblich Industrie und Landwirtschaft vor dem Wettbewerb des Auslandes schützen sollen, die aber nichts anderes bezwecken, als eine künstliche Erhöhung der Profite und Grundrenten. Indes begnügen sich die Kapitalisten nicht mit dieser Art Staatshilfe, sie streben in fast allen Großstaaten auch noch danach, dass der Staat in überseeischen Ländern auf eigene Kosten und Gefahr für sie neue Ausbeutungsgebiete erobere und so die Möglichkeit neuer und hoher Profite für sie vergrößere.

Diese Politik bedeutet aber nichts anderes, als die Verschärfung der Gegensätze zwischen den Staaten, die Vermehrung der Lasten und Gefahren, die den Völkern daraus erwachsen – einzig um der Vermehrung des Profits willen.

Je mehr die Staaten ihre Gebiete voneinander wirtschaftlich abschließen, desto lebhafter ihr Drang, das unvermeidliche Ausdehnungsstreben ihrer Industrie und ihres Kapitals durch Vergrößerung des Staatsgebietes außerhalb Europas zu befriedigen. Aber die Gebiete, die noch „herrenlos“, das heißt noch wehrlos europäischer Profitgier (worunter hier auch die amerikanische zu verstehen ist) preisgegeben und noch nicht unter europäische oder amerikanische Botmäßigkeit gebracht sind, werden immer rarer und damit wächst die Gefahr, dass die europäischen Staaten bei ihrem kolonialen Ausdehnungsstreben einander in einer Weise in die Quere kommen, dass der Krieg unvermeidlich wird – so sehr sie alle ihn fürchten mögen.

Jeder Staat weiß, wie Furchtbares für ihn heute auf dem Spiele steht, wenn er in einen Krieg verwickelt ist; er weiß, dass dessen Ausgang für das jeweilige herrschende System zu einer Lebensfrage, zu einem Kampf um die Existenz wird. Aber wo die Gegensätze der Staaten schroff zugespitzt sind, ergeben sich nur zu leicht Situationen, die einen Krieg schließlich unvermeidlich machen. Bei jedem Weg, den wir einschlagen, ohne ihn zu kennen, ist nur der erste Schritt bei uns; die anderen werden uns durch die Verhältnisse aufgezwungen.

Auch die Engländer trugen kein Verlangen nach dem Krieg mit den Buren, und die russische Regierung nicht nach dem Krieg mit Japan. Er kam, weil man den Gegner unterschätzte, ihn einzuschüchtern gedachte und sich dabei zu weit vorwagte.

Wie leicht kann aber ein derartiges Vorgehen bei den heutigen schroffen Gegensätzen. einen Krieg zwischen den europäischen Mächten selbst entfesseln!

Vor wenigen Jahren, während des Krieges gegen die Buren, war es England, das die gesamte öffentliche Meinung gegen sich erregt hatte. Seitdem hat der Wind völlig umgeschlagen, England marschiert an der Spitze der öffentlichen Meinung Europas, die sich heute ebenso einmütig gegen Deutschland richtet, wie vor kurzem gegen England. Das ganze Gebaren des Deutschen Reichs seit der Marokko-Affäre erweckt in den Völkern Europas den Verdacht, dass Deutschland seinen Kolonialbesitz gewaltsam erweitern wolle. Es hat besonders die am Mittelmeer interessierten Mächte alle dadurch gegen sich aufgebracht, dass es dem Anschein Nahrung gab, als suche es eine beherrschende Position im Mittelmeer zu erlangen. Sein fieberhaftes Streben, eine Seemacht ersten Ranges zu werden, machte es den Kolonialmächten schon lange verdächtig, und der jüngste Wahlkampf hat vollends im Auslande den Eindruck verstärkt, als bedrohe Deutschlands Politik den Weltfrieden. Denn dieser Wahlkampf wurde von der Regierung geführt und gewonnen unter dem Zeichen der Kolonialpolitik, durch das Versprechen, goldene Berge in den Kolonien hervorzuzaubern. Aber die Kolonialmächte kennen zu genau die Wertlosigkeit der deutschen Kolonien; will das Deutsche Reich wirklich profitable Kolonien, verbeißt es sich in den Gedanken, in den Kolonien eine Quelle des Reichtums zu schaffen, dann muss es die nötigen Kolonien erst erobern. Die Gutheißung der Kolonialpolitik durch die Mehrheit, zwar nicht der Wähler, aber der Gewählten des deutschen Reichstages, die der parlamentarische Kretinismus aller Parteien und Länder allein in Betracht zieht, diese Gutheißung erscheint dem durch die Flottenrüstungen und den Marokkorummel argwöhnisch gemachten Ausland als der Anreiz zu einer intensiven überseeischen Eroberungspolitik.

Und dieser üble Eindruck wird noch verstärkt durch das Säbelrasseln, womit gerade das Deutsche Reich den englischen Antrag auf Abrüstung beantwortete. Selbst wenn wir annehmen, dass der Antrag nicht ernst gemeint, dass er nur eine Falle war, dann war es erst recht wenig angebracht, ihn abzulehnen, denn das hieß doch nichts anderes, als in die Falle gehen, die gelegt worden, das Odium nicht bloß für die eigenen Rüstungen, sondern auch für die der Gegner auf sich nehmen, als der Urheber aller der Militärlasten dastehen, unter denen ganz Europa erdrückt wird; als die Geißel gelten, die ganz Europa bedroht!

Auch wenn diese Situation nicht zum Kriege führt, so führt sie doch zu vermehrter Kriegsbereitschaft, zu einer enormen Vermehrung der Militärlasten, da zu dem Wettrüsten zu Land nun ein Wettrüsten zur See getreten ist, das ein immer rasender werdendes Tempo einschlägt. Sie führt dazu, dass die Völker Europas immer mehr ausgepowert werden, die Staaten alle finanzielle Kraft zu sozialen Reformen und Kulturwerken verlieren, die Verelendung immer weitere Volksschichten bedroht. Und das alles um keines anderen Zieles willen, als der Vermehrung des Profits. Keine Nationalität Europas, die zu selbständigem staatlichem Dasein gelangt ist, wird von irgendeinem Nachbarn in ihrer Selbständigkeit, Unabhängigkeit und Freiheit bedroht; kein Land hat es notwendig, zu seiner Sicherung an den Patriotismus seiner Bürger zu appellieren und sich in eherne Rüstung zu hüllen. Einzig und allein die Profitgier des Kapitals, sein unablässiges Ausdehnungsstreben bringt die jetzige Lage voll Gefahren und Lasten herbei. Die Eindämmung dieser Profitgier und nicht die Vermehrung der Rüstungen ist der Weg, aus ihr herauszukommen.

Es heißt das Wesen des internationalen Kapitalismus völlig verkennen, und ein paar Zeitungsphrasen allzu ernst nehmen, wenn man die heutige Isolierung Deutschlands auf seinen Mangel an Liberalismus zurückführt. Von so sentimentalen Erwägungen werden die Kapitalisten Frankreichs und Englands nicht beherrscht. Wie reaktionär auch Deutschland ist, verglichen mit Russland unter dem Regiment des Absolutismus erscheint es doch als ein freies Land. Die ärgsten Schandtaten des russischen Despotismus haben aber weder die bürgerlichen Republikaner Frankreichs, auch nicht die radikalsten unter ihnen, noch die Liberalen und Radikalen Englands verhindert, den russischen Henkern ihre Freundschaft und tatkräftige Hilfe entgegenzubringen. Nein, der Gegensatz, der heute die auswärtigen Verhältnisse der Großmächte beherrscht, ist nicht der zwischen Liberalismus und Absolutismus, es ist nur der Gegensatz zwischen dem Profithunger der Kapitalistenklassen der verschiedenen Nationen, wobei die Frankreichs und Englands, wie auch Italiens augenblicklich in denen Deutschlands ihr kräftigstes und gefährlichstes Hindernis sehen.

Es wäre ungerecht, eine besondere Nation herauszugreifen und deren Regierung oder Kapitalistenklasse als einzige Ursache der heutigen gefahrdrohenden Lage anzuklagen. Weder die englische noch die deutsche allein ist dafür verantwortlich, diese Lage ist das Produkt des gleichen Profithungers und Ausdehnungsdranges der Kapitalisten aller Länder. Auf das Konto des deutschen Regimes fallen nur die besondere Ungeschicklichkeit, Rücksichtslosigkeit und Unzuverlässigkeit, die es so oft in letzter Zeit bewiesen und wodurch es sich aller Bundesgenossen außer Österreichs – das keine Kolonialpolitik treibt – beraubt hat. Die Isolierung Deutschlands ist allerdings das ureigene Werk der es beherrschenden Kreise; sein Gegensatz zu einigen Kolonialmächten aber ist nur die Äußerung eines Gegensatzes, der die ganze internationale Kapitalistenwelt spaltet.

Durch die Einschränkung des persönlichen Kurses, wie sie unsere Liberalen – wenigstens mit Worten – anstreben, wäre es vielleicht möglich, bis zu einem gewissen Grade die Isolierung Deutschlands zu beseitigen; damit würden aber nicht jene Gegensätze aus der Welt geschafft, die das Wettrüsten immer mehr steigern, es immer unerträglicher machen und die Gefahr eines Weltkrieges immer drohender heraufbeschwören.

Da die Gegensätze der Nationen nicht der Böswilligkeit einer einzelnen Nation entspringen, sondern durch Bestrebungen erzeugt werden, die in jeder von ihnen zu finden sind, können auch diese Gegensätze und die durch sie hervorgerufenen Rüstungen und Kriegsgefahren nur bekämpft, vermindert und verhindert werden auf internationalem Wege, durch eine Aktion, die von allen Nationen getragen wird. Es wäre indes eine Illusion, von den herrschenden Mächten diese internationale Aktion zu erwarten. Nicht etwa, weil ihr Ziel technisch unmöglich oder politisch verfehlt wäre. Wenn die Regierungen wollten, könnten sie abrüsten. Wo ein Wille ist, findet man auch einen Weg. Aber sie lehnen die Abrüstung ab, weil ihr Interesse eine Politik erheischt, die die Gefahr feindlicher Zusammenstöße herbeiführt und sie daher drängt, sich dazu möglichst gut zu wappnen.

Hier wie auf allen Gebieten, wo großes geleistet werden kann, wo Wohlstand und Kultur auf dem Spiele stehen, verzichten die herrschenden Klassen – den deutschen Reichskanzler an der Spitze – darauf, positiv zu wirken. Sie überlassen die positive Arbeit der Sozialdemokratie, und die ist unermüdlich mit ihr beschäftigt.

In der Tat, kann es positivere Arbeit geben, als die Bekämpfung des Militarismus? Wenn die Sozialreform immer mehr stockt, wenn selbst Kulturarbeiten immer mehr vernachlässigt werden, die mit den Interessen des Kapitals in keinem Widerspruch stehen; wenn das Volksschulwesen miserabel ist, die Speisung hungriger Schulkinder auf unüberwindliche Hindernisse stößt, das Spitalwesen gänzlich unzureichend bleibt, die öffentlichen Verkehrsmittel, Post, Telegraph, Eisenbahnen, Kanäle, Straßen, nicht genügend ausgebaut und verbilligt werden, wenn die Lebensmittel des Volkes nicht bloß durch Schutzzölle, sondern auch durch Finanzzölle verteuert werden – siehe z. B. den Kaffeezoll – so wird dieser ganze Mangel an fruchtbarer positiver Arbeit durch nichts anderes erzeugt, als durch den Militarismus, der, mit dem Kapitalismus innig verwachsen, dessen Verheerungen am Volkskörper durch seine ungeheuren Ansprüche noch enorm steigert.

Eine der unerlässlichsten Vorbedingungen jeder wahrhaft positiven Arbeit in der Gesetzgebung ist die erfolgreiche Bekämpfung des Militarismus. Die einzige Partei, die sie leisten will und leisten kann, ist die internationale Sozialdemokratie.

Aber ihre internationale Aktion kann, so paradox das klingen mag, nur in der Form einer nationalen Aktion geführt werden.

Charity begins at home, Wohl tun beginnt zu Hause, sagt ein englisches Sprichwort. So beginnt auch der Kampf gegen den Militarismus in jedem Lande als Kampf gegen den Militarismus der eigenen Regierung, und nur in dieser Weise kann er erfolgreich geführt werden. Es wäre ganz sinnlos, wollte die deutsche Sozialdemokratie den Militarismus in England und Frankreich, wollten die französischen und englischen Sozialisten den Militarismus in Deutschland bekämpfen. Man nimmt den Kampf mit dem Feinde dort auf, wo man ihn trifft, wo man ihn schlagen kann, nicht dort, wo er unerreichbar ist.

Es wäre aber nicht bloß sinnlos, es wäre geradezu zweckwidrig, wollten die Sozialdemokraten eines Landes die Wucht ihres Angriffs nicht gegen den eigenen, sondern gegen den fremden Militarismus richten. Sie erreichten damit das Gegenteil ihrer Absicht, sie arbeiteten für die Stärkung des Militarismus, denn gerade aus dem Hinweis auf die Rüstungen der Nachbarn zieht dieser seine Kraft. Je mehr man sich über die kriegerischen Absichten und Rüstungen der anderen entrüstet, desto mehr schwächt man die Wucht des Angriffs gegen den Militarismus im eigenen Lande, also dort, wo man ihn erreichen kann, desto mehr schwächt man aber auch die Wucht des Angriffs gegen ihn bei den Nachbarn.

Je energischer z. B. die deutschen Sozialdemokraten den deutschen Militarismus und seine Quelle, den bürgerlichen Patriotismus, bekämpfen, desto mehr erleichtern sie den gleichen Kampf auch den Sozialisten Frankreichs und Englands. Dagegen würde jede, aus irgendwelchen taktischen oder agitatorischen oder sonstigen Rücksichten vollzogene Konzession der deutschen Sozialdemokratie an den bürgerlichen Patriotismus sofort den Sozialisten Englands und Frankreichs den Kampf gegen Militarismus und Chauvinismus unendlich erschweren; sie würde geradezu die Gegner Deutschlands stärken, damit rückwirkend die deutschen bürgerlichen Patrioten zu vermehrten Rüstungen anstacheln, und so in doppelter Weise die Interessen des deutschen Volkes empfindlich schädigen.

Dasselbe gilt natürlich auch von jeder Konzession an den bürgerlichen Patriotismus und den Militarismus, die die Sozialisten Englands oder Frankreichs machen würden. Sie würden den Gegnern Englands und Frankreichs in Deutschland damit den größten Dienst erweisen und die Kriegsrüstung Deutschlands energisch fördern.

So ist es zu verstehen, dass die Agitation und Aktion gegen den Militarismus eine internationale sein muss und doch nur eine nationale sein kann. Jedes Volk kann wirksam nur seinen eigenen Militarismus bekämpfen; aber es ist auch nur dann möglich, den Kampf gegen ihn wirksam zu führen, wenn man ihm gleichzeitig bei allen größeren Kulturvölkern mit gleicher Energie entgegentritt; und je energischer der Widerstand, auf den er in dem einen Lande stößt, desto größer auch der Widerstand, den er in den anderen Ländern findet. So hängen nationale und internationale Bekämpfung des Militarismus aufs engste miteinander zusammen.

In dieser Internationalität liegt aber auch die Gewähr, dass der Kampf der Sozialdemokratie gegen den Militarismus nie dahin führen wird, das eigene Volk zur Wehrlosigkeit einem gerüsteten Nachbarn gegenüber zu verurteilen. Wir haben schon gesehen, dass die Gegensätze aufgehört hatten, die im 19. Jahrhundert noch manche freiheitlichen Völker zwingen konnten, ihren Nachbarn kriegerisch entgegenzutreten; wir haben gesehen, dass der heutige Militarismus auch nicht im Entferntesten mehr der Verfechtung wichtiger Volksinteressen, sondern nur der Verfechtung des Profits gilt; nicht der Sicherstellung der Unabhängigkeit und Unverletztheit des eigenen Volkstums, das niemand bedroht, sondern nur der Sicherstellung und Erweiterung der überseeischen Eroberungen, die bloß der Förderung des kapitalistischen Profits dienen. Die heutigen Gegensätze der Staaten können keinen Krieg mehr bringen, dem der proletarische Patriotismus nicht aufs entschiedenste zu widerstreben hätte.

Wir haben ferner gesehen, dass in Fällen, wo auch der proletarische Patriotismus die Verteidigung der Nation gebieterisch erheischt, er gerade das kraftvollste Mittel dazu ergreift, die Bewaffnung des gesamten Volkes, ein Mittel, das noch 1870 in Frankreich, wie wir schon gezeigt, wirksamer gegen die feindliche Invasion wirkte, als die stehende Armee, obwohl es von der bürgerlichen Regierung nur zaghaft und unvollkommen angewendet wurde und die Volksbewaffnung ein zur Wehrhaftigkeit unvorbereitetes, ja systematisch der Wehrhaftigkeit entwöhntes Volk traf. Der proletarische Patriotismus bedeutet nichts weniger, als Wehrlosigkeit des Volkes.

Wir sehen aber jetzt auch, dass, dank dem internationalen Charakter der Sozialdemokratie und ihres Kampfes gegen den Militarismus alle wie immer gearteten Veränderungen der Wehrhaftigkeit des Volkes, die aus diesem Kampfe entspringen, die großen Nationen Europas gleichzeitig treffen, bei denen allen heute die Sozialdemokratie annähernd die gleiche Kraft und den gleichen Einfluss erlangt hat.

Noch ist die Sozialdemokratie nirgends stark genug, eine Einschränkung der Rüstungen zu erzwingen; immerhin schon stark genug, den Regierungen ein Grauen vor dem Kriege aufzudrängen, hinter dem sie die Revolution auflodern sehen. Auch das ist schon ein enormer Gewinn. Wird die Sozialdemokratie aber einmal stark genug in irgendeinem Lande, den Militärlasten energisch zu Leibe zu rücken, sie soweit zu reduzieren, dass erhebliche Mittel zu Zwecken der Kultur und speziell der Sozialreform frei werden, dann dürfen wir überzeugt sein, dass sie in allen Ländern der modernen Kultur stark genug ist, das Beispiel des einen Staates unwiderstehlich zu machen, dass dann alle nachfolgen müssen.

Gelangt aber die Sozialdemokratie zum völligen Siege, dann reißt sie auch alle Schranken nieder, die heute die Nationen trennen, dann eröffnet sie eine Ära vollster Freiheit des internationalen Verkehrs, eine Ära, in der Wohlfahrt und Kultur für alle Nationen durch friedliches Zusammenwirken aller gesichert wird, jegliche Ausbeutung, nicht nur die der Proletarier durch die Kapitalisten, sondern auch die der armen und agrarischen Völker durch die reichen und industriellen ein Ende hat und alle sozialen und nationalen Gegensätze aufhören. Dann verschwindet jede Kriegsursache, jede Kriegsgefahr, jede Notwendigkeit zur Kriegsrüstung. Dann wird der proletarische Patriotismus seine schönsten Triumphe feiern im fröhlichen Gedeihen des Volkes, dann hat der fluchwürdige bürgerliche Patriotismus sein Ende erreicht, jener Patriotismus, der nicht nach der Wohlfahrt der Völker strebt, dessen herrschende Leidenschaft der Drang nach Profit ist, der seine geschichtliche Aufgabe darin sieht, um des Profits willen die Massen des Volkes zu verelenden und zur Schlachtbank zu führen. Es gibt kein Glück und kein Gedeihen für die Völker, ehe nicht dieser Art Patriotismus für immer ein Ende bereitet wird.


Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012