Karl Kautsky

Der Ursprung des Christentums


II. Die Gesellschaft der römischen Kaiserzeit


3. Denken und Empfinden der römischen Kaiserzeit


a. Haltlosigkeit

b. Leichtgläubigkeit

c. Lügenhaftigkeit

d. Menschlichkeit

e. Internationalität

f. Religiosität

g. Monotheismus


a. Haltlosigkeit

Wir haben gesehen, wie das Zeitalter, in dem das Christentum aufkam, eine Epoche völliger Zersetzung der überkommenen Formen der Produktion und des Staates war. Dem entsprach auch eine völlige Zersetzung der überkommenen Denkformen. Ein allgemeines Suchen und Tasten nach neuen Denkformen entstand. Und dabei fühlte sich das Individuum ganz auf sich gestellt, denn aller gesellschaftliche Halt, den es bis dahin in seiner Gemeinde oder Markgenossenschaft und ihren überlieferten sittlichen Anschauungen gefunden hatte, löste sich jetzt auf. So wurde einer der hervorstechendsten Züge der neuen Denkweise der Individualismus. Dieser kann nie bedeuten, daß das Individuum aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang vollständig herausgehoben wird. Das ist ganz unmöglich. Das menschliche Individuum kann nur in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft existieren. Aber er bedeutet, daß der gesellschaftliche Zusammenhang, in dem es bisher aufwuchs und der ihm daher als der natürliche und selbstverständliche erschien, seine Kraft verliert, und das Individuum nun vor die Aufgabe gestellt wird, sich selbst außerhalb dieses alten gesellschaftlichen Zusammenhanges seinen Weg zu bahnen. Das kann es nur, indem es sich mit solchen, die gleiche Interessen und gleiche Bedürfnisse haben, zu neuen gesellschaftlichen Organisationen vereinigt. Die Art dieser Organisationen ist freilich durch die gegebenen Verhältnisse bestimmt und nicht von der Willkür der Individuen abhängig. Aber sie selbst treten dem Individuum nicht, wie überkommene Organisationen, fertig entgegen, sie müssen von ihm im Verein mit den in gleicher Richtung Strebenden erst geschaffen werden, wobei mannigfache Mißgriffe und die größten Meinungsverschiedenheiten vorkommen können und müssen, bis schließlich aus dem Kampf der Meinungen und Experimente neue Organismen erstehen, die den neuen Bedingungen am besten entsprechen, dauern und dann für die nachkommenden Geschlechter ebenso festen Halt bieten können, wie die früheren, durch die neuen Organisationen abgelösten. In solchen Zeiten des Übergangs scheint es, als bedinge nicht die Gesellschaft das Individuum, sondern dieses die Gesellschaft, als hingen die gesellschaftlichen Formen, deren Aufgaben und Zwecke ganz von seinem Gutdünken ab.

Ein derartiger Individualismus, ein individuelles Suchen und Tasten nach neuen Denkformen und neuen gesellschaftlichen Organisationen kennzeichnet zum Beispiel die Zeit des Liberalismus, die der Auflösung der feudalen Organisationen folgte, ohne gleich andere neue gesellschaftliche Organisationen an deren Stelle zu setzen, bis allmählich die neuen Organisationen der Arbeiter und der Unternehmer immer mehr zu den entscheidenden Elementen der kapitalistischen Gesellschaft werden.

Durch diese Auflösung alter und Bildung neuer gesellschaftlicher Organisationen haben die ersten Jahrhunderte der römischen Kaiserzeit große Ähnlichkeit mit dem neunzehnten Jahrhundert. Sie ähneln einander aber auch dadurch, daß hier wie dort die Auflösung der alten gesellschaftlichen Zusammenhänge am raschesten und auffallendsten in den Großstädten vor sich ging und das ganze gesellschaftliche Leben mehr und mehr von diesen bestimmt wurde.

Für den Bauern in der Zeit seiner Kraft und Selbstgenügsamkeit bot das gesellschaftliche Leben wenig Veranlassungen zum Nachdenken, da dies Leben ja für ihn durch Sitte und Gewohnheit fest bestimmt war. Um so mehr mußte er über die Natur nachdenken, mit der er in stetem Kampfe lag, die ihm täglich neue Überraschungen bereitete, von der er völlig abhing, mit der er fertig zu werden hatte, wollte er existieren. Die Frage nach dem Warum der einzelnen Naturerscheinungen lag ihm daher sehr nahe. Er suchte sie zunächst in sehr naiver Weise durch die Personifizierung der einzelnen Naturkräfte, durch die Annahme zahlreicher in der Natur wirkenden Götter zu erklären, aber in dieser Fragestellung war bereits der Anfang der Naturwissenschaft eingeschlossen, die ja auf der gleichen Fragestellung beruht, die nach dem Warum, nach den Ursachen aller Dinge fragt. Sobald man anfing, zu erkennen, daß der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung bei den Naturerscheinungen ein regelmäßiger, notwendiger ist, daß er nicht von der Willkür persönlicher Gottheiten abhänge, war die Bahn der naturwissenschaftlichen Erkenntnis eingeschlagen.

Diese Leistung konnte freilich nicht von Bauern ausgehen, die in voller Abhängigkeit von der Natur standen. Sie beugten sich willenlos vor den Naturkräften, die sie nicht durch Erkenntnis zu beherrschen, sondern durch Gebete und Opfer sich geneigt zu machen suchten. Wissenschaftliche Naturerkenntnis wird nur in Städten möglich, wo der Mensch nicht so unmittelbar und nachdrücklich seine Abhängigkeit von der Natur zu fühlen bekommt, so daß er anfangen kann, ihr uninteressierter Beobachter zu werden. Nur dort erstand auch eine herrschende Klasse, die Muße genug hatte zu beobachten, und die nicht dem Antrieb unterlag, ihre Muße zu bloß körperlichen Genüssen zu benutzen wie der Großgrundbesitzer auf dem Lande, wo körperliche Kraft und Ausdauer eine solche Rolle in der Produktion spielen, und wo Muße und Überfluß daher nur Vergnügungen grobsinnlicher Art wie Hetzjagden oder Gastereien erzeugen.

Die Naturphilosophie nahm in den Städten ihren Anfang. Aber allmählich wuchsen manche Städte so sehr an, sie wurden so zur Großstadt, daß ihrer Bevölkerung der Zusammenhang mit der Natur und damit das Interesse an ihr verloren zu gehen begann. Die gleichzeitige Entwicklung verlieh diesen Großstädten immer mehr die Führung des geistigen wie des ökonomischen Lebens weiter Gebiete. Und dieselbe Entwicklung löste, wie wir gesehen, allen gesellschaftlichen Halt auf, den das Individuum bis dahin an überkommenen Organisationen und Denkformen gefunden hatte. Sie spitzte aber auch die Klassengegensätze immer mehr zu, entfesselte immer wilderen Klassenkampf, der sich mitunter bis zum Umsturz aller überlieferten Verhältnisse steigerte. Nicht die Natur, die Gesellschaft war es jetzt, die in den Großstädten tagtäglich den Menschen neue Überraschungen brachte, sie tagtäglich vor neue, unerhörte Aufgaben stellte, ihnen tagtäglich von neuem die Frage vorlegte: Was tun?

Nicht die Frage nach dem Warum in der Natur, sondern die nach dem Sollen in der Gesellschaft, nicht die Erkenntnis notwendiger natürlicher Zusammenhänge, sondern die anscheinend freie Setzung neuer gesellschaftlicher Zwecke – das war es jetzt, was die Menschen vornehmlich beschäftigte. An Stelle der Naturphilosophie trat die Ethik, und diese nahm die Form des Suchens nach der Glückseligkeit des Individuums an. So schon in der hellenischen Welt nach den Perserkriegen. Die römische Welt trat, wie wir gesehen, in Kunst und Wissenschaft nur aus Plagiator der griechischen auf, da sie ja nicht durch Arbeit, sondern durch Plünderung in den Besitz ebenso ihrer geistigen, wie ihrer materiellen Schätze gelangte. Die Römer lernten die griechische Philosophie zu einer Zeit kennen, wo bei ihr das ethische Interesse schon das an der Erkenntnis der Natur überwog. So hat sich auch das römische Denken wenig mit Naturphilosophie abgegeben und seine größte Aufmerksamkeit gleich der Ethik zugewendet.

Zwei Richtungen der Lebensweisheit gab es in den ersten Jahrhunderten der Kaiserzeit, die das philosophische Denken besonders beherrschten: die Epikurs und die des Stoizismus.

Epikur nannte die Philosophie eine Tätigkeit, die durch Begriffe und Beweise ein glückliches Leben bewirkt. Dies glaubte er durch das Streben nach Lust zu erreichen, jedoch nur durch das Streben nach vernünftigem, dauerndem Genuß, nicht nach vorübergehender ausschweifender Sinnenlust, die zu dem Verlust von Gesundheit und Vermögen, also zu Unlust führt.

Das war eine Philosophie, die sehr gnt für eine Klasse von Ausbeutern paßte, welche für ihren Reichtum keine andere Verwendung fanden als die, ihn zu konsumieren. Eine vernünftige Regelung des Genußlebens, das war es, was sie brauchten. Aber diese Lehre bot keinen Trost denen, und deren Zahl wuchs immer mehr, die bereits körperlich, geistig oder finanziell Schiffbruch gelitten hatten; nicht den Armen und Elenden, aber auch nicht den Übersättigten, vom Genuß Angeekelten. Und endlich auch nicht jenen, die an den überkommenen Formen des Gemeinwesens noch ein,Interesse hatten und noch über ihre eigene Persönlichkeit hinaus Zwecke verfolgten; jenen Patrioten, die voll ohnmächtigen Schmerzes den Verfall von Staat und Gesellschaft ansahen, ohne ihn hindern zu können. Ihnen allen erschienen die Genüsse dieser Welt schal und eitel. Sie wandten sich der stoischen Lehre zu, die nicht die Lust, sondern die Tugend als das höchste Gut pries, als die einzige Glückseligkeit. Die äußeren Güter, Gesundheit, Reichtum usw. seien ebenso gleichgültig, wie die äußeren Übel.

Das führte schließlich viele zu einer förmlichen Abwendung von der Welt, zu einer Verachtung des Lebens, ja sogar zu einer Todessehnsucht. Der Selbstmord wurde im kaiserlichen Rom allgemein, er wurde geradezu eine Modesache.

Aber merkwürdig: gleichzeitig mit der Todessehnsucht entwickelte sich in der römischen Gesellschaft eine wahre Todesfurcht.

Der Bürger eines der Gemeinwesen des klassischen Altertums fühlte sich als Teil eines großen Ganzen, das ihn überlebte, wenn er starb, das im Verhältnis zu ihm unsterblich war. In seinem Gemeinwesen lebte er fort, es trug die Spuren seines Wirkens, er bedurfte keiner anderen Unsterblichkeit. In der Tat finden wir bei den Völkern des Altertums, die nicht eine lange Kulturentwicklung hinter sich haben, entweder gar keine Ansichten über das Fortleben nach dem Tode, oder aber Ansichten über ein Schattenleben, erzeugt durch das Bedürfnis, sich die Erscheinungen Verstorbener im Traum zu erklären: ein jämmerliches Leben, auf das man am liebsten verzichtet hätte. Bekannt ist die Klage des Schattens des Achilleus:

„Lieber ja wollt ich das Feld als Tagelöhner bestellen
Einem dürftigen Mann, ohne Erb und eigenen Wohlstand
Als die sämtliche Schar der geschwundenen Toten beherrschen!“

(Odyssee, XI, 489 bis 491.)

Die Annahme des Schattenlebens nach dem Tode war, wie gesagt, eine naive Hypothese, gewisse Traumerscheinungen zu erklären, sie entsprang nicht einem seelischen Bedürfnis.

Anders wurde es, als das Gemeinwesen abstarb und der einzelne sich von ihm loslöste. Er hatte nicht mehr die Empfindung, daß sein Wirken im Staate fortlebe, dem er gleichgültig, ja oft feindselig gegenüberstand, und doch war ihm der Gedanke an völlige Vernichtung unerträglich. So entstand eine Furcht vor dem Tode, wie sie das Altertum nicht gekannt hatte. Feigheit riß ein, der Tod wurde zu einem Schreckbild, indes er ehedem ein Bruder des Schlafes gewesen war.

Immer stärker wurde damit das Bedürfnis nach einer Lehre, welche die Unsterblichkeit des Individuums behauptete, nicht als wesenloser Schatten, sondern als glückseliges Wesen. Bald suchte man die Seligkeit nicht mehr in irdischer Lust, auch nicht mehr in irdischer Tugend, sondern in der Erlangung eines besseren Jenseits, für welches dies elende Leben nur eine Vorbereitung war. Diese Auffassung fand eine starke Stütze in der Lehre Platos, dahinaus entwickelte sich auch die stoische Schule.

Plato nahm bereits ein jenseitiges Leben an, in dem die Seelen, losgelöst von ihrem Leibe, weiterlebten und Lohn und Strafe für ihr irdisches Tun empfingen. Im 13. Kapitel des 10. Buches seiner Republik erzählt er von einem Pamphylier, der im Kriege gefallen war. Als er am zwölften Tage nach seinem Tode verbrannt werden sollte, lebte er plötzlich auf und erzählte, seine Seele sei, nachdem sie ans dem Leibe ausgefahren, an einen wunderbaren Ort gekommen, wo Spalten waren, die zum Teil in den Himmel führten, zum Teil in das Innere der Erde. Richter saßen da, um die ankommenden Seelen zu richten und die für gerecht Erkannten auf den Weg nach rechts in den Himmel hinaufzuweisen, wo unbegreifliche Schönheit herrsche, die Ungerechten aber auf den Weg nach links hinab in das Innere der Erde, in einen unterirdischen Schlund, wo sie ihre Sünden zehnfach abbüßen müßten. Die unheilbar Bösen würden dort von wilden Männern, feurig anzusehen, gepackt, gefesselt und gepeinigt. Für die anderen aber, die in den unterirdischen Schlund kämen, und für die im Himmel beginne nach tausend Jahren ein neues Leben. Der Pamphylier, der das alles angesehen, sei beauftragt worden, es zu erzählen, und sei dann durch ein Wunder wieder lebendig erwacht.

Wer denkt dabei nicht an Himmel und Hölle im christlichen Sinne, an die Schafe zur Rechten und die Böcke zur Linken, das ewige Feuer, das bereitet ist in der Hölle (Matthäus 25, 33, 41), und die Toten, die wieder lebendig werden, „bis daß tausend Jahre vollendet werden“ (Offenbarung Johannis 20, 5) usw.? Und doch lebte Plato ins vierten Jahrhundert vor Christo.

Nicht minder christlich aber klingt es, wenn wir lesen:

„Der Leib ist des Geistes Last und Strafe. Er drückt auf den Geist und hält ihn in Banden.“

Es war aber nicht ein Christ, der das schrieb, sondern der Erzieher und Minister Neros, des Christenverfolgers, der stoische Philosoph Seneca.

Ähnlich klingt eine andere Stelle:

„Durch dieses Gebein ist die Seele verdeckt, übertüncht, angesteckt, getrennt von dem, was das Wahre und Ihre ist, und in Täuschung hineingeworfen; ihr ganzer Kampf ist mit dem lastenden Fleisch. Sie strebt dahin, von wannen sie ausgeschickt ist: Dort wartet ihrer ewige Ruhe, wo sie nach dem Massigen und Verworrenen dieser Welt das Reine und Klare schaut.“

Auch sonst findet man bei Seneca auffallend viele Wendungen, die ebenfalls im Neuen Testament zu finden sind. So sagt Seneca zum Beispiel einmal: „Ziehe an den Geist eines großen Mannes.“ Mit Recht vergleicht Bruno Bauer diesen Ausdruck mit dem des Briefes Pauli an die Römer: „Ziehet an den Herrn Jesum Christum“ (13, 14) und dem an die Galater: „Denn wie viele euer getauft sind, die haben Christum angezogen“ (8, 27). Man hat aus solchen Übereinstimmungen geschlossen, Seneca habe aus christlichen Quellen geschöpft, ja, er sei ein Christ gewesen. Das letztere ist ein Produkt christlicher Phantasie. Seneca schrieb aber auch, bevor die verschiedenen Teile des Neuen Testaments abgefaßt wurden – sollte also eine Entlehnung stattgefunden haben, so darf man eher annehmen, daß die Christen aus den so verbreiteten Schriften des Modephilosophen jener Zeit schöpften Es liegt indes ebenso die Annahme nahe, daß beide Teile, unabhängig voneinander, Wendungen gebrauchten, die zu ihrer Zeit in aller Leute Mund waren.

So weist zum Beispiel gerade in bezug auf den Ausdruck: Christum anziehen, Pfleiderer darauf hin, daß er dem persischen Mithraskultus entstamme, der im kaiserlichen Rom starke Verbreitung fand. Er sagt über den Einfluß dieses Kultus auf christliche Vorstellungen unter anderem:

„Weiter gehörte aber zu den Mithrassakramenten das heilige Mahl, bei welchem das geweihte Brot und ein Kelch mit Wasser oder auch Wein als mystische Symbole zur Mitteilung des göttlichen Lebens an die Mithragläubigen dienten, die bei dieser Feier in Tiermasken erschienen, um durch diese Abbildung der Attribute des Gottes Mithra anzudeuten, daß die Feiernden ihren Gott ‚angezogen haben‘, das heißt, in innige Lebensgemeinschaft zu ihm getreten seien. Dies hat seine nächste Parallele in der paulinischen Lehre vom Herrenmahl als einer Gemeinschaft des ‚Leibes und Blutes des Christus‘ (Korinther 10, 16), den der Getaufte ‚angezogen‘ hat (Galater 3, 27).“ (Pfleiderer, Die Entstehung des Christentums, 1907, S. 130)

Seneca ist nicht der einzige Philosoph seiner Zeit, der Wendungen abfaßte oder gebrauchte, die uns als christliche anmuten.

Speziell die Ideen, von denen wir augenblicklich handeln, von der Unsterblichkeit der Seele und vom Jenseits, fanden in der Zeit der Anfänge des Christentums immer zahlreichere Verfechter. So schloß zum Beispiel der alexandrinische Jude Philo, der im Beginne unserer Zeitrechnung lebte, sein erstes Buch über die Gesetzesallegorien mit dem Satz:

„Wohl hat auch Heraklit gesagt: ‚Wir leben jener (der Götter) Tod und sind jener Leben gestorben‘; ist doch, wenn wir leben, die Seele gestorben und im Leib wie in einem Grabhügel begraben, und lebt dagegen die Seele, wenn wir gestorben sind, ihr eigenes Leben und ist sie vom Übel und Leichnam des mit ihr zusammengeketteten Lebens befreit.“

Die Vorbereitung für das Jenseits erschien immer mehr weit preiswürdiger als der Kampf um die Güter des Diesseits. Das Reich Gottes trat an die Stelle der Reiche dieser Welt. Wie aber es finden? Früher hatte der Bürger in der Überlieferung, dem Volkswillen, den Bedürfnissen des Gemeinwesens drei deutliche und zuverlässige Richtschnuren des Handelns gehabt. Die waren jetzt verschwunden. Die Tradition hatte sich zu einem wesenlosen Schatten verflüchtigt, das Volk empfand keinen Gesamtwillen mehr, die Bedürfnisse des Gemeinwesens waren ihm gleichgültig geworden. Einzig auf sich angewiesen stand das Individuum hilflos da in dem Strome neuer Ideen und Verhältnisse, der in die Gesellschaft hereinflutete, und sah sich nach einem festen Stützpunkt um, nach Lehren und Lehrern, die es die Wahrheit und richtige Lebensweisheit lehrten, ihm den richtigen Weg nach dem Reiche Gottes wiesen.

Wie immer, wo ein neues Bedürfnis entsteht, fanden sich auch hier zahlreiche Menschen, die es zu befriedigen suchten. Das Predigen individueller Moral begann, einer Moral, durch die sich der einzelne, ohne Veränderung der Gesellschaft, aus dieser und über diese erheben und zum würdigen Bürger einer besseren Welt werden sollte.

Was sollten auch die rednerischen und philosophischen Talente anderes anfangen? Jede politische Tätigkeit hatte aufgehört; das Interesse für die Erforschung der Ursachen der Dinge, also für wissenschaftliche Tätigkeit erlahmte. Was blieb da dem Tatendrang von Rednern und Philosophen übrig, als Prozesse zur Gewinnung von Eigentum zu führen oder die Moral der Eigentumsverachtung zu lehren, Jurist oder Prediger zu werden? Beide Gebiete wurden denn auch in der Kaiserzeit auf das reichlichste bebaut, und die Römer haben damals sowohl an Deklamationen über die Nichtigkeit der Güter dieser Welt wie an Paragraphen zum Schutze derartiger Güter Erkleckliches geleistet. Erbauliche Reden zu halten und erbauliche Sprüche und Anekdoten zu fabrizieren und zu sammeln, wurde Mode. Auch die Evangelien bieten im Grunde nichts, als die Verarbeitung derartiger Spruch- und Anekdotensammlungen.

Natürlich darf man jene Zeit nicht bloß nach ihrer moralisierenden Rhetorik beurteilen. Wohl entsprach die neue Moral mit ihrer Weltverachtung starken psychischen Bedürfnissen, die aus sehr realen gesellschaftlichen Bedingungen hervorgingen. Aber in Wirklichkeit war es doch unmöglich, der Welt zu entfliehen, sie erwies sich immer wieder als der stärkere Teil. So erstand jener Widerspruch zwischen moralischer Theorie und moralischer Praxis, der bei dieser Art Moral unvermeidlich ist.

Ein klassisches Beispiel davon bietet der schon mehrfach erwähnte Seneca. Dieser edle Stoiker moralisierte gegen die Teilnahme an der Politik und tadelte den Brutus, der durch solche Teilnahme die Grundsätze des Stoizismus verletzt habe. Aber derselbe Seneca, der dem Republikaner Brutus seine Beteiligung an politischen Kämpfen vorwarf, machte alle Bluttaten Agrippinas und Neros mit und spielte dessen Kuppler, nur um Minister bleiben zu können. Derselbe Seneca eiferte in seinen Schriften gegen Reichtum, Habsucht und Genußgier. Im Jahre 58 unserer Zeitrechnung mußte er sich aber von Sullius im Senat vorwerfen lassen, er habe seine Millionen durch Erbschleicherei und Wucher zusammengescharrt. Nach Dio Cassius war der Aufstand der Briten unter Nero unter anderem dadurch veranlaßt worden, daß Seneca ihnen ein Darlehen von 10 Millionen Denaren (7 Millionen Mark) gegen hohe Zinsen aufgedrängt und dann alles mit einem Male aufs härteste eingetrieben hatte. Der Lobredner der Armut hinterließ ein Vermögen von 300 Millionen Sesterzen (über 60 Millionen Mark), eines der größten Vermögen jener Zeit.

Angesichts dieses grandiosen Beispiels wirklicher Heuchelei wirkt es fast schwächlich, wenn hundert Jahre später der Satiriker Lucian in seinem Hermotimus einen von ihm erfundenen stoischen Philosophen höhnt, der die Verachtung des Geldes und der Genüsse lehrt und verheißt, seine Lehre verleihe edlen Gleichmut in allen Wechselfällen des Lebens, und der seine Schüler vor Gericht verklagt, wenn sie ihm das vereinbarte Schulgeld nicht zahlen können, der sich bei Gastmählern besäuft und im Streite so hitzig wird, daß er dem Gegner einen silbernen Becher an den Kopf wirft.

Das Moralisieren war in der Kaiserzeit in die Mode gekommen. Aber man suchte dicht bloß nach Morallehren, auf die sich die unselbständigen, hilflosen Geister stützen konnten, die mit der gemeinsamen öffentlichen Tätigkeit und der Tradition allen Halt verloren hatten, man fühlte das Bedürfnis nach einer persönlichen Stütze. Schon Epikur sagte: „Wir müssen um einen edlen Mann aussuchen, den wir stets vor Augen haben, damit wir leben, als schaue er zu, und handeln, als sehe er es.“ Seneca zitiert diese Stelle und fährt fort:

„Wir brauchen einen Hüter und Erzieher. Eine große Anzahl von Sünden fällt fort, wenn dem Strauchelnden ein Zeuge zur Seite steht. Der Geist muß jemand haben, den er mit einer Ehrfurcht verehrt, die auch sein geheimstes Inneres heiligt. Schon der Gedanke an solche Helfer hat regelnde und bessernde Kraft. Er ist Wächter, Vorbild und Regel, ohne die man das Verkehrte nicht wieder in Ordnung bringen wird.“

So gewöhnte man sich daran, sich einen verstorbenen großen Mann als Schutzheiligen auszuerlesen. Man ging aber noch weiter und unterwarf seinen Lebenswandel der Kontrolle noch lebender Menschen, von Moralpredigern, die mit der Anmaßung auftraten, durch ihre großartige Moral über die andere Menschheit erhaben zu sein. Der Stoizismus erklärte bereits den Philosophen für frei von Irrtum und Fehlern. Neben der Scheinheiligkeit und Heuchelei entwickelt sich nun auch der pharisäische Hochmut der Morallehrer – Eigenschaften, die dem klassischen Altertum völlig fremd waren, die einer Zeit gesellschaftlicher Auflösung entstammten und mit Notwendigkeit um so mehr in den Vordergrund traten, je mehr in der Philosophie die Wissenschaft durch die Ethik, das heißt das Erforschen der Welt durch das Aufstellen von Anforderungen an das Individuum verdrängt wurde.

Für jede Klasse fanden sich mm Moralprediger, die sich anmaßten, die Menschen zu größerer moralischer Vollkommenheit durch das Vorbild ihrer eigenen erhabenen Persönlichkeit zu erheben. Den Proletariern boten sich als solche namentlich Philosophen aus der zynischen Schule an, Nachfolger des bekannten Diogenes, die auf den Straßen predigten, vom Bettel lebten und die Glückseligkeit im Schmutz und der Bedürfnislosigkeit sahen, was sie aller Arbeit enthob, die sie als arge Sünde haßten und verachteten. Auch Christus und seine Apostel werden als bettelnde Straßenprediger dargestellt. Von Arbeit ist in allen Evangelien keine Rede. Darin stimmen sie trotz aller Widersprüche harmonisch miteinander überein.

Die Vornehmen aber hielten sich ihre eigenen Hausmoralisten, die meist der stoischen Schule angehörten.

„Augustus hatte in Areus, einem Stoiker aus Alexandria, nach Art der Großen seit der Scipionenzeit, seinen eigenen Philosophen bei sich, und demselben übergab sich auch Livia, um von ihm nach dem Tode ihres Sohnes Drusus Trost zu holen. Augustus hatte ihn in seinem Gefolge, als er nach der Schlacht von Aetium in Alexandrien einzog, und führte ihn seinen Mitbürgern, in der Rede, in welcher er den Alexandrinern für ihre Unterstützung des Antonius Verzeihung ankündigte, als eines der Motive seiner Milde an. Die gleichen geistlichen Führer sorgten in anderen Palästen und Häusern für die Seelenbedürfnisse der Großen. Früher Lehrer einer neuen Theorie, waren sie für die Römer nach den Bürgerkriegen praktische Seelenführer, geistliche Direktoren, Tröster in Unglücksfällen, Beichtiger geworden. Die Opfer der cäsarischen Willkür begleiteten sie zum Tode und gaben ihnen den letzten Zuspruch. Canus Julius, der sein Todesurteil vom Kaiser Caligula mit Danksagung empfing und mit Ruhe und Gelassenheit starb, war auf seinem letzten Gange von ‚seinem Philosophen‘ begleitet. Thrasea nahm mit seinem Schwiegersohn Helvidius den Zyniker Demetrius gleichsam als seinen Hausgeistlichen in die Kammer mit, wo er sich die Adern öffnen ließ, und behielt bei den Qualen des langsamen Hinsterbens seine Augen auf ihn gerichtet.“ (Bruno Bauer, Christus und die Cäsaren, S. 22, 23)

So sehen wir bereits vor dem Aufkommen des Christentums den Beichtvater auf die Bühne treten und durch die Macht der neuen Verhältnisse, nicht infolge der Lehren eines einzelnen Menschen, einen für die Länder Europas neuen historischen Faktor erstehen, die Priesterherrschaft. Priester hatte es wohl bei den Römern und Griechen schon seit langer Zeit gegeben. Aber sie waren von geringer Bedeutung im Staat gewesen. Erst in der Kaiserzeit erstehen in den Ländern Europas die Bedingungen für eine Priesterherrschaft, wie sie im früheren Altertum manche Länder des Orients schon kannten. Es bilden sich nun auch im Abendland die Vorbedingungen für eine Geistlichkeit, einen Priesterstand als Beherrscher der Menschen, der durch Scheinheiligkeit und Hochmut so vieler seiner Mitglieder auch schon jene Merkmale entwickelt, die das Pfaffentum kennzeichnen und ihm seitdem bis heute den Haß aller kraftvollen Elemente der Gesellschaft eintragen, die einer Vormundschaft nicht bedürfen.

Schon Plato hatte erklärt, der Staat werde erst dann ordentlich verwaltet sein, wenn die Philosophen ihn regierten und die übrigen Bürger nichts dreinzureden hätten. Nun ging sein Traum in Erfüllung in ein Weise, die freilich wenig nach seinem Geschmack gewesen wäre.

Aber diese Moralprediger und Beichtväter genügten dem haltlosen Geschlecht jener Zeit noch nicht. Der Staat war in unaufhaltsamem Sinken begriffen. Immer lauter pochten die Barbaren an die Tore des Reiches, das oft durch die blutigen Zwistigkeiten seiner Generäle zerfleischt wurde. Und das Elend der Massen wuchs, die Entvölkerung nahm zu. Die römische Gesellschaft sah ihren Untergang vor Augen: aber dies Geschlecht war zu verkommen, zu krank an Körper und Geist, zu feige, zu willenlos, zu zerfallen mit sich selbst und seiner Umgebung, um einen energischen Versuch zu machen, sich selbst aus den unerträglichen Zuständen zu befreien. Es hatte den Glauben an sich selbst verloren, m~d die einzige Stütze, die es vor völliger Verzweiflung bewahrte, war die Hoffnung auf Hilfe durch eine höhere Macht, durch einen Erlöser.

Diesen Erlöser sah man anfangs in den Cäsareu. Zur Zeit des Augustus zirkulierte eine Weissagung der Sibyllinschen Bücher, die einen Erlöser in nächste Aussicht stellte. [1] Man sah in Augustus einen Friedensfürsten, der das zerrüttete Reich nach den Bürgerkriegen einer neuen Epoche von Glanz und Wohlstand entgegenführen würde, wo „Friede auf Erden sei unter den Menschen des Wohlgefallens“.

Indes brachten die Cäsaren weder den dauernden Frieden noch einen wirtschaftlichen oder moralischen Aufstieg, trotz alles Zutrauens, das man in ihre göttlichen Kräfte setzte. Und das war nicht gering.

Man versetzte sie in der Tat unter die Götter – ehe noch die Lehre von der Menschwerdung Gottes aufkam, wurde die Lehre von der Gottwerdung eines Menschen akzeptiert, und doch muß diese zweite Prozedur offenbar noch schwieriger sein als die erstere.

Wo alles politische Leben erloschen ist, da erhebt sich der Herr des Staates so ungeheuer über die Bevölkerung, daß er dieser in der Tat wie ein Übermensch gegenübersteht, da er allein in sich die gesamte Kraft und Macht der Gesellschaft zu vereinen und diese nach Belieben zu lenken scheint. Andererseits aber stellte man sich im Altertum die Gottheiten sehr menschlich vor. So war der Sprung vom Übermenschen zum Gott kein allzu gewaltiger.

Die verkommenen Griechen Asiens und Ägyptens hatten schon einige Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung begonnen, ihre Despoten als Götter oder Göttersöhne zu betrachten. Aber auch ihre Philosophen wurden so verehrt. Von Plato war schon zu seinen Lebzeiten die in der Leichenrede seines Neffen Spensippus erwähnte Sage aufgekommen, daß seine Mutter Periktione ihn nicht von ihrem Gatten, sondern von Apollo empfangen habe. Als die Reiche des Hellenismus römische Provinzen wurden, übertrugen sie die göttliche Verehrung ihrer Könige und Philosophen auf die römischen Statthalter.

Julius Cäsar aber war der erste, der es wagte, von den Römern zu fordern, was die feilen Griechen ihm boten: göttliche Verehrung. Er rühmte sich göttlicher Abstammung. Niemand Geringerer als die Göttin Venus sollte seine Ahnfrau sein, was seines Neffen Augustus Hofdichter Virgil später in einem langen Heldengedicht, der Äneide, des näheren dartat.

Als Cäsar aus dem Bürgerkrieg als siegreicher Triumphator nach Rom zurückkehrte, beschloß man dort, „ihm mehrere Tempel wie einem Gotte zu errichten, darunter einen ihm mit der Göttin der Milde gemeinsam, wo er dargestellt war Hand in Hand mit dieser Göttin“. [2] Durch diese schlaue Manier wollte man an die Milde des Siegers appellieren. Nach seinem Tode wurde der „göttliche Julius“ durch Beschluß des Volkes und Senats von Rom förmlich in die Reihe der römischen Gottheiten aufgenommen. und das geschah, sagt Sueton, „nicht bloß äußerlich, durch Beschluß, sondern auch durch des Volkes innere Überzeugung. Er glänzte doch während der Spiele, die sein Erbe Augustus als die ersten nach seiner Vergötterung ihm zu Ehren veranstaltete, sieben Tage nacheinander ein Komet, der um die elfte Tagesstunde (zwischen 5und 6 Uhr abends) aufging; man meinte, dies sei die Seele des in den Himmel aufgestiegenen Cäsar. Darum bildet man ihn auch mit einem Sterne über dem Scheitel ab.“ (Kapitel 89)

Wer erinnert sich dabei nicht an den Stern, der den Weisen ·aus dem Morgenland die Göttlichkeit des Christuskindes bezeugte!

Seit Augustus galt es für selbstverständlich, daß jeder Kaiser nach seinem Tode unter die Götter versetzt wurde. In den östlichen Teilen des Reiches erhielt er als solcher den griechischen Namen Soter, das heißt: Erlöser.

Aber solche Heiligsprechungen (Apotheosen) blieben nicht auf die verstorbenen Kaiser beschränkt, sondern wurden auch ihren Verwandten und Günstlingen zuteil. Hadrian hatte sich in einen hübschen Griechenjüngling verliebt, Antinoos mit Namen, der „nach allen Seiten hin der Liebling des Kaisers wurde“, wie sich Hertzberg in seiner Geschichte des römischen Kaiserreichs (S. 369) zart ausdrückt. Als sein Geliebter im Nil ertrunken war, ließ er ihn frischweg, wegen seiner Verdienste von vorne und von hinten, unter die Götter versetzen, erbaute eine prachtvolle Stadt in der Nähe der Unglücksstelle, Antinoopolis genannt, und in dieser einen herrlichen Tempel für seinen sonderbaren Heiligen. Dessen Kultus verbreitete sich rasch im ganzen Reiche, in Athen wurde sogar festliche Spiele und Opfer zu seinem Gedächtnis eingerichtet.

Indes schon von Augustus berichtet Sueton:

„Obwohl er wußte, daß selbst Prokonsuln (Statthaltern) Tempel geweiht wurden, nahm er doch in keiner Provinz diese Ehrung an, wenn der Tempel nicht ihm und der Roma gemeinschaftlich geweiht wurde. In Rom selbst wies er diese Ehre stets entschieden zurück.“ (Kapitel 52)

Augustus war noch sehr bescheiden. Der dritte Kaiser der julischen Dynastie, Gajus, mit dem Spitznamen Caligula (Stiefelchen), ließ sich schon bei Lebzeiten in Rom selbst nicht bloß als Halbgott, sondern gleich als ganzer Gott verehren und fühlte sich selbst als solcher.

„Gleichwie diejenigen,“ sagte er einst, „die Schafe und Ochsen zu hüten haben, weder Schafe noch Ochsen sind, sondern eine höhere Natur besitzen, so sind auch jene, die als Herrscher über die Menschen gesetzt sind, nicht Menschen wie die anderen, sondern Götter.“

Es ist in Wirklichkeit die Schafsnatur der Menschen, welche die Göttlichkeit ihrer Herrscher produziert. Diese Schafsnatur war aber in der Kaiserzeit ungemein stark entwickelt. Und so wurde die göttliche Verehrung der Kaiser und ihrer Günstlinge ebenso ernst genommen, wie heute manche Leute die Spende eines Stückchens Band ins Knopfloch ernst nehmen und ihm wunderbare Wirkungen zuschreiben. Natürlich lief bei dieser Gottesverehrung eine ungeheure Portion Servilität mit unter – in diesem Punkte ist ja die Kaiserzeit bis heute nicht übertroffen, was etwas besagen will. Aber neben der Servilität spielte auch die Leichtgläubigkeit eine große Rolle.


b. Die Leichtgläubigkeit

Die Leichtgläubigkeit war ebenfalls ein Kind der neuen Verhältnisse.

Von seinen Anfängen an ist der Mensch auf das dringendste darauf angewiesen, die Natur genau zu beobachten, sich über keine ihrer Erscheinungen zu täuschen und eine Reihe von Zusammenhängen zwischen Ursache und Wirkung gen au zu erfassen. Darauf beruht ja seine ganze Existenz. Wo ihm das nicht gelingt, ist er nur zu leicht verloren.

Sein ganzes Handeln hat seine Grundlage in der Erfahrung, daß bestimmte Ursachen auch bestimmte Wirkungen hervorrufen, daß der geworfene Stein, mit dem er einen Vogel trifft, diesen tötet, daß das Fleisch dieses Vogels seinen Hunger stillt, daß zwei aneinander geriebene Hölzer Feuer erzeugen, daß Feuer wärmt, aber auch Holz verzehrt usw.

Nach seinem eigenen, durch solche Erfahrungen bestimmten Handeln beurteilt er dann die anderen Vorgänge in der Natur, soweit sie unpersönlicher Natur sind. Er sieht in ihnen auch die Wirkungen des Handelns einzelner Persönlichkeiten, die mit übermenschlichen Kräften begabt sind, der Gottheiten. Diese spielen aber zunächst nicht die Rolle von Wundertätern, sondern von Verursachern des gewöhnlichen, natürlichen Laufes der Dinge, des Wehens des Windes, des Wogenganges des Meeres, der zerstörenden Gewalt des Blitzes, aber auch mancher Einfälle der Menschen, kluger wie dummer. Die Götter verblenden bekanntlich jene, die sie verderben wollen. Die Bewirkung solcher Vorgänge bleibt a1ich die Hauptfunktion der Götter in der naiven Naturreligion.

Der Reiz dieser Religion beruht in ihrer Natürlichkeit, in ihrer scharfen Beobachtung der Dinge und Menschen, die heute noch zum Beispiel die Homerischen Gedichte zu einem unübertrefflichen Kunstwerk macht.

Diese scharfe Beobachtung und das stete Forschen nach dem Warum, nach den Ursachen der Vorgänge in der Welt wurde verfeinert, als die Städte sich bildeten und in den Städten die Naturphilosophie, wie wir gesehen haben. Die städtischen Beobachter vermochten nun unpersönliche Vorgänge in der Natur zu entdecken, so einfacher Art, aber auch so strenger Regelmäßigkeit, daß sie leicht als notwendige erkannt werden konnten, außerhalb des Bereichs jener Willkür, die mit dem Begriff persönlicher Gottheiten verbunden ist. Vor allem waren es die Bewegungen der Gestirne, die den Begriff der Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit erstehen ließen. Mit der Astronomie beginnt die Naturwissenschaft. Diese Begriffe werden dann auf die ganze Natur übertragen, überall beginnt man nach notwendigen, gesetzmäßigen Zusammen hängen zu forschen. Die regelmäßig wiederkehrende Erfahrung ist dabei die Grundlage, von der man ausgeht.

Das wird anders, wenn aus den schon ausgeführten Gründen das Interesse an der wissenschaftlichen Erforschung der Natur zurücktritt und durch das ethische Interesse ersetzt wird. Den menschlichen Geist beschäftigen nein nicht mehr so einfache Bewegungen, wie etwa die Bahnen der Sterne, von denen er ausgehen kann; er hat ausschließlich mit sich selbst zu tun, mit der kompliziertesten, wandelbarsten, am schwersten faßbaren, am längsten aller gesetzmäßigen Erkenntnis widerstrebenden Erscheinung. Und dabei gilt es in der Ethik nicht mehr die Erkenntnis dessen, was ist und war, was in der Erfahrung, und meist regelmäßig wiederholter Erfahrung abgeschlossen vorliegt, sondern es gilt das Wollen und Sollen für die Zukunft, die noch ganz unerfahren, also anscheinend in völliger Freiheit vor uns liegt. Hier hat das Wünschen und Träumen freiesten Spielraum, da kann die Phantasie ungezügelt walten und sich über alle Schranken der Erfahrung und der Kritik erheben. Mit Recht bemerkt Lecky in seiner Geschichte des Geistes der Aufklärung:

„Die Philosophie Platos vermehrte den Glauben (an Zauberei) durch Erweiterung der Sphäre des Geistigen, und wir finden, daß jede Epoche vor oder nach der christlichen Zeitrechnung, in welcher diese Philosophie galt, auch eine stärkere Neigung zur Magie zeigte.“ (Deutsche Ausgabe, 1874, S. 19)

Gleichzeitig beraubt das Leben in der Großstadt deren Bevölkerung, die jetzt geistig die führende geworden ist, des Zusammenhanges mit der Natur, enthebt sie der Notwendigkeit und der Möglichkeit, die Natur zu beobachten und zu begreifen. Für sie gerät jetzt der Begriff des Natürlichen und des Möglichen ins Schwanken, sie verliert den Maßstab für die Absurdität des Unmöglichen und Unnatürlichen oder Übernatürlichen.

.Je ohnmächtiger sich aber das Individuum fühlt, je angstvoller es nach einem festen Halt in einer über das gewöhnliche Maß hinausragenden Persönlichkeit sucht, und je verzweifelter die Verhältnisse, je mehr nur ein Wunder aus ihnen erretten kann, desto leichter wird es geneigt sein, der Persönlichkeit, an die es sich als Retter, als Erlöser anklammert, auch die Verrichtung von Wundern zuzutrauen, ja es wird förmlich danach verlangen, als Prüfstein dafür, daß der Erlöser auch wirklich die Macht besitzt, es zu erretten.

Dabei können leicht Anknüpfungen an Göttersagen der Vorzeit vorkommen, Motive aus solchen werden gern in die neuen Mythen aufgenommen. Aber diese haben einen ganz anderen Charakter als jene. Den alten Göttern wurden übermenschliche Kräfte beigelegt, um sehr genau und richtig beobachtete wirkliche Vorgänge zu erklären. Jetzt wurden Menschen übermenschliche Kräfte beigelegt, um sie Vorgänge bewirken lassen zu können, die nie jemand beobachtet hatte, die ganz unmöglich waren. Solche wunderbare Vorgänge mochte eine übermächtige Phantasie auch schon in der Vorzeit hin und wieder aus den alten Göttersagen entwickelt haben; deren Ausgangspunkt bilden sie nicht. Für den neuen Mythus ist das Wunder der Ausgangspunkt.

Einer der Punkte, in denen alte und neue Sage sich am ehesten berührten, war die der Erzeugung ihres Helden durch einen Gott. In der Vorzeit liebten es die Menschen, den Glanz ihrer Ahnen möglichst zu erhöhen, den Mann, von dem sie ihr Geschlecht ableiteten, recht großartig erscheinen zu lassen, als einen Übermenschen, einen Halbgott. Die Krach dazu konnte er natürlich, nach der damaligen Anschauungsweise, die hinter allem einen Gott suchte, nur von einem solchen erhalten haben. Und da diese Götter bei aller Übermenschlichkeit sehr menschlich gedacht wurden, mit sehr menschlichen Empfindungen, lag es nahe, anzunehmen, die Mutter des Stammvaters habe einem Gott ein zärtliches Verlangen eingeflößt und die Frucht davon sei der wackere Held.

In derselben Weise ließ nun die neue Sage die Erlöser der Welt ebenfalls von sterblichen Müttern, aber göttlichen Vätern abstammen. So erzählt zum Beispiel Sueton:

„Ich lese in dem Buche des Asklepiades aus Mendes über die Gottheiten, daß Atia, des Augustus Mutter sich einmal um Mitternacht zu einem feierlichen Apollodienst begeben habe und im Tempel in ihrer Sänfte eingeschlafen sei, während sie wartete, bis die übrigen Frauen kämen. Da sei plötzlich eine Schlange zu ihr hereingeschlüpft und habe sie bald wieder verlassen; sie selbst habe dann beim Erwachen das Gefühl gehabt, als habe ihr Mann sie begattet und daher sich gereinigt. Sofort zeigte sich da auf ihrem Körper ein Flecken, der eine Schlange darstellte und nicht wegzubringen war, so daß sie fortan von den öffentlichen Bädern stets fortgeblieben sei. Im zehnten Monat sei dann Augustus auf die Welt gekommen und darum für einen Sohn Apollos angesehen worden.“ (Octavius, Kapitel 94)

Ein Liebesabenteuer mit einem Gott scheint damals unter den römischen Damen für etwas ebenso Mögliches wie Auszeichnendes gegolten zu haben. Josephus erzählt uns darüber ein nettes Geschichtchen. In Rom lebte zur Zeit des Tiberius eine Dame namens Paulina, deren Schönheit ebenso groß war wie ihre Keuschheit. Ein reicher Ritter, Decius Mundus, verliebte sich sterblich in sie, bot ihr 200.000 Drachmen für eine einzige Nacht an, wurde aber abgewiesen. Eine freigelassene Sklavin wußte jedoch Rat. Sie hatte erfahren, daß die schöne Paulina eine eifrige Verehrerin der Göttin Isis sei, und baute darauf ihren Plan. Mit 40.000 Drachmen bestach sie die Priester der Göttin, so daß diese der Paulina die Mitteilung zukommen ließen, der Gott Anubis verlange nach ihr.

„Die Frau freute sich darüber und rühmte sich dessen bei ihren Freundinnen, daß ihr der Anubis so große Ehre antäte. Sie sagte auch ihrem Manne davon, daß sie von Anubis zum Abendmahl und zum Beischlaf eingeladen sei. Dieser willigte gern darein, wen er die Keuschheit seiner Frau kannte. Sie kam darauf in den Tempel, und nachdem sie zu Nacht gegessen hatte und die Schlafenszeit gekommen war, löschte der Priester alle Lichter aus und verschloß die Tür. Mundus, der zuvor in dem Tempel verborgen worden war, kam nun zu ihr und ließ sich nicht bitten. Sie war ihm die ganze Nacht zu Willen, wen sie meinte, er sei der Gott. Nachdem er nun seiner Lust gefrönt, ging er am Morgen fort, ehe die Priester in den Tempel kamen, und Paulina begab sich zu ihrem Mann, erzählte ihm, daß der Gott Anubis bei ihr gewesen und rühmte sich dessen bei ihren Bekannten.“

Der edle Ritter Decius Mundus trieb aber die Unverschämtheit so weit, seine Dame einige Tage danach auf der Straße zu verhöhnen, daß sie sich ihm umsonst hingegeben habe. Darob natürlich große Wut der aus allen Himmeln gefallenen Gottesverehrerin, die spornstreichs zu Tiberius lief und durchsetzte, daß die Isispriester gekreuzigt, ihr Tempel zerstört, Mundus ausgewiesen wurde. [3]

Dieses Histörchen erhält einen besonders pikanten Beigeschmack dadurch, daß es unmittelbar auf den Passus folgt, den wir schon eingangs erwähnt, in dem das Lob des Wundermannes Christus in begeisterten Tönen gesungen wird. Diese Aufeinanderfolge hat schon früh fromme Kommentatoren beschäftigt, sie haben die Abenteuer der Madame Paulina in Verbindung mit Christus gebracht und darin einen versteckten Hohn des bösartigen Juden Josephus über die Jungfräulichkeit der heiligen Maria und die Gutgläubigkeit ihres Verlobten Joseph gesehen, einen Hohn, der sich freilich mit der unmittelbar vorhergehenden Anerkennung der Wundertaten Christi schlecht reimen würde. Da aber in Wirklichkeit Josephus von den Wundertaten Christi keine Ahnung hatte und der diese bezeugende Passus eine spätere christliche Einschiebung ist, wie wir schon wissen, ist die Verhöhnung der heiligen Jungfrau und ihres in sein Schicksal ergebenen Bräutigams eine sehr unbeabsichtigte. Sie beweist nur die Geistlosigkeit des christlichen Fälschers, der gerade diese Stelle für die passendste hielt, um das Zeugnis für den Sohn Gottes unterzubringen.

Ein Sohn Gottes zu sein, das gehörte damals zum Beruf eines Erlösers, mochte er ein Cäsar sein oder ein Straßenprediger. Nicht minder gehörte es aber dazu, Wunder zu wirken, die wieder hier wie dort nach der gleichen Schablone erfunden wurden.

Sogar der durchaus nicht überschwengliche Tacitus berichtet (Historien, IV, Kapitel 81) von Vespasian, er habe in Alexandrien viele Wunder gewirkt, durch die das Wohn wollen des Hinnnels für den Kaiser bewiesen wurde. So habe er einem Blinden die Augen mit Speichel befeuchtet und ihn dadurch sehend gemacht. Ebenso sei er einem an der Hand Gelähmten auf das kranke Glied getreten und habe es dadurch geheilt.

Von den heidnischen Kaisern ging die Kraft, solche Wunder zu wirken, später auf die christlichen Monarchen über. Die Könige von Frankreich besaßen die merkwürdige Gabe, bei ihrer Krönung Skrofeln und Kropf durch Berührung zu heilen. Noch 1825 bei der Krönung des letzten Bourbonen auf dem französischen Thron, Karl X., wurde dies Wunder programmgemäß produziert.

Ähnliche Heilungen werden bekanntlich von Jesus des öfteren erzählt. Der fromme Merivale [4] nimmt an, das Wunder Vespasians sei nach christlichem Muster gemacht worden – eine Ansicht, die nicht sehr wahrscheinlich ist, wenn man erwägt, wie unbedeutend und unbekannt das Christentum zu Vespasians Zeit war. Bruno Bauer andererseits erklärt in seinem Buch über Christus und die Cäsaren:

„Ich werde die heutigen Gottesgelehrten mit dem Satze erfreuen, daß der späte Verfasser des vierten Evangeliums und der demselben nachfolgende Überarbeiter des in der Markusschrift enthaltenen Urevangeliums der Schrift des Tacitus die Anwendung des Speichels bei den Wunderheilungen Christi entlehnt haben.“ (Joh. 9, 6; Mark. 7, 33; 8, 33)

Unseres Erachtens ist auch diese Entlehnung nicht notwendig anzunehmen. Jedes Zeitalter, das an Wunder glaubt, hat auch seine eigentümlichen Vorstellungen darüber, wie sie vor sich gehen. Wie man zur Zeit des ausgehenden Mittelalters allgemein annahm, ein Pakt mit dem Teufel müsse mit warmem Blut unterzeichnet werden, so daß zwei Schriftsteller diesen Zug in gleicher Weise in ihren Erzählungen anbringen können, ohne daß einer den anderen benutzt hat, so kann auch zur Zeit Vespasians und später der Speichel als ein gewöhnliches Mittel bei wunderbaren Heilungen gegolten haben, so daß es ebenso für den nüchternen Berichterstatter des weltlichen Erlösers auf dem Cäsarenthron wie für den schwärmerischen Berichterstatter des Erlösers auf dem Throne des tausendjährigen Reiches nahe lag, der Persönlichkeit, die zu verherrlichen war, eine solche Heilung zuzuschreiben, ohne daß einer der Autoren den anderen benutzen mußte. Und sicher hat Tacitus diesen Zug nicht erfunden, sondern die Legende schon im Schwange vorgefunden.

Indes nicht bloß die Cäsaren wirkten damals Wunder, sondern auch eine große Zahl ihrer Zeitgenossen. Wundererzählungen waren damals etwas so Gewöhnliches, daß sie schließlich gar nicht einmal besonderes Aufsehen erregten. So lassen auch die Evangelienerzähler die Wunder und Zeichen Jesu durchaus nicht jene tiefe Wirkung erzielen, die sie nach unserem Empfinden hervorbringen mußten. Die wunderbare Speisung der Fünftausend läßt zum Beispiel sogar die Jünger Jesu noch kleingläubig. Andererseits wirken neben Jesus auch seine Apostel und Jünger zahlreiche Wunder. Ja, so leichtgläubig waren damals die Menschen, daß es zum Beispiel den Christen gar nicht einfiel, Wunder zu bezweifeln, die von Leuten ausgingen, welche sie für Schurken hielten. Sie halfen sich einfach damit, solche Wunder der Kraft der Teufel und bösen Geister zuzuschreiben.

Wunder waren damals wohlfeil wie Brombeeren, jeder Stifter einer religiösen Sekte oder philosophischen Schule wirkte solche um sich dadurch zu legitimieren. Da haben wir zum Beispiel den Neupythagoreer Apollonius von Tyana, einen Zeitgenossen Neros.

Natürlich ist schon seine Geburt wunderbar. Als seine Mutter schwanger ging, erschien ihr der Gott Proteus, der Weise, von niemand zu Fassende, sie aber fragte ihn ohne Furcht, was sie gebären würde. Da erwiderte er: „Mich.“ [5] Der junge Apollonius wächst dann heran, ein Wunder an Weisheit, und predigt ein reines, sittliches Leben, verteilt sein Vermögen unter seine Freunde und arme Verwandte und zieht als Bettelphilosoph in der Welt umher. Noch mehr aber wie durch seilte Bedürfnislosigkeit und Sittlichkeit imponiert er durch seine Wunder. Diese sehen oft den christlichen auffallend ähnlich. So wird von ihm zum Beispiel aus der Zeit seines Aufenthaltes in Rom erzählt:

„Eine Jungfrau war am Tage ihrer Hochzeit gestorben, wenigstens hielt man sie für tot. Der Bräutigam folgte jammernd ihrer Bahre und Rom trauerte mit ihm, denn das Mädchen gehörte einem sehr vornehmen Hause an. Als nun Apollonius dem Trauerzug begegnete, sagte er: ‚Setzet die Bahre nieder, ich will eure Tränen über das Mädchen stillen.‘ Da er nach ihrem Namen frug, glaubte aber die Menge, er wolle eine der üblichen Klagereden halten. Er jedoch berührte die Tote, sprach einige unverständliche Worte und erweckte sie aus ihrem Scheintode. Sie aber erhob ihre Stimme und kehrte in ihr Vaterhaus zurück.“ [6]

Apollonius trotzt nach der Legende dann kühn den Tyrannen, einem Nero und einem Domitian, wird von diesem gefangen gesetzt, weiß mühelos seine Fesseln abzustreifen, flieht aber doch nicht, sondern wartet den Gerichtstag im Gefängnis ab, hält vor Gericht eine lange Verteidigungsrede, verschwindet dann, ehe das Urteil gesprochen, auf geheimnisvolle Weise aus dem Gerichtssaal in Rom und taucht einige Stunden später in Dikäarchia bei Neapel auf, wohin ihn die Götter mit Schnellzugseile versetzten.

Besonders entwickelt zeigte sich bei ihm die Gabe der Prophezeiung, die damals zum Erlösergeschäft unerläßlich war, und die Fernseherei. Als Domitian in seinem Palast zu Rom ermordet wurde, sah Apollonius zu Ephesus den Vorgang so genau, als wäre er dabei gewesen, und teilte ihn sofort den Ephesern mit. Eine drahtlose Telegraphie, gegen welche die Marconis die reine Stümperei ist.

Er endete in der Weise, daß er in einem Tempel verschwand, dessen Tore vor ihm von selbst aufflogen und sich hinter ihm wieder schlossen.

„Von innen aber habe man den Gesang von Jungfrauen vernommen, der, gleichsam als lüden sie ihn zur Auffahrt in den Himmel ein, klang: Komm aus dem Erdendunkel, komm in das Himmelslicht, komm.“ [7]

Sein Leib wurde aber nicht mehr gefunden. Also auch dieser Erlöser war offenbar in den Himmel aufgefahren.

Zwischen den Anhängern des Christusglaubens und denen des Apollonius entsprang bald ein lebhafter Konkurrenzkampf in Wundern. Unter Diokletian schrieb einer seiner Statthalter, Hierokles, ein Buch gegen die Christen, in dem er hervorhob, die Wunder Christi seien nichts im Vergleich zu denen des Apollonius und überdies weniger sicher bezeugt. Daraufhin erwiderte Eusebius von Cäsarea in einer Gegenschrift, in der er nicht den geringsten Zweifel an der Wirklichkeit der Wunder des Apollonius äußerte, sondern sie nur dadurch herabzusetzen suchte, daß er sie nicht als Gottestaten, sondern als Zauberei, als ein Werk finsterer Dämonen bezeichnete.

Also selbst wo man gezwungen war, Kritik an den Wundern zu üben, verfiel man nicht darauf, sie zu bezweifeln.

Und diese Leichtgläubigkeit stieg in dem Maße, in dem die Gesellschaft verkam, der forschende naturwissenschaftliche Geist zurückging und durch das Sittenpredigen überwuchert wurde. Mit der Leichtgläubigkeit wuchs aber auch die Wundersucht. Jede Sensation hört ja auf zu wirken, wenn sie zu oft wiederholt wird. Immer stärkere Mittel muß man schließlich aufwenden, um Eindruck zu erzielen. Wir haben schon im ersten Kapitel gesehen, wie man das bei den Evangelien deutlich verfolgen kann an dem Beispiel der Totenerweckungen, die beim ältesten Evangelium noch einfacher sind als bei den späteren.

Das jüngste Evangelium, das des Johannes, fügt zu den alten Wundern, die von den früheren Evangelien berichtet werden, noch die wunderbare Weinfabrikation bei der Hochzeit zu Kana hinzu; ein Kranker, den Jesus heilt, muß bei Johannes gleich 38 Jahre lang krank gewesen, ein Blinder, den er sehend macht, blind geboren sein; also überall sind die Wunder auf die Spitze getrieben.

Im 2. Buch Moses, 17, 1 bis 6, war erzählt worden, daß Moses in der Wüste aus einem Felsen Wasser schlug, die durstigen Israeliten zu tränken. Das war in der christlichen Zeit nicht mehr wunderbar genug. Aus dem ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther, 10, 4, erfahren wir, daß der Fels, aus dem die Juden Wasser erhielten, mit ihnen die Wanderschaft durch die Wüste mitgemacht habe, damit es ihnen nie an Wasser fehle – eine nomadische Felsenquelle.

Besonders läppisch sind die Wunder, die in den sogenanten Taten des Apostels Petrus vorkommen. In einem Wunderwettkampf mit dem Magier Simon macht der Apostel einen gesalzenen Hering lebendig.

Andererseits wurden für die Menschen jener Zeit auch ganz natürliche Vorkommnisse zu Wundern, zu Zeichen des willkürlichen Eingreifens Gottes in den Weltlauf, nicht nur Genesungen und Sterbefälle, Siege und Niederlagen, sondern. auch höchst gewöhnliche Amüsements, wie Wetten. „Als in Gaza bei einem Pferderennen, bei dem die Pferde eines eifrigen Christen und eines eifrigen Heiden liefen, ‚Christus den Marnas schlug‘, ließen viele Heiden sich taufen.“ [8]

Nicht immer war das als Wunder betrachtete uatürliche Ereignis so eindeutig wie in diesem Falle.

„Im Quadenkriege Marc Aurels sah sich 173 bis 174 das römische Heer einmal in glühender Sonnenhitze schmachtend von einer überlegenen Menge der Feinde eingeschlossen, mit der augenscheinlichsten Gefahr gänzlicher Vernichtung bedroht. Da zogen sich plötzlich dichte Wolken zusammen und ergossen sich in einem reichlichen Regenstrom, während auf der feindlichen Seite ein furchtbares Gewitter Verwirrung und Verderben anrichtete; die Römer waren gerettet, der Sieg wandte sich auf ihre Seite. Die Wirkung dieses Ereignisses war eine überwältigende, es wurde nach damaliger Sitte in bildlichen Darstellungen verewigt, allgemein galt es für ein Wunder, dessen man noch bis ins späteste Altertum gedachte und auf das sich noch nach Jahrhunderten sowohl Christen wie Heiden als einen Beweis für die Wahrheit ihres Glaubens beriefen ... Dem Gebet des Kaisers zu Jupiter wurde, wie es scheint, von den meisten die wunderbare Errettung zugeschrieben; doch behaupteten andere, daß sie der Kunst eines in seinem Gefolge befindlichen ägyptischen Zauberers Arnuphis zu verdanken gewesen sei, der durch eine Beschwörung der Götter, namentlich des Hermes, den Regenguß herabgezogen habe. Aber nach der Erzählung eines christlichen Zeitgenossen war das Wunder durch die Gebete christlicher Soldaten in der zwölften (melitenischen) Legion bewirkt worden. Dasselbe erzählt als ein bekanntes Ereignis Tertullian, der sich dabei auf einen Brief Marc Aurels beruft.“ [9]

Dieser Brief wird freilich nur eine Fälschung gewesen sein. An Fälschungen war jene Zeit ebenso reich wie an Wundern. Das Wunderbedürfnis und die Leichtgläubigkeit provozierten förmlich die Fälschungen.

Immer größere Dimensionen nahmen Wundersucht und Leichtgläubigkeit an, bis endlich in der Zeit des höchsten Verfalls, im vierten und fünften Jahrhundert, die Mönche Wunder wirkten, gegen welche die Wunder Jesu, die uns die Evangelien erzählen, sehr in den Schatten treten.

„Ein gläubiges Zeitalter ließ sich leicht bereden, daß die geringste Laune eines ägyptischen oder syrischen Mönches hingereicht habe, die ewigen Gesetze des Weltalls zu unterbrechen. Die Günstlinge des Himmels pflegten die eingewurzeltsten Krankheiten durch eine Berührung, ein Wort, eine ferne Botschaft zu heilen und die hartnäckigsten Dämonen aus den Seelen oder Leibern der von ihnen Besessenen auszutreiben. Sie näherten sich vertraulich oder geboten herrisch den Löwen und Schlangen der Wüste, flößten Leben einem ausgetrockneten Baumstrunk ein, ließen Eisen auf der Oberfläche des Wassers schwimmen, setzten auf dem Rücken eines Krokodils über den Nil und erfrischten sich in einem feurigen Ofen.“ (Gibbon, a. a. O., 87. Kapitel)

Eine vortreffliche Kennzeichnung des Geisteszustandes der Zeit, in der das Christentum entstand, bietet das Charakterbild, das Schlosser in seiner Weltgeschichte von Plotin, dem berühmtesten neuplatonischen Philosophen aus dem dritten Jahrhundert onserer Zeitrechnung, entwirft.

„Plotinus, der im Jahre 205 zu Lykopolis in Ägypten geboren wurde und 270 in Kampanien starb, war elf Jahre lang ein eifriger Schüler des Ammonius, versenkte sich aber so tief in das Grübeln über die göttliche und menschliche Natur, daß er, durch die ägyptisch-griechische Geheimlehre seines Vorgängers und Lehrers nicht zufriedengestellt, auch nach persischer und indischer Weisheit verlangte und sich an des jüngeren Gordianus Heer anschloß, um mit demselben nach Persien zu gehen ... Plotinus begab sich später nach Rom, wo er die herrschende Neigung zu orientalischer Mystik für seine Zwecke sehr geeignet fand und fünfundzwanzig Jahre lang bis kurz vor seinem Tode die Rolle eines Propheten spielte. Der Kaiser Gallienus und seine Gemahlin huldigten ihm mit so schwärmerischem Eifer, daß sie, wie es heißt, sogar die Absicht hatten, in einer Stadt Italiens einen philosophischen Staat nach Plotins Grundsätzen zu errichten. Ebenso groß war der Beifall, den Plotinus in den angesehensten Familien der römischen Bürgerschaft fand; einige der ersten Männer der Stadt wurden seine eifrigsten Anhänger und nahmen seine Lehre wie eine himmlische Botschaft auf.

„Die geistige und moralische Erschlaffung der römischen Welt und die allgemein herrschende Neigung zur Schwärmerei, zur Mönchsmoral und zum Übernatürlichen und Prophetischen gaben sich durch nichts so deutlich zu erkennen als durch den Eindruck, den Plotinus machte, und durch die Achtung, die seine Lehre gerade deswegen fand, weil sie unverständlich war.

„Die Mittel, deren sich Plotinus und seine Schüler zur Verbreitung der neuen Weisheit bedienten, waren dieselben, durch welche man am Ende des achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich verdorbene Große für Mesmers und Cagliostros mystische Gaukeleien und in Deutschland einen frommen preußischen König für Rosenkreuzer, Geisterbanner und ähnliche Leute gewann. Plotinus betrieb die Zauberkunst, beschied Geister vor sich und ließ sich sogar zu dem bei uns nur von einer verachteten Menschenklasse betriebenen Geschäft herab, auf Befragen seiner Bekannten die Urheber kleiner Diebstähle anzuzeigen.

„Prophetisch waren auch Plotinus’ Schriften abgefaßt; denn nach dem Zeugnis seines berühmtesten Schülers schrieb er seine vermeintlichen Eingebungen nieder, ohne sie nachher nur eines Blickes zu würdigen oder auch nur die Schreibfehler zu verbessern. So waren freilich die Meisterwerke der alten Griechen nicht entstanden! Auch die gewöhnlichen Regeln des Denkens oder das, was wir Methode nennen, fanden sich ebensowenig in den Schriften wie in dem mündlichen Vortrag eines Mannes, welcher von jedem, der zur philosophischen Erkenntnis gelangen wolle, die Entäußerung seiner selbst oder das Heraustreten aus dem natürlichen Zustande des Denkens und Empfindens als erste Bedingung forderte.

„Um von dem Charakter seiner Lehre und von ihrer Wirkung eine Darstellung zu geben, bedarf es nur einiger Bemerkungen über den Inhalt seiner Schriften. Das Leben mit Menschen und unter Menschen wird von ihm stets als sündlich und verkehrt hingestellt, und die echte Weisheit und Seligkeit besteht nach ihm nur in der völligen Trennung von der Sinnenwelt, im Hinbrüten und in einem abgeschlossenen finsteren Versinken in sich selbst und in der Vorstellung vom Höheren ... An diese, jede Tätigkeit untergrabende, allen Erfahrungen und jedem menschlichen Verhältnis hohnsprechende Theorie des Lebens, die noch dazu mit der größten Verachtung gegen jeden Andersdenkenden vorgetragen wird, schließt sich eine rein theoretische, auf überschwenglichen Vorstellungen beruhende Betrachtung der Natur und ihrer Gesetze an. Aristoteles hatte seine Ideen über die Natur auf Erfahrung, Beobachtung und Mathematik gegründet; davon ist aber bei Plotinus keine Spur zu finden. Er hielt sich für einen gotterleuchteten Philosophen, er glaubte daher auch alles aus innerer Eingebung zu wissen und keiner Stufen zu bedürfen, um zur Erkenntnis zu gelangen; seine Fittiche trugen ihn über die Erde und durch alle Himmelsräume hindurch ...

„Plotin hatte drei Schüler, die das, was er in Orakeln vorgetragen hatte, in leidlichen Stil brachten und als die Apostel seiner Lehre weiterverbreiteten. Diese waren Herennius, Amelius und Porphyrius. Alle drei besaßen ausgezeichnetes Talent, und die beiden letzteren nennt Longinus, so wenig er sonst von einer dem Leben und der gesunden Vernunft feindlichen Weisheit wissen wollte, die einzigen Philosophen seiner Zeit, deren Schriften lesbar seien.

„Wie schlimm es aber mit ihrer Wahrheitsliebe aussah, läßt sich am besten aus der von Porphyrius verfaßten Lebensbeschreibung Plotins schließen. Porphyrius erzählt von seinem Herrn und Meister die albernsten Geschichten, und da er viel zu viel Verstand hatte, als daß er selbst diese hätte glauben können, so muß er sie absichtlich und wissentlich erdichtet haben, um Plotins Orakelsprüche in Ansehen zu bringen.“ [10]


c. Lügenhaftigkeit

Die Lügenhaftigkeit, das ist die notwendige Ergänzung der Wundersucht und der Leichtgläubigkeit. Wir haben bisher nur Beispiele vorgebracht, in denen Berichterstatter über Verstorbene Wunderdinge erzählten. Aber es mangelte nicht an Leuten, die von sich selbst die größten Wunderdinge berichteten, wie Apion von Alexandria, der Judenfeind, „die Weltschelle, wie Kaiser Tiberius ihn nannte, voll großer Worte und noch größerer Lügen, von dreistester Allwissenheit und unbedingtem Glauben an sich selbst, wenn nicht der Menschen, doch ihrer Nichtswürdigkeit kundig, ein gefeierter Meister der Rede wie der Volksverführung, schlagfertig, witzig, unverschämt und unbedingt loyal.“ [11]

Loyal – das heißt servil – war diese Sorte meistenteils. Der loyale Lump war frech genug, Homer aus der Unterwelt zu beschwören, um ihn zu befragen, woher er stamme. Er versicherte auch, der Geist des Dichters sei ihm erschienen und habe seine Frage beantwortet, aber – ihn verpflichtet, sie niemand zu verraten!

Noch gröber war der Schwindel, den Alexander von Abonoteichos (geboren um 105, gestorben gegen 175 n. Chr.) trieb, der mit den plumpsten Hilfsmitteln, zum Beispiel abgerichteten Tieren und hohlen Götterbildern, in denen Menschen verborgen waren, seinen Hokuspokus trieb. Der Mann gründete ein Orakel, das gegen eine Gebühr von etwa einer Mark Auskünfte gab. Lucian schätzt den Ertrag dieses Geschäfts auf etwa 60.000 Mark im Jahr.

Selbst auf den „philosophischen“ Kaiser Marc Aurel gewann Alexander durch den Konsular Rutilianus Einfluß. Siebzig Jahre alt starb der Schwindler, reich und geehrt. Eine Statue, die man ihm errichtete, soll nach seinem Tode noch Weissagungen von sich gegeben haben.

Ein wohlinszenierter Schwindel war offenbar auch folgendes:

„Dio Cassius erzählt, daß im Jahre 220 (n. Chr.) ein Geist, der nach seiner eigenen Aussage der Geist Alexander des Großen war, auch dessen wohlbekannte Gestalt, Züge und Kleidung trug, mit einem Gefolge von vierhundert als Bacchanten gekleideten Menschen von der Donau bis zum Bosporus zog, wo er verschwand: keine Behörde wagte ihn aufzuhalten, vielmehr wurde ihm überall auf öffentliche Kosten Nachtlager und Nahrung gegeben.“ [12]

Vor solchen Leistungen müssen sich unsere Helden der vierten Dimension ebenso wie der materiellere Hauptmann von Köpenick verstecken.

Indes nicht bloß Gauner und Taschenspieler beflissen sich bewußter Verlogenheit und Täuschung, sondern auch ernsthafte Denker und Leute, die es ehrlich meinten.

Die Geschichtschreibung des Altertums hat sich nie durch übermäßig strenge Kritik ausgezeichnet. Sie war noch keine Wissenschaft im engeren Sinne des Wortes, diente noch nicht der Erforschung der Entwicklungsgesetze der Gesellschaft, sondern pädagogischen oder politischen Zwecken. Sie wollte den Leser erbauen oder ihm die Richtigkeit der politischen Tendenzen erweisen, denen der Geschichtschreiber huldigte. Die Großtaten der Vorfahren sollten die nachkommenden Geschlechter erheben und zu gleichem Tun anfeuern – darin war das Geschichtswerk nur der prosaische Nachklang des Heldengedichts. Aber die nachkommenden Geschlechter sollten aus den Erfahrungen ihrer Vorfahren auch lernen, was zu tun und was zu lassen sei, Es ist leicht begreiflich, daß da mancher Historiker, namentlich wenn der Zweck der Erbauung und Begeisterung überwog, nicht allzustrenge in der Wahl und Kritik seiner Quellen war, sich auch erlaubte, im Interesse der künstlerischen Wirkung vorhandene Lücken durch seine Phantasie auszufüllen. Namentlich hielt es jeder Geschichtschreiber für sein Recht, die Reden, die er seinen Personen in den Mund legte, frei zu erfinden. Jedoch hielten sich die klassischen Historiker davon fern, das Wirken der Personen, von denen sie handelten, bewußt und absichtlich falsch darzustellen. Sie mußten sich davor um so mehr hüten, als es ein öffentliches, politisches Wirken war, über das sie berichteten, so daß ihre Mitteilungen genau kontrolliert werden konnten.

Als aber die alte Gesellschaft verfiel, änderte sich die Aufgabe der Geschichtschreibung. Die Menschen hörten auf, politische Belehrung zu heischen, denn die Politik wurde ihnen immer gleichgültiger, ja immer widerwärtiger. Sie verlangten auch nicht mehr nach Beispielen von Mannesmut und Hingebung an das Vaterland, wohl aber nach Zerstreuung, nach neuem Kitzel für ihre abgestumpften Nerven, nach Klatsch und Sensationen, nach Wundertaten. Da kam es auf ein bißchen mehr oder weniger Genauigkeit nicht au. Nun wurde aber auch eine Nachprüfung immer schwerer, denn es waren jetzt private Vorkommnisse, die in den Vordergrund des Interesses traten, Vorkommnisse, die sich nicht in der breiten Öffentlichkeit abgespielt hatten. Die Geschichtschreibung löste sich immer mehr auf einerseits in eine Skandalchronik und andererseits in Münchhausiaden.

In der griechischen Literatur zeigt sich diese neue Richtung der Geschichtschreibung seit Alexander dem Großen, über dessen Taten sein Höfling Onesikritos ein Buch schrieb, das von Lügen und Übertreibungen wimmelt. Von der Lüge zur Fälschung ist aber nur ein Schritt. Ihn tat Euemeros, der im dritten Jahrhundert aus Indien Inschriften mitbrachte, die angeblich uralt waren, die indes der Biedermann selbst fabriziert hatte.

Aber diese famose Methode blieb nicht auf die Geschichtschreibung beschränkt. Wir haben gesehen, wie in der Philosophie das Interesse an dieser Welt immer mehr erlosch und das am Jenseits immer stärker wurde. Wie sollte aber ein Philosoph seinen Schülern die Überzeugung beibringen, daß die eigenen Anschauungen vom Jenseits mehr seien als bloße Phantasien? Das einfachste Mittel dazu bestand offenbar darin, einen Zeugen zu erfinden, der aus dem Lande kam, aus dess’ Bezirk kein Wanderer wiederkehrt, und über dessen Einrichtung berichtete. Diesen Kunstgriff hat selbst ein Plato nicht verschmäht, wie uns jener famose Pamphylier zeigte, von dem wir schon berichtet haben.

Dazu kam noch, daß mit dem Abnehmen des Interesses an den Naturwissenschaften und ihrer Verdrängung durch die Ethik auch der kritische Geist schwand, der die Richtigkeit jedes Satzes an der tatsächlichen Erfahrung zu prüfen suchte, und daß die Haltlosigkeit der einzelnen zunahm, ihr Bedürfnis wuchs, an einem großen Manne eine Stütze zu finden. Nicht tatsächliche Beweise, sondern Autoritäten wurden nun für die Menschen entscheidend, und wer auf sie Eindruck machen wollte, mußte trachten, die nötigen Autoritäten auf seiner Seite zu haben. Versagten sie, nun, dann hieß es, corriger la fortune, dem Glücke nachhelfen und sich die Autoritäten selbst fabrizieren. Derartige Autoritäten haben wir schon eingangs kennen gelernt in Daniel und Pythagoras. Jesus gehörte auch dazu, ebenso seine Apostel, Moses, die Sibyllen usw.

Nicht immer machte man sich die Mühe, unter falschem Namen gleich ein ganzes Buch zu schreiben. Es genügte oft, in das echte Werk einer anerkannten Autorität einen Satz einzuschieben, der den eigenen Tendenzen entsprach, und so diese Autorität für sich zu gewinnen. Das war um so leichter möglich, als ja der Buchdruck noch nicht erfunden war. Die Bücher zirkulierten nur in Abschriften, die man entweder selbst anfertigte oder von einem Sklaven anfertigen ließ, wenn man so reich war, sich einen dazu geeigneten halten zu können. Es gab auch Unternehmer, die Sklaven damit beschäftigten, Bücher abzuschreiben, die dann mit großem Profit verkauft wurden. Wie leicht war es nun, bei einer derartigen Abschrift zu fälschen, einen Satz auszulassen, der einem nicht paßte, oder einen einzufügen, den man brauchte, namentlich wenn der Autor schon tot war, so daß ein Protest dagegen in jener liederlichen und leichtgläubigen Zeit nicht zu erwarten war. Weitere Abschreiber sorgten dann dafür, daß die Fälschung der Nachwelt erhalten blieb.

Am bequemsten hatten es in dieser Beziehung die Christen. Wer immer die ersten Lehrer und Organisatoren christlicher Gemeinden gewesen sein mochten, sicher entstammten sie den untersten Volksschichten, waren sie des Schreibens nicht kundig und hinterließen sie keine schriftlichen Aufzeichnungen. Ihre Lehren wurden anfangs nur mündlich weiterverbreitet. Wer sich unter ihren Anhängern bei eintretenden Disputen auf die ersten Lehrer der Gemeinde berief, konnte da schwer Lügen gestraft werden, wenn er der Tradition nicht gar zu grob ins Gesicht schlug. Bald müssen sich über die Worte „des Herrn“ und seiner Apostel die verschiedensten Versionen gebildet haben. Und angesichts des heißen Kampfes, der von Anfang an innerhalb der christlichen Gemeinden herrschte, wurden diese verschiedenen Versionen von vornherein nicht zu Zwecken objektiver Geschichtschreibung, sondern polemischer Ausschlachtung vorgebracht, später niedergeschrieben und in den Evangelien gesammelt. Polemische Zwecke waren es vor allem, die auch die weiteren Abschreiber und Bearbeiter beseelten und sie veranlaßten, hier einen unbequemen Satz zu streichen und dort einen einzufügen, um dann das Ganze als Beleg dafür anzuführen, daß Christus oder seine Apostel diese oder jene Ansicht verfochten hätten. Diese polemische Tendenz tritt einem bei der Prüfung der Evangelien auf Schritt und Tritt entgegen.

Bald begnügten sich aber die Christen nicht damit, ihre eigenen heiligen Schriften in dieser Weise nach ihren Bedürfnissen zurechtzulügen und zu fälschen. Die Methode war zu bequem, um nicht auch bei anderen, bei „heidnischen“ Autoren zur Nachahmung zu reizen, sobald einmal unter den Christen genug gebildete Elemente vorhanden waren, daß sie auf das Zeugnis hervorragender Autoren außerhalb der christlichen Literatur Wert zu legen begannen, und auch zahlreich genug, daß es sich lohnte, für diese gebildeten Christen eigene gefälschte Abschriften anfertigen zu lassen, die bei ihnen mit Befriedigung aufgenommen und verbreitet wurden. Manche dieser Fälschungen haben sich dann bis heute erhalten.

Wir haben schon eine erwähnt, das Zeugnis des Josephus von Jesus. Der nächste Schriftsteller, der neben Tacitus und als dessen Zeitgenosse von den Christen spricht, ist der jüngere Plinius, der als Proprätor von Bithynien (wahrscheinlich 111 bis 113) einen Brief über sie an Trajan richtete, der in der Sammlung seiner Briefe auf uns gekommen ist (C. Plinii Caecilii Epistolarum libri·decem, X. Buch, 97. Brief). Er fragt darin an, was er mit den Christen seiner Provinz anfangen solle, von denen er nur Gutes erfahre, die aber alle Tempel entvölkerten. Diese Anschauung von der Harmlosigkeit der Christen paßt schlecht zu der Ansicht seines Freundes Tacitus, der ihren „Haß gegen das gesamte Menschengeschlecht“ hervorhebt. Ebenso auffallend ist es, daß unter Trajan das Christentum schon so verbreitet gewesen sein sollte, daß es die Tempel Bithyniens zu entvölkern vermochte, „die schon fast verödet waren, deren Feierlichkeiten lange unterlassen wurden, deren Opfertiere nur selten einen Käufer fanden“. Man sollte annehmen, daß derartige Tatsachen ebensolches Aufsehen erregen mußten, als wenn etwa in Berlin nur sozialdemokratische Stimmen abgegeben würden. Allgemeine Aufregung mußte herrschen. Plinius erfährt aber erst durch eine Denunziation von der Existenz der Christen. Aus diesem und anderen Gründen liegt die Annahme nahe, daß dieser Brief eine christliche Fälschung ist. Semler nahm schon 1788 an, der ganze Brief des Plinius sei von einem späteren Christen zur Verherrlichung des Christentums erfunden worden. Bruno Bauer dagegen meint, der Brief stamme wohl von Plinius, habe aber ursprünglich keineswegs schmeichelhaft für die Christen gelautet und sei daher von einem christlichen Abschreiber später entsprechend „redigiert“ worden.

Noch kecker wurden die Fälschungen, als in der Völkerwanderung die germanischen Barbaren das römische Reich überfluteten. Die neuen Herren der Welt waren einfache Bauern, freilich voll Bauernschlauheit, nüchtern und gerieben genug in allen Dingen, die sie verstanden. Bei aller Einfalt zeigten sie sich weniger wundersüchtig und leichtgläubig, als die Erben der antiken Kultur. Aber Lesen und Schreiben waren ihnen unbekannte Künste. Diese wurden das Privilegium des christlichen Klerus, der nun allein die gebildete Klasse vertrat. Irgend eine Kritik seiner Fälschungen im Interesse der Kirche hatte er nun nicht mehr zu fürchten, so schossen diese jetzt üppiger ins Kraut denn je. Und sie blieben nun nicht mehr, wie bis dahin, auf das Gebiet der Lehre beschränkt, dienten nicht bloß der Ausfechtung theoretischer, taktischer oder organisatorischer Streitigkeiten, sondern wurden eine Quelle des Erwerbes oder juristischer Rechtfertigung einer vollzogenen Aneignung. Die enormsten dieser Fälschungen waren jedenfalls die Schenkung Konstantins und die Isidorschen Dekretalien. Beide wurden im achten Jahrhundert fabriziert. In dem ersteren Dokument überläßt Konstantin (306 bis 337) den Päpsten die unbeschränkte und ewige Oberherrschaft über Rom, Italien und alle Provinzen des Westens. Die Isidorschen Dekretalien sind eine Sammlung von Kirchengesetzen, angeblich von dem spanischen Bischof Isidorus aus dem Anfang des siebenten Jahrhunderts stammend, welche die Alleinherrschaft des Papstes in der Kirche festsetzen.

Dieser Unzahl von Fälschungen haben wir es nicht zum mindesten zuzuschreiben, wenn die Geschichte der Entstehung des Christentums heute noch so sehr im dunkeln liegt. Es ist bei vielen dieser Fälschungen ziemlich leicht, sie zu erkennen; manche sind schon vor Jahrhunderten aufgedeckt worden, so die Unechtheit der Schenkung Konstantins 1440 von Laurentius Valla. Aber nicht ebenso leicht ich es, herauszufinden, ob ein Körnchen Wahrheit in der Fälschung verborgen liegt und es bloßzulegen.

Es ist kein anmutiges Bild, das wir hier zu zeichnen haben. Verfall an allen Ecken und Enden, ökonomischer, politischer, und damit auch wissenschaftlicher und moralischer. Bei den alten Römern und Griechen betrachtete man als Tugend die volle, harmonische Entwicklung der Mannhaftigkeit im besten Sinne des Wortes. Virtus und arete bezeichnen Tapferkeit und Standhaftigkeit, aber auch Mannesstolz, Opfermut und selbstlose Hingabe an das Gemeinwesen. Je mehr jedoch die Gesellschaft in Knechtschaft versank, desto mehr wurde die Knechtseligkeit zur obersten Tugend, aus der und mit der sich alle die schönen Eigenschaften entwickelten, die wir vor uns haben auftauchen sehen, Abwendung vom Gemeinwesen und Beschränkung auf das eigene Ich, Feigheit und Mangel an Selbstvertrauen, Sehnsucht nach der Erlösung durch einen Kaiser oder einen Gott, nicht durch eigene Kraft oder die Kraft der eigenen Klasse; Selbstzerknirschung nach oben, pfäffische Anmaßung nach innen; Blasiertheit und Lebensüberdruß und wieder Sehnsucht nach Sensation, nach Wundern; Überschwenglichkeit und Ekstase ebenso wie Heuchelei, Lüge und Fälschung. Das ist das Bild, welches uns die Kaiserzeit bietet und dessen Züge das Produkt jener Zeit, das Christentum widerspiegelt.


d. Menschlichkeit

Aber, werden die Verfechter des Christentums sagen, diese Darstellung ist einseitig und darum unwahr. Es ist ja richtig, daß die Christen auch nur Menschen waren und sich den degradierenden Einflüssen ihrer Umgebung nicht entziehen konnten. Aber das ist nur die eine Seite des Christentums. Auf der anderen finden wir jedoch, daß es eine Moral entwickelt, die hoch steht über der des Altertums, eine erhabene Menschlichkeit, ein unendliches Erbarmen, die sich über alles erstrecken, das Menschenantlitz trägt, niedrige wie hohe, fremde wie Volksgenossen, Feind wie Freund; daß es die Verbrüderung der Menschen aller Klassen und Rassen predigt. Diese Moral ist nicht aus der Zeit zu erklären, in der das Christentum entstand; sie ist um so bewunderungswürdiger, als sie in einer Epoche des tiefsten sittlichen Verfalls gelehrt wurde; hier versagt der historische Materialismus, hier haben wir eine Erscheinung, die nur durch die Erhabenheit einer völlig außer den Bedingungen von Raum und Zeit stehenden Persönlichkeit, eines Gottmenschen, oder ·um den modernen Jargon zu gebrauchen, eines Übermenschen erklärbar ist.

So unsere „Idealisten“.

Wie stimmen dazu die Tatsachen? Da ist zunächst die Wohltätigkeit gegen Arme und die Humanität gegen Sklaven. Sind diese beiden Erscheinungen wirklich nur dem Christentum eigen? Es ist richtig, daß wir im klassischen Altertum von Wohltätigkeit nicht viel finden. Der Grund davon ist sehr einfach: Die Wohltätigkeit setzt die Armut als Massenerscheinung voraus. Das Gedankenleben des Altertums wurzelte aber in kommunistischen Zuständen, im gemeinsamen Eigentum der Markgenossenschaft, der Gemeinde, der Hausgenossenschaft, die ihren Mitgliedern ein Anrecht an ihren gemeinsamen Produkten und Produktionsmitteln verliehen. Zu Almosen war da selten Gelegenheit.

Man verwechsle nicht Gastfreundschaft mit Wohltätigkeit. Die Gastfreundschaft wurde im Altertum umfassend geübt. Sie stellt aber ein Verhältnis zwischen Gleichen dar, die Wohltätigkeit setzt dagegen soziale Ungleichheit voraus. Die Gastfreundschaft erfreut den Gast wie den Wirt. Wohltätigkeit dagegen erhebt denjenigen, der sie spendet, erniedrigt den, der sie erhält und demütigt ihn.

In einzelnen größeren Städten begann im Fortgang der Entwicklung, wie wir gesehen, sich ein Massenproletariat zu bilden. Aber dieses besaß oder eroberte politische Macht und benutzte sie dazu, um sich auch einen Anteil an den Genußmitteln zu erobern, die den Reichen und dem Staat aus der Sklavenarbeit und der Ausbeutung der Provinzen zuflossen. Dank der Demokratie und ihrer politischen Macht bedurften also auch diese Proletarier nicht der Wohltätigkeit. Diese setzt nicht bloß ein Massenelend, sondern auch die politische Recht- und Machtlosigkeit des Proletariats voraus, Vorbedingungen, die erst zur Kaiserzeit in hohem Maße gegeben waren. Kein Wunder, daß die Idee der Wohltätigkeit erst damals begann, die römische Gesellschaft zu beherrschen. Aber sie entsprang nicht aus einer übernatürlichen höheren Moral des Christentums.

In den Anfängen ihrer Herrschaft hielten es die Cäsaren noch für ratsam, neben der Armee auch das Proletariat der Hauptstadt durch Brot und Spiele zu kaufen. Namentlich Nero leistete Großes auf diesem Gebiet. Auch in manchen Großstädten der Provinzen suchte man die unteren Volksklassen auf derartige Weise ruhig zu halten.

Aber das dauerte nicht lange. Die zunehmende Verarmung der Gesellschaft zwang bald zur Einschränkung der staatlichen Ausgaben, und da fingen die Cäsaren natürlich bei den Proletariern an, die sie jetzt nicht mehr fürchteten. Dabei war wohl auch der Wunsch im Spiele, dem zunehmenden Mangel an Arbeitskräften abzuhelfen. Blieben die Brotspenden aus, dann mußten sich die arbeitsfähigen Proletarier nach Arbeit umsehen, etwa sich als Kolonen Erbpächter, den Großgrundbesitzern verdingen.

Aber gerade das Bedürfnis nach Arbeitskräften ließ nun neue Arten von Unterstützungen Armer erstehen.

In der Kaiserzeit gehen alle alten gesellschaftlichen Organisationen auseinander, nicht bloß die Markgenossenschaften, sondern auch die Hausgenossenschaften und großen Familien. Jeder denkt nur an sein Ich, die verwandtschaftlichen Beziehungen lösen sich ebenso auf wie die politischen, die Opferwilligkeit für die Verwandtschaft erlischt ebenso wie die für Gemeinde und Staat. Darunter hatten verwaiste Kinder besonders zu leiden. Ohne Eltern standen sie jetzt schutzlos in der Welt, sie fanden niemand, der sich ihrer annahm. Die Zahl alleinstehender Kinder wuchs um so mehr, als in der allgemeinen Verarmung und Abnahme der Opferfähigkeit immer mehr Leute danach trachteten, die Lasten einer Familie von sich fernzuhalten. Die einen besorgten das durch Ehelosigkeit, durch die Beschränkung auf die Prostitution, wobei die männliche sehr florierte; andere suchten sich in der Ehe wenigstens der Kindererzeugung zu enthalten. Das eine wie das andere Mittel trug natürlich zur Entvölkerung, zum Mangel an Arbeitskräften, also wieder zur gesellschaftlichen Verarmung mächtig bei. Viele aber, die Kinder bekamen, fanden es für das bequemste, sich ihrer durch Aussetzung zu entledigen. Diese famose Praxis nahm große Dimensionen an. Alle Verbote nutzten nichts. So wurde die Frage einerseits der Versorgung der alleinstehenden Kinder, andererseits aber auch der Versorgung der Kinder armer Leute, die bei den Eltern blieben, eine immer brennendere. Sie beschäftigte auch die ersten Christen sehr. Die Unterstützung der Waisen war ihre stete Sorge. Nicht nur Mitleid, sondern auch das Bedürfnis nach Arbeitskräften und Soldaten trieb dazu, die Aufziehung der Waisen, der Findelkinder und Proletarierkinder sicherzustellen.

Schon zur Zeit des Augustus finden wir Bestrebungen in dieser Richtung, im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung nahmen sie dann praktische Gestalt an. Die Kaiser Nerva und Trajan waren die ersten, die, zunächst in Italien, Stiftungen ins Leben riefen in der Form, daß verschiedene Güter entweder vom Staate angekauft und in Pacht gegeben oder von ihm hypothekarisch belehnt wurden. Der Ertrag der so gewonnenen Pacht- und Hypothekenzinsen sollte zur Aufziehung armer Kinder, namentlich Waisenkinder, verwendet werden. [13]

Hadrian erweiterte gleich bei seiner Thronbesteigung dieses Institut, das unter Trajan für ungefähr 5.000 Kinder berechnet war, spätere Kaiser dehnten es noch weiter aus. Gleichzeitig mit dieser staatlichen Wohltätigkeit erstand aber auch eine kommunale. Die private war ihr voransgegangen. Die älteste private Alimentenstiftung, die wir kennen, stammt schon aus Augustus’ Zeit. Helvius Basila, der die Prätur bekleidet hatte, vermachte den Bürgern von Atina in Latium 88.000 Mark zur Gewährung von Brotkorn an eine leider nicht angegebene Anzahl von Kindern. [14] Zur Zeit Trajans werden dann zahlreiche derartige Stiftungen erwähnt. Eine reiche Dame, Cälia Maerina zu Tanacina, deren Sohn gestorben war, spendete damals eine Million Sesterze (über 200.000 Mark), aus deren Zinsen hundert Knaben und ebenso viele Mädchen unterstützt werden sollten; Plinius der Jüngere rief im Jahre 97 eine Alimentenstiftung in seiner Vaterstadt Comum (jetzt Como) ins Leben, nach welcher die jährlichen Einkünfte eines Landguts im Werte von 500.000 Sesterzen zur Ernährung armer Kinder verwendet werden sollten. Er stiftete Schulen, Bibliotheken usw.

Der Entvölkerung des Reiches entgegenzuwirken, vermochten freilich alle diese Stiftungen nicht. Sie war zu tief in den ökonomischen Verhältnissen begründet und wuchs mit dem ökonomischen Verfall. Die allgemeine Verarmung raubte schließlich die Mittel, die Kinderversorgung fortzuführen, und machte mit dem Staate auch die Alimentenstiftungen.bankrott.

Müller berichtet über deren Entwicklung:

„Ihre Existenz läßt sich fast durch 180 Jahre verfolgen. Hadrian verbesserte die Bezüge der Kinder. Antoninus Pius bewilligte zu diesem Zwecke neue Gelder. Ihm widmeten im Jahre 145 die betreffenden Knaben und Mädchen von Cupramontana, einer Stadt in Picenum, und im Jahre 161 die von Sestinum in Umbrien Dankinschriften. Für Marc Aurels gleiche Tätigkeit zeugt eine ähnliche Widmung aus Ficulea in Latium. In den ersten Jahren dieses Kaisers scheint die Stiftung ihren Höhepunkt erreicht zu haben; von da an ging es bei der traurigen Lage des Reiches bergab. Marc Aurel scheint in seiner steten Kriegsbedrängnis, die ihn sogar dazu führte, die Kronjuwelen, Schmucksachen und sonstigen Kostbarkeiten des kaiserlichen Hauses versteigern zu lassen, dazu geschritten zu sein, die Alimentationskapitalien einzuziehen und die Zahlung der Zinsen auf die Staatskasse zu übernehmen. Diese konnte unter Commodus neun Jahre lang ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, und Pertinax war nicht imstande, die Rückstände zu zahlen, sondern mußte sie niederschlagen. Doch scheint sich die Lage der Stiftung wieder gebessert zu haben. Noch gegen Ende des dritten Jahrhunderts ist ein Beamter derselben nachzuweisen. Dann aber hat sie ihr Ende erreicht. Unter Konstantin existierte sie nicht mehr.“ [15]

Die steigende Armut ließ wohl die Alimentenstiftungen versiegen, nicht aber die Idee der Wohltätigkeit. Diese mußte mit dem wachsenden Elend immer mehr zunehmen. Auf keinen Fall ist diese Idee dem Christentum allein eigen, es teilt sie mit seiner Zeit, der sie nicht durch moralische Erhebung, sondern durch ökonomischen Niedergang aufgedrängt wurde.

Mit dem Sinn für Wohltätigkeit und deren Hochschätzung erstand aber auch eine andere, weniger liebenswürdige Eigentümlichkeit: die des Prahlens mit den Almosen, das man gespendet. Dafür bietet uns schon der eben genannte Plinius ein Beispiel. Von seinen wohltätigen Einrichtungen wissen wir nur durch ihn selbst; er hat sie ausführlich in Schriften beschrieben, die für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Welk wir sehen, wie Plinius mit seinen Gefühlen hausieren geht und welche Bewunderung er für den eigenen Edelmut an den Tag legt, so erscheint uns das nicht als ein Beweis für die sittliche Größe der „goldenen Zeit“ des römischen Kaiserreichs, seiner glücklichsten Zeit, wie Gregorovius in Übereinstimmung mit der Mehrzahl seiner Kollegen sie nennt [16], sondern für die eitle Geckenhaftigkeit jener Periode, eine erbauliche Ergänzung ihres pfäffischen Hochmuts an.d ihrer frommen Heuchelei.

Am schärfsten wird Plinius unseres Wissens von Niebuhr beurteilt, der ihm „kindische Eitelkeit“ und „unredliche Demut“ vorwirft. [17]

Wie mit der Wohltätigkeit, steht es mit der Humanität gegen die Sklaven, die auch eine besondere Eigentümlichkeit des Christentums sein soll.

Vor allem ist da zu bemerken, daß es dem Christentum, wenigstens in der Form, in der es zur Staatsreligion wurde, nicht einfiel, die Sklaverei prinzipiell zu bekämpfen. Es hat auf ihre Aufhebung in keiner Weise hingewirkt. Wenn die Ausbeutung von Sklaven zu Zwecken des Gelderwerbes zur Zeit des Christentums aufhörte, hatte das Gründe, die mit irgendwelchen religiösen Anschauungen nichts zu tun hatten. Wir haben sie schon kennen gelernt. Es war der militärische Rückgang Roms, der die billige Sklavenzufuhr unterband und der Ausbeutung von Sklaven ihren profitablen Charakter nahm. Die Luxussklaverei dagegen erhielt sich noch über das römische Reich hinaus, ja, zur gleichen Zeit wie das Christentum erstand eine neue Sorte Sklaven in der römischen Welt, die Eunuchen, die gerade unter den christlichen Kaisern seit Konstantin eine große Rolle spielen. Wir finden sie aber schon am Hofe des Claudius, des Vaters Neros. (Sueton, Tiberius Claudius Drusus, Kap. 28, 44)

Den freien Proletariern selbst kam nicht der Gedanke, der Sklaverei ein Ende zu machen. Sie suchten ihre Lage zu verbessern durch vermehrte Schröpfung der Reichen und des Staates, ohne daß sie selbst arbeiteten, was nur möglich war auf der Grundlage der Ausbeutung von Sklaven.

Es ist bezeichnend, daß in dem kommunistischen Zukunftsstaat, den Aristophanes in seinen Ekklesiazusen verhöhnt, die Sklaverei fortbesteht. Der Unterschied zwischen Besitzenden und Besitzlosen hört auf, aber nur für die Freien; für sie wird alles Gemeineigentum, auch die Sklaven, die den Fortgang der Produktion besorgen. Das ist freilich nur ein Witz, entspricht aber vollständig dem antiken Denken.

Wir finden einen ähnlichen Gedankengang in einer Flugschrift über die Quellen des attischen Volkswohlstandes aus dem vierten Jahrhundert vor Christo, auf die Pöhlmann in seiner schon mehrfach zitierten Geschichte aufmerksam macht.

Diese Flugschrift verlangt, wie Pöhlmann es ausdrückt, „eine großartige Ausdehnung der Gemeinwirtschaft des Staates für die Zwecke des Verkehrs und der Produktion“. Vor allem den staatlichen Ankauf von Sklaven für den Betrieb der Silberbergwerke. Die Zahl dieser Staatssklaven soll so vermehrt werden, daß schließlich auf jeden Bürger drei Sklaven kommen. Dann könne der Staat jedem seiner Bürger wenigstens das Existenzminimum gewähren. [18]

Herr Professor Pöhlmann meint, dieser famose Vorschlag sei kennzeichnend für den „kollektivistischen Radikalismus“ und „demokratischen Sozialismus“, der alle Produktionsmittel im Interesse des Proletariats verstaatlichen wolle. In Wahrheit kennzeichnet er die Eigenart des antiken Proletariats und sein Interesse an der Erhaltung der Sklaverei – seine Auffassung durch Pöhlmann aber kennzeichnet die Verständnislosigkeit der bürgerlichen Wissenschaft, der jede Verstaatlichung von Eigentum, und sei es Eigentum an Menschen, „Kollektivismus“ ist, jede Maßregel im Interesse des Proletariats „demokratischer Sozialismus“, einerlei, ob dieses Proletariat zu den Ausbeutern oder zu den Ausgebeuteten gehört.

Es entspricht dem Interesse der Proletarier an der Sklaverei, daß wir auch in der revolutionären Praxis der Proletarier Roms nirgends eine prinzipielle Gegnerschaft gegen das Eigentum am Menschen treffen. Dafür finden sich gelegentlich auch die Sklaven bereit, einen Proletarieraufstand niederzuschlagen. Sklaven waren es, die, von Aristokraten geführt, der proletarischen Bewegung des Cajus Gracchus den Todesstoß versetzten. Fünfzig Jahre später schlugen römische Proletarier unter der Führung des Marcus Crassus die von Spartacus geführten aufständischen Sklaven nieder.

Etwas anderes als die allgemeine Aufhebung der Sklaverei, an die niemand ernsthaft dachte, ist die Art der Behandlung der Sklaven. Und da muß man zugestehen, daß eine große Milderung der Anschauungen über das Sklaventum, eine Anerkennung der Menschenrechte des Sklaven im Christentum wohl zutage tritt; und sie steht in schroffem Widerspruch zu der elenden Lage der Sklaven zu Beginn der Kaiserzeit, wo, wie wir gesehen, Leib und Leben des Sklaven jeder Laune seines Herrn preisgegeben war, der oft den grausamsten Gebrauch von seinem Rechte machte.

Zu dieser Art der Behandlung der Sklaven stellte sich das Christentum sicher in entschiedenen Gegensatz. Aber damit ist nicht gesagt, daß es sich in Gegensatz stellte zu dem Geiste seiner Zeit, daß es allein stand mit seinem Eintreten für die Sklaven.

Welche Klasse war es, die die schrankenlose Mißhandlung und Tötung von Sklaven als ihr Recht in Anspruch nahm? Natürlich die der reichen Grundbesitzer, vor allem die Aristokratie.

Aber die Demokratie, das niedere Volk, das selbst keine Sklaven besaß, hatte nicht das gleiche Interesse an dem Rechte der Mißhandlung der Sklaven, wie die großen Sklavenbesitzer. Allerdings, solange der Stand der Kleinbauern, die ja auch Sklaven hielten, oder mindestens die Traditionen dieses Standes im römischen Volke überwogen, fühlte dieses sich nicht gedrängt, für die Sklaven einzutreten.

Aber allmählich bereitete sich ein Umschwung der Anschauungen vor, nicht infolge einer Veredlung der Moral, sondern der Veränderung in der Zusammensetzung des römischen Proletariats. Der freigeborenen Römer und namentlich der Kleinbauern wurden immer weniger in seinen Reihen; dagegen stieg die Zahl der freigelassenen Sklaven, die auch am römischen Bürgerrecht teilnahmen, ganz enorm, so daß diese während der Kaiserzeit die Mehrheit der Bevölkerung Roms ausmachten. Die Gründe der Freilassung waren mannigfache. Manchen, der kinderlos blieb, was damals sehr häufig der Fall war, wo man die Lasten der Ehe und des Nachwuchses immer mehr scheute, trieb Laune oder Gutmütigkeit, testamentarisch die Freilassung seiner Sklaven nach seinem Tode anzuordnen. Mancher ließ auch schon bei seinen Lebzeiten den einen oder anderen Sklaven los, als Belohnung für besondere Verdienste, auch aus Eitelkeit, denn wer viele Sklaven freiließ, kam in den Ruf eines reichen Mannes. Andere wurden freigelassen aus politischer Berechnung, denn der Freigelassene blieb meist abhängig von seinem Herrn, als sein Klient, erhielt aber politische Rechte. Er vermehrte also den politischen Einfluß seines Herrn. Endlich war es den Sklaven gestattet, zu sparen und sich mit der ersparten Summe freizukaufen, und mancher Herr machte ein gutes Geschäft dabei, wenn ein Sklave, nachdem er ihn tüchtig abgerackert hatte, sich um einen Preis loskaufte, der gestattete, einen frischen dafür zu erwerben, dessen Kräfte noch unverbraucht waren.

Je mehr die Zahl der Sklaven in der Bevölkerung zunahm, desto mehr wuchs auch die Zahl der Freigelassenen in ihr. Das freie Proletariat rekrutierte sich nun immer mehr nicht aus Bauern, sondern aus Sklaven. Dasselbe Proletariat stand aber auch in einem politischen Gegensatz zur sklavenhaltenden Aristokratie, der es politische Rechte und politische Macht abtrotzen wollte, die so lockenden ökonomischen Gewinn in Aussicht stellten. Da ist es kein Wunder, wenn sich in der römischen Demokratie eben damals ein Mitgefühl mit den Sklaven zu regen begann, als die Exzesse der Sklavenhalter gegen ihr menschliches Arbeitsvieh den höchsten Grad erreichten.

Dazu gesellte sich noch ein anderer Umstand.

Als die Cäsaren zur Macht kamen, wurde ihr Haushalt, wie der jedes vornehmen Römers, von Sklaven und Freigelassenen verwaltet. Wie tief auch die Römer gesunken sein mochten, ein freigeborener Bürger hätte es unter seiner Würde gehalten, sich zu persönlichen Dienstleistungen selbst bei dem mächtigsten seiner Mitbürger herzugeben. Der Haushalt der Cäsaren wurde aber jetzt zum kaiserlichen Hof, ihre Hausbeamten wurden kaiserliche Hofbeamten. Ein neuer Apparat der Staatsverwaltung bildete sich ans diesen, neben dem aus der Republik überkommenen. und jener war es, der immer mehr die wirklichen Staatsgeschäfte besorgte und den Staat regierte, indes die aus der repnblika|üschen Zeit überkommenen Ämter immer mehr leere Titel wurden, die der Eitelkeit dienten, aber keine wirkliche Macht verliehen.

Die Sklaven und Freigelassenen am kaiserlichen Hof wurden zu Beherrschern der Welt, und dadurch, dank Unterschleifen, Erpressungen und Bestechungen, zu ihren erfolgreichsten Ausbeutern. Sehr gut beschreibt das Friedländer in seiner schon mehrfach erwähnten, vortrefflichen Sittengeschichte des kaiserlichen Rom:

„Die Reichtümer, die ihnen infolge ihrer bevorzugten Stellung zuströmten, waren eine Hauptquelle ihrer Macht. In einer Zeit, wo die Reichtümer der Freigelassenen überhaupt sprichwörtlich waren, konnten sich doch sicherlich die wenigsten mit diesen kaiserlichen Dienern messen. Narcissus besaß 400 Millionen Sesterze (87 Millionen Mark), das größte aus dem Altertum überhaupt bekannte Vermögen; Pallas 300 Millionen (65¼ Millionen Mark). Callistus, Epaphroditus, Doryphorus und andere kaum minder kolossale Schätze. Als der Kaiser Claudins einst über Ebbe im kaiserlichen Schatze klagte, hieß es in Rom, er werde im Überfluß haben, wenn er von seinen beiden Freigelassenen (Narcissus und Pallas) in ihre Genossenschaft aufgenommen werde.“

In der Tat bildete es eine Einnahmequelle manchen Kaisers, daß er reiche Sklaven und Freigelassene zwang, den Ertrag ihrer Betrügereien und Erpressungen mit ihm zu teilen.

„Im Besitz so enormer Reichtümer überboten die kaiserlichen Freigelassenen die Großen Roms in Üppigkeit und Pracht. Ihre Paläste waren die prächtigsten Roms, der des Eunuchen (des Claudius) Posides überglänzte nach Juvenal das Kapitol, und das Seltenste und Kostbarste, was die Erde bot, schmückte sie in verschwenderischer Fülle ... Die kaiserlichen Freigelassenen schmückten aber auch Rom und andere Städte der Monarchie mit prachtvollen und gemeinnützigen Bauen. Cleander, der mächtige Freigelassene des Commodus, verwandte einen Teil seines ungeheuren Vermögens zur Erbauung von Häusern, Bädern,und anderen, sowohl einzelnen als ganzen Städten nützlichen Anstaltem.“

Dieser Aufstieg der vielen Sklaven und freigelassenen Sklaven erschien um so auffallender, wenn man ihn verglich mit dem gleichzeitigen finanziellen Niedergang der alten grundbesitzenden Aristokratie. Er bot ein ähnliches Schauspiel, wie heute der Aufstieg der jüdischen Finanzaristokratie. Und ebenso wie heute die bankrotten Aristokraten der Geburt das reiche Judentum im Herzen hassen und verachten und doch ihm schmeicheln, wo sie es brauchen, so geschah es damals mit den kaiserlichen Sklaven und Freigelassenen.

„Den allmächtigen Dienern des Kaisers Ehre zu erweisen und zu huldigen, wetteiferte die höchste Aristokratie Roms, wie tief auch diese Abkömmlinge uralter ruhmvoller Geschlechter, die aus verhaßten Stämmen entsprossenen, mit der Schmach der Knechtschaft unauslöschlich befleckten Menschen innerlich verachteten und verabscheuten, die übrigens rechtlich in mehr als einer Hinsicht noch unter dem freigeborenen Bettler standen.“

Äußerlich war die Stellung der kaiserlichen Diener sehr bescheiden, ganz den hochgeborenen Würdenträgern untergeordnet.

„In Wirklichkeit gestaltete sich das Verhältnis sehr anders, ja verkehrte sich oft genug in das Gegenteil, und die grenzenlos verachteten ‚Sklaven‘ hatten die Befriedigung, daß ‚Freie und Edle sie bewunderten und glücklich priesen‘, daß die Größten Roms sich aufs tiefste vor ihnen demütigten; nur wenige wagten es, sie als Bediente zu behandeln ... Für Pallas wird mit plumper Schmeichelei ein Stammbaum ersonnen, der seine Abkunft von dem gleichnamigen König Arkadiens ableitete, und ein Abkömmling der Scipionen schlug im Senat eine Dankadresse vor, weil dieser Sproß eines Königshauses seinen uralten Adel dem Wohle des Staates nachsetze und sich herablasse, Diener eines Fürsten zu sein. Auf den Vorschlag eines der Konsuln (vom Jahre 52 n. Chr.) wurden ihm die prätorischen Insignien und ein bedeutendes Geldgeschenk (15 Millionen Sesterze) angetragen.“

Pallas nahm nur die ersteren an.

Der Senat beschloß hierauf eine Dankesresolution für Pallas.

„Dieses Dekret wurde auf einer Bronzetafel neben einer geharnischten Statue Julius Cäsars öffentlich aufgestellt und der Besitzer von 800 Millionen Sesterzen als ein Muster strenger Uneigennützigkeit gepriesen. L. Vitellius, der Vater des gleichnamigen Kaisers, ein Mann in sehr hoher Stellung, allerdings ein selbst damals Staunen erregender Virtuose der Niederträchtigkeit, verehrte unter seinen Hausgöttern goldene Bilder des Pallas und Narcissus ...

„Doch nichts ist so bezeichnend für die Stellung dieser ehemaligen Sklaven, als daß sie die Töchter vornehmer und selbst dem Kaiserhause verwandter Geschlechter als Gemahlinnen heimführen durften, in einer Zeit, wo der Stolz des Adels auf alte Abkunft und eine lange Reihe edler Ahnen sehr groß war.“ [19]

So kamen die römischen Bürger, die Herren der Welt, dahin, von Sklaven und gewesenen Sklaven regiert zu werden und sich vor ihnen zu beugen.

Welch mächtige Rückwirkung das auf die Anschauungen der Zeit über die Sklaverei überhaupt haben mußte, ist klar. Die Aristokraten mochten die Sklaven um so mehr hassen, je mehr sie sich vor einzelnen beugen mußten, die Volksmasse bekam Respekt vor dem Sklaven, dieser selbst begann sich zu fühlen.

Andererseits war der Cäsarismus aufgekommen im Kampfe der Demokratie, die selbst zum großen Teile aus ehemaligen Sklaven bestand, gegen die Aristokratie der großen Sklavenhalter. Diese, die nicht so leicht zu kaufen war, wie die besitzlosen Volksmassen, bildete die einzige nennenswerte Konkurrenz um die Staatsmacht, welche die neuaufkommenden Cäsaren vorfanden; die großen Sklavenbesitzer stellten die republikanische Opposition im Kaiserreich dar, soweit von einer solchen noch die Rede sein konnte. Dagegen waren Sklaven und Freigelassene die treuesten Stützen der Kaiser.

Alles das mußte dahin wirken, daß sich nicht nur im Proletariat, sondern auch am kaiserlichen Hof und in den Kreisen, für welche dieser maßgebend wurde, eine sklavenfreundliche Stimmung bildete, der von den Hofphilosophen ebenso wie von den proletarischen Straßenpredigern sehr entschiedener Ausdruck gegeben wurde.

Wir wollen uns nicht dabei aufhalten, derartige Aussprüche zu zitieren, sondern nur eine bezeichnende Tatsache berichten: Die Milde des Wüterichs Nero gegenüber Sklaven und Freigelassenen. Er stand deshalb in stetem Kampf mit dem aristokratischen Senat, der, so servil er auch gegen einzelne machthabende Freigelassene war, doch gegen die Sklaven und Freigelassenen im allgemeinen stets die strengsten Maßregeln forderte. So verlangte der Senat im Jahre 56, daß der „Übermut“ der Freigelassenen dadurch gebrochen werde, daß der gewesene Besitzer das Recht erhalte, Freigelassenen, die sich gegen diesen als „nichtsnutzig“, das heißt nicht sklavisch gehorsam erwiesen, wieder die Freiheit zu nehmen. Gegen diesen Antrag trat Nero auf das entschiedenste auf. Er wies darauf hin, welche Bedeutung der Stand der Freigelassenen erlangt habe, aus dem sich viele Ritter und sogar Senatoren rekrutierten, und erinnerte an den alten römischen Grundsatz, daß, welche Unterschiede immer zwischen den verschiedenen Klassen des Volkes beständen, die Freiheit Gemeingut aller sein müsse. Nero stellte einen Gegenantrag, die Rechte der Freigelassenen nicht zu verkürzen, und zwang den feigen Senat, diesen Antrag zu akzeptieren.

Schwieriger war die Situation im Jahre 61. Der Stadtpräfekt Pedanius Secundus war von einem seiner Sklaven ermordet worden. Diese Tat erforderte nach dem alten aristokratischen Gesetz zu ihrer Sühne die Hinrichtung sämtlicher Sklaven, die zur Zeit des Mordes im Hause gewesen waren, in diesem Fall nicht weniger als 400 Menschen, darunter Frauen und Kinder. Aber die öffentliche Meinung sprach sich für eine mildere Praxis aus. Die Volksmassen traten entschieden für die Sklaven ein, es schien, als sollte der Senat selbst von der allgemeinen Stimmung fortgerissen werden. Da trat Cajus Cassius auf, der Führer der republikanischen Opposition im Senat, der Nachkomme eines der Mörder Cäsars, und ermahnte in stürmischer Rede den Senat, sich nicht einschüchtern zu lassen und der Milde keinen Raum zu geben. Nur durch Furcht sei der Abschaum der Menschheit im Zaum zu halten. Die Rede dieses Scharfmachers wirkte durchschlagend, niemand im Senat widersprach, Nero selbst ließ sich ins Bockshorn jagen und hielt es für das klügste, zu schweigen. Die Sklaven wurden sämtlich hingerichtet. Aber als die republikanischen Aristokraten, durch diesen Sieg kühn gemacht, im Senat auch noch den Antrag einbrachten, die Freigelassenen, die mit den verurteilten Sklaven unter einem Dache gewohnt hatten, aus Italien zu deportieren, da erhob sich Nero, erklärte, wenn schon Mitleid und Erbarmen nicht die alte Sitte mildern sollten, so dürfe diese doch nicht verschärft werden, und er brachte den Antrag zu Fall.

Nero setzte auch einen eigenen Richter ein, der, wie Seneca erzählt, „über Mißhandlungen der Sklaven durch ihre Herren ein Verhör anzustellen und der Grausamkeit und Willkür der Herren sowie ihrem Geiz in Darreichung von Lebensmitteln Schranken zu setzen hatte“. Derselbe Kaiser schränkte die Gladiatorenspiele ein und ließ mitunter bei solchen, wie Sueton erzählt, niemand, auch keinen der verurteilten Verbrecher töten.

Ähnliches wird auch von Tiberius berichtet. Die eben angeführten Tatsachen zeigen deutlich die Unfruchtbarkeit einer moralisierenden oder politisierenden Geschichtschreibung, die es für ihre Aufgabe hält, die Menschen der Vergangenheit an dem moralischen oder politischen Maßstab unserer Zeit zu messen. Der Mutter- und Gattenmörder Nero, der Sklaven und Verbrechern aus Milde das Leben schenkt; der Tyrann, der Republikanern gegenüber die Freiheit in Schutz nimmt; der verrückte Wüstling, der die Tugenden der Humanität und Wohltätigkeit vor den Heiligen und Märtyrern des Christentums übt, der die Hungrigen speist, die Durstigen tränkt, die Nackten bekleidet – siehe seine fürstliche Wohltätigkeit gegenüber dem römischen Proletariat –, der für die Armen und Elenden eintritt: diese historische Figur spottet aller Versuche, sie mit einem ethischen Maßstabe zu messen. Aber so schwer und töricht es ist, herausfinden zu wollen, ob Nero im Grunde ein guter Kerl oder ein schlechter war, oder beides, wie man heute meist annimmt; ebenso leicht ist es, Nero und seine Taten, sowohl die uns sympathischen wie die uns abstoßenden, aus seiner Zeit und seiner Stellung zu begreifen.

Die Milde, die der kaiserliche Hof wie das Proletariat gegenüber den Sklaven empfanden, mußte eine nachdrückliche Unterstützung erhalten dadurch, daß der Sklave aufhörte, eine billige Ware zu sein. Auf der einen Seite nahm dadurch gerade jene Seite der Sklavenarbeit ein Ende, die stets die furchtbarsten Brutalitäten gezeitigt hatte, ihre Ausbeutung zum Gelderwerb. Es blieb nur die Luxussklaverei, die von vornherein in der Regel mildere Formen zeigte. Diese traten um so mehr hervor, je seltener und teurer die Sklaven wurden, je größer der Verlust, den das vorzeitige Umkommen eines Sklaven erzeugte, je schwerer er zu ersetzen war.

Endlich wirkte in gleicher Richtung die wachsende Entwöhnung vom Kriegsdienst, die viele Städter immer mehr vor dem Blutvergießen zurückschaudern ließ, sowie endlich die Internationalität, die jeden Menschen ohne Unterschied der Abstammung gleichzuachten lehrte und die nationalen Unterschiede und Gegensätze verwischte.


e. Die Internatioualität

Wir haben schon früher darauf hingewiesen, in welchem Maße sich zur Kaiserzeit der Weltverkehr entwickelte. Ein Netz vortrefflicher Straßen verband Rom mit den Provinzen und diese untereinander: Der Handelsverkehr zwischen ihnen wurde besonders gefördert durch den Frieden innerhalb des Reiches, der den ewigen Kriegen der einzelnen Städte und Staaten untereinander und dann den Bürgerkriegen folgte, die die letzten Jahrhunderte der Republik erfüllt hatten. Dank dem konnte auch die staatliche Seemacht in der Kaiserzeit ganz zum Kampf gegen die Seeräuber aufgeboten werden; die Piraterie, die bis dahin im Mittelmeer nie recht aufgehört hatte, nahm nun ein Ende. Maß, Gewicht und Münze wurden jetzt einheitlich für das ganze Reich geschaffen: lauter Faktoren, die den Verkehr zwischen den einzelnen Reichsteilen bedeutend förderten.

Und dieser Verkehr war vornehmlich ein persönlicher. Das Postwesen, wenigstens für Privatmitteilungen, war damals noch schlecht entwickelt, wer ein Geschäft in der Fremde zu besorgen hatte, sah sich daher viel öfter als heutzutage gezwungen, es persönlich abzumachen und dorthin zu reisen.

Alles das bewirkte eine steigende Annäherung der Völker, die um das Mittelmeer herum wohnten, und eine zunehmende Abschleifung ihrer Eigentümlichkeiten. So weit ist es freilich nie gekommen, daß das ganze Reich eine völlig gleichartige Masse bildete. Man konnte stets zwei Hälften unterscheiden, die westliche, Lateinisch redende, romanisierte, und die östliche, Griechisch redende, hellenisierte. Als die Kraft des weltbeherrschenden Römertums und dessen Traditionen erloschen waren, als Rom aufgehört hatte, die Residenz des Reiches zu sein, trennten sich auch bald diese beiden Bestandteile politisch und religiös.

Aber in den Anfängen der Kaiserzeit war von einem Angriff auf die Reichseinheit noch keine Rede. Gerade damals verschwand auch immer mehr der Unterschied zwischen den beherrschten Nationen und der herrschenden Gemeinde. Je mehr das Volk Roms verkam, desto mehr sahen sich die Cäsaren als die Beherrscher des ganzen Reiches, als die Herren Roms und der Provinzen, nicht als die Beherrscher der Provinzen im Namen Roms an. Rom, das sich – Aristokratie und Volk – von den Provinzen füttern ließ, aber nicht imstande war, aus sich genügend Soldaten und Beamte zur Beherrschung der Provinzen zu liefern, dieses Rom bildete für das Reich der Cäsaren ein Element der Schwäche, nicht der Stärke. Was Rom den Provinzen wegnahm, das ging den Cäsaren verloren, und das ohne entsprechende Gegenleistung. So wurden die Kaiser durch ihr eigenes Interesse getrieben, der privilegierten Stellung Roms im Reiche entgegenzuwirken und ihr schließlich ein Ende zu machen.

Das römische Bürgerrecht wurde nun den Provinzialen freigebig verliehen. Wir sehen solche in den Senat eintreten und hohe Ämter bekleiden. Die Cäsaren waren die ersten, die den Satz der Gleichheit aller Menschen ohne Ansehen der Abstammung praktisch durchführten: alle Menschen waren in gleichem Maße ihre Knechte und wurden von ihnen nur nach dem Maße ihrer Verwendbarkeit geschätzt, ohne Unterschied der Person, ob Senatoren oder Sklaven, ob Römer, Syrier oder Gallier. Am Anfang des dritten Jahrhunderts endlich war die Verschmelzung und Nivellierung der Nationen so weit gediehen, daß Caracalla es wagen konnte, allen Provinzbewohnern das römische Bürgerrecht zu verleihen und so auch jeden formellen Unterschied zwischen den einstigen Herrschern und Beherrschten aufzuheben, nachdem jeder wesentliche Unterschied tatsächlich bereits längst aufgehört hatte. Es war einer der erbärmlichsten Kaiser, der so offenkundig einer der erhabensten Ideen der damaligen Epoche Ausdruck gab, einer Idee, die das Christentum gern für sich in Anspruch nehmen möchte; und erbärmlich war die Ursache, die den Despoten zu seinem Erlaß trieb: Geldnot.

Unter der Republik waren die römischen Bürger von der Zeit an steuerfrei geworden, als die Beute aus den eroberten Provinzen angefangen hatte, ergiebig zu werden. „Aemilius Paullus brachte nach der Überwindung des Perseus aus der makedonischen Beute 300 Millionen Sesterze in den Schatz und von dieser Zeit an war das römische Volk von Abgaben frei.“ [20] Aber von Augustus an hatte die steigende Finanznot dahin geführt, nach und nach auch den römischen Bürgern wieder neue Steuerlasten aufzulegen. Die „Reform“ Caracallas machte nun die Provinzialen zu römischen Bürgern, um sie zu verpflichten, neben ihren bisherigen Steuern auch noch die von römischen Bürgern zu tragen, die das kaiserliche Finanzgenie auch gleich noch verdoppelte. Dafür erhöhte er das Militärbudget um 61 Millionen Mark. Kein Wunder, daß er mit der einen „Finanzreform“ nicht auskam und noch anderer bedurfte, worunter die wichtigste die frechste Geldverschlechterung und Fälschung.

Der allgemeine Verfall war noch in anderer Weise der Verbreitung internationaler Gesinnung und dem Schwinden nationaler Vorurteile günstig.

Die Entvölkerung und Korruption in Rom nahm so rasch zu, daß die Römer, nachdem sie aufgehört hatten, Soldaten zu liefern, bald auch aufhörten, geeignete Beamte hervorzubringen. Wir können dies an den Kaisern selbst verfolgen. Die ersten Kaiser waren noch Abkömmlinge altrömischer Aristokratenfamilien aus der julischen und der claudischen Gens. Aber bereits der dritte Kaiser der julischen Dynastie, Caligula, war verrückt, und mit Nero zeigte die römische Aristokratie den Bankrott ihrer Regierungsfähigkeit an. Neros Nachfolger Galba stammte noch aus einem römischen Patriziergeschlecht, aber diesem folgte Otho aus einer vornehmen etruskischen Familie und Vitellius, ein Plebejer aus Apulien. Vespasian endlich, der die flavische Dynastie begründete, war ein Plebejer aus sabinischem Stamme. Aber die italischen Plebejer erwiesen sich bald als ebenso korrumpiert und unfähig zur Regierung, wie die römischen Aristokraten, und auf den elenden Domitian, Vespasians Sohn, folgte nach Nevas knrzer Zwischenregierung der Spanier Trajan. Mit ihm beginnt die Herrschaft der spanischen Kaiser, die fast ein Jahrhundert lang währt, bis auch sie mit Commodus ihren politischen Bankrott anzeigen müssen.

Auf die Spanier folgt mit Septimius Severus eine afrikanisch-syrische Dynastie; nach der Ermordung des letzten Kaisers dieser Dynastie, Alexander Severus, nahm aber bereits ein Thrakier gotischer Abstammung, Maximin, die Krone an, welche die Legionen ihm anboten, ein Vorbote der Zeit, wo in Rom Goten herrschen sollten. Immer mehr wurden die Provinzen von der allgemeinen Zersetzung ergriffen, immer mehr wird die Auffrischung durch barbarisches, nichtrömisches Blut nötig, dem sterbenden Reich neue Lebenskraft einzuflößen, immer weiter entfernt von den Hauptsitzen der Zivilisation muß man bald nicht nur die Soldaten, sondern auch die Kaiser suchen.

Sahen wir oben Sklaven als Hofbeamte über freie Männer herrschend so sehen wir jetzt Provinzialen, ja Barbaren als Kaiser, als Wesen, die göttliche Verehrung genossen, über die Römer gesetzt. Da mußten alle Rassen- und Klassenvorurteile des heidnischen Altertums schwinden und das Gefühl der Gleichheit aller immer mehr hervortreten. Bei manchen Geistern trat dies Gefühl schon früh auf, ehe die geschilderten Verhältnisse es zu einem gemeinplätzlichen gemacht hatten. So schrieb zum Beispiel schon Cicero (De officiis, 3, 6):

„Wer da behauptet, man müßte zwar auf seine Mitbürger Rücksicht nehmen, nicht aber auf Fremde, der trennt die allgemeine Verbindung des Menschengeschlechtes, mit dieser aber hebt man Wohltätigkeit, Freigebigkeit, Güte und Gerechtigkeit von Grund aus auf.“

Unsere ideologischen Historiker verwechseln natürlich, wie gewöhnlich, so auch hier die Ursache mit der Wirkung und suchen in solchen Sätzen, die die „Frommen“ im Evangelium, die „Aufgeklärten“ bei heidnischen Philosophen finden, die Ursache der Milderung der Sitten und der Erweiterung der Nation zum Begriffe der Menschheit, wobei ihnen nur das Malheur passiert, daß an der Spitze der „edlen und erhabenen Geister“, welche diese Revolution in den Köpfen bewirkt haben sollen, verkommene Bluthunde und Wüstlinge, wie Tiberius, Nero, Caracalla, marschieren und eine Reihe geckenhafter Modephilosophen und Schwindler, wie wir solche in Seneca, dem jüngeren Plinius, Apollonius von Tyana und Plotin kennen gelernt haben.

Die vornehmeren Christen wußten sich übrigens, das sei nebenbei bemerkt, dieser netten Gesellschaft rasch anzupassen, dafür nur ein Beispiel: Unter den vielen weiblichen und männlichen Konkubinen, die sich der Kaiser Commodus (180 bis 192) hielt, (man spricht von einem Harem von 300 Mädchen und ebensovielen Knaben), genoß Marcia die Ehre, in erster Reihe zu stehen, eine fromme Christin und Pflegetochter des Presbyters Hyacinthus bei der römischen Christengemeinde. Ihr Einfluß war groß genug, um die Freilassung einer Reihe deportierter Chisten zu bewirken. Nachgerade wurde ihr jedoch der kaiserliche Liebhaber lästig, vielleicht fürchtete sie bei seinem Blutdurst für ihr eigenes Leben. Genug, sie nahm an einer Verschwörung gegen das Leben des Kaisers teil und übernahm die Durchführung des Mordplans: In der Nacht des 31. Dezember 192 reichte die brave Christin ihrem ahnungslosen Liebhaber einen vergifteten Trank. Als dieser nicht rasch genug wirkte, wurde der bereits Besinnungslose erdrosselt.

Ebenso charakteristisch wie dieses Verfahren, ist die Geschichte des Kallistus, der von der Marcia protegiert wurde:

„Dieser Kallistus hatte in der früheren Periode seines Lebens kraft einer besonderen Begabung für Geldgeschäfte selbst ein Bankgeschäft betrieben. Er war zuerst der Sklave eines vornehmen Christen, der ihm eine beträchtliche Stimme aushändigte, damit er sie in einem Bankgeschäft nutzbar mache. Nachdem aber der Sklave die zahlreichen Einlagen, die Witwen und andere Gläubige im Vertrauen auf die Solidität des Herrn bei der Bank gemacht, veruntreut hatte und an den Rand des Abgrundes gekommen war, forderte sein Herr von ihm Rechenschaft. Der ungetreue Knecht aber entfloh, wurde ergriffen und von dem Herrn in die Tretmühle geschickt. Auf die Bitten christlicher Brüder freigelassen, dann von dem Präfekten in die sardinischen Bergwerke geschickt, erwirbt er die Gunst der Marcia, der einflußreichsten Maitresse des Kaisers Commodus, auf deren Fürsprache er freigegeben wird, um bald zum römischen Bischof gewählt zu werden.“ [21]

Kalthoff hält es für möglich, daß die beiden Erzählungen des Evangeliums vom ungetreuen Haushalter, der sich „Freunde macht mit dem ungerechten Mammon“ (Lukas 16, 1 bis 9) und der großen Sünderin, der viele Sünden vergeben werden, weil sie viel geliebt hat“ (Lukas 7, 36 bis 48) in das Evangelium aufgenommen wurden, um den zweifelhaften Persönlichkeiten der Marcia und des Kallistus, die in der römischen Christengemeinde eine solche Rolle spielten, „die kirchliche Deutung und Sanktion zu geben“.

Auch ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Evangelien.

Kallistus war nicht der letzte Bischof und Papst, der einer Buhlerin sein Amt verdankte, wie die Ermordung des Commodus nicht die letzte christliche Bluttat war. Die Blutgier und Grausamkeit vieler Päpste und Kaiser seit Konstantin dem Heiligen ist bekannt.

Die mit dem Christentum eintretende „Milderung und Veredlung der Sitten“ war also eigenartiger Natur. Will man ihre Beschränktheit und ihre Widersprüche begreifen, muß man ihre ökonomischen Wurzeln aufsuchen. Durch die schönen Morallehren jener Zeit werden sie nicht erklärt.

Und dasselbe gilt von der Internationalität.


f. Religiosität

Der Weltverkehr und die politische Nivellierung waren zwei mächtige Ursachen der wachsenden Internationalität, trotzdem wäre sie in diesem Maße kaum möglich geworden ohne die Auflösung aller jener Bande, welche die alten Gemeinwesen zusammenhielten, diese aber auch voneinander absonderten. Die Organisationen, die im Altertum das ganze Leben des Individuums bestimmt, ihm Halt und Richtung gegeben hatten, verloren in der Kaiserzeit alle Bedeutung und Kraft: sowohl jene, die auf Blutbanden beruhten, wie die Gentilgenossenschaft, aber sogar die Familie, als auch jene, die auf territorialem Zusammenhang, auf dem Zusammenwohnen auf gemeinsamem Boden beruhten, wie die Markgenossenschaft und die Gemeinde. Das wurde, wie wir gesehen, der Grund, daß die haltlos gewordenen Menschen nach Vorbildern und Leitern, ja Erlösern ausblickten. Es gab aber auch den Anstoß dazu, daß die Menschen sich neue gesellschaftliche Organisationen zu schaffen suchten, die den neuen Bedürfnissen besser entsprachen, als die überkommenen, die immer mehr zu einer Last wurden.

Schon zu Ende der Republik machte sich der Drang nach der Begründung von Klubs und Vereinen merkbar, vorwiegend zu politischen Zwecken, aber auch zu Unterstützungszwecken. Die Cäsaren lösten sie auf. Nichts fürchtet der Despotismus mehr, als gesellschaftliche Organisationen. Seine Macht ist am größten, wenn die Staatsgewalt die einzige gesellschaftliche Organisation darstellt und ihr gegenüber die Staatsbürger nur als zersplitterte Individuen dastehen.

Schon Cäsar „löste sämtliche Vereine auf, mit Ausnahme der aus dem grauen Altertum stammenden,“ berichtet Sueton (Cäsar, Kap. 42). Von Augustus sagt derselbe:

„Gar manche Parteien (plurimae factiones) organisierten sich unter dem Namen eines neuen Kollegiums zur Verübung jeglicher Schandtat ... Die Kollegien, mit Ausnahme der uralten, gesetzlich anerkannten, löste er auf.“ [22]

Mommsen findet diese Verfügungen sehr lobenswert. Freilich, der geriebene und gewissenlose Verschwörer und Hochstapler Cäsar erscheint ihm als ein „echter Staatsmann“, der „dem Volke nicht um Lohn diente, auch nicht um den Lohn seiner Liebe“, sondern „für den Segen der Zukunft und vor allem für die Erlaubnis, seine Nation retten und verjüngen zu dürfen“. [23] Um diese Auffassung Cäsars zu begreifen, muß man sich erinnern, daß das Mommsensche Werk in den Jahren nach der Junischlacht geschrieben wurde, (die erste Auflage erschien 1854) als Napoleon III. selbst von vielen Liberalen, namentlich deutschen, als der Retter der Gesellschaft gepriesen wurde und Napoleon den Cäsarkultus in die Mode brachte.

Nach dem Aufhören der politischen Tätigkeit und der politischen Vereine wandte sich der Organisationsdrang harmloseren Vereinigungen zu. Namentlich Fachvereine und Kassen zur Unterstützung in Fällen von Krankheit, Tod, Armut, freiwillige Feuerwehren, aber auch bloße Geselligkeitsvereine, Tischgesellschaften, literarische Gesellschaften um dergleichen schossen massenhaft wie Pilze empor. So argwöhnisch war jedoch der Cäsarismus, daß er selbst solche Organisationen nicht duldete, konnten sie doch den Deckmantel für gefährlichere Vereinigungen abgeben.

In dem Briefwechsel zwischen Plinius und Trajan sind uns noch Briefe erhalten, in denen Plinius von einer Feuersbrunst erzählt, die Nicomedien verheerte, und empfiehlt, die Bildung einer freiwilligen Feuerwehr (collegium fabrorum) von nicht mehr als 150 Mann zu gestatten; die seien leicht zu überwachen. Trajan aber fand auch das noch zu gefährlich und verweigerte die gewünschte Erlaubnis. [24]

Aus späteren Briefen (117 und 118) sehen wir, daß sogar Ansammlungen von Menschen ans Anlässen von Hochzeiten oder anderen Festen reicher Leute, bei denen Geld verteilt wurde, Plinius und Trajan staatsgefährlich erschienen.

Dabei loben unsere Historiker Trajan als einen der besten Kaiser.

Der Organisationsdrang sah sich bei solchen Verhältnissen auf die Geheimbündelei angewiesen. Deren Aufdeckung bedrohte aber die Teilnehmer mit der Todesstrafe. Es ist klar, daß bloße Vergnügungen oder selbst Vorteile, die nur dem Individuum zugute kamen, die eine persönliche Besserstellung bezweckten, nicht stark genug sein konnten, jemand zu veranlassen, seine Haut zu Markte zu tragen. Nur solche Vereinigungen konnten sich behaupten, die sich ein Ziel setzten, das über den persönlichen Vorteil hinaus ging, das bestehen blieb, wenn auch das Individuum unterging. Aber dabei konnten solche Vereinigungen nur dann an Kraft gewinnen, wenn dieses Ziel einem starken, allgemein gefühlten, gesellschaftlichen Interesse und Bedürfnis entsprach, einem Klasseninteresse oder allgemeinen Interesse, einem Interesse, das von großen Massen aufs stärkste empfunden wurde und ihre kraftvollsten, selbstlosesten Mitglieder wohl drängen konnte, ihre Existenz aufs Spiel zu setzen, um ihm Genüge zu leisten. Mit anderen Worten: mir solche Organisationen konnten sich in der Kaiserzeit behaupten, die sich ein weites gesellschaftliches Ziel, ein hohes Ideal setzten. Nicht das Streben nach praktischen Vorteilen, nach Wahrung von Augenblicksinteressen, sondern nur der revolutionärste oder idealste Schwung konnte damals einer Organisation Lebenskraft verleihen.

Dieser Idealismus hat mit dem philosophischen Idealismus nichts gemein. Zur Setzung großer gesellschaftlicher Ziele kann man auch auf dem Wege materialistischer Philosophie gelangen, ja nur die materialistische Methode, das Ausgehen von der Erfahrung, das Erforschen der notwendigen ursächlichen Zusammenhänge unserer Erfahrungen kann zur Aufstellung großer gesellschaftlicher Ziele führen, die frei sind von Illusionen. Für eine solche Methode fehlten aber in der Kaiserzeit alle Voraussetzungen. Nur auf dem Wege eines moralisierenden Mystizismus konnte das Individuum damals zur Erhebung über sich selbst, zur Gewinnung von Zielen gelangen, die über das persönliche und augenblickliche Wohlsein hinausgingen, das heißt nur auf dem Wege jener Denkweise, die als die religiöse bekannt ist. Nur religiöse Vereine behaupteten sich in der Kaiserzeit, aber man würde sie falsch auffassen, wenn man über der religiösen Form, dem moralisierenden Mystizismus, den gesellschaftlichen Inhalt übersehen wollte, der allen diesen Vereinigungen innewohnte und ihnen ihre Kraft gab: das Sehnen nach einer Überwindung der bestehenden trostlosen Zustände, nach höheren gesellschaftlichen Formen, nach engstem Zusammenwirken und gegenseitigem Stützen der in ihrer Isolierung so haltlosen Individuen, die aus ihrer Vereinigung zu hohen Zwecken wieder Mut und Freude schöpften.

Mit diesen religiösen Vereinigungen kam aber wieder eine neue Trennungslinie in die Gesellschaft, gerade damals als der Begriff der Nationalität sich für die Mittelmeerländer zu dem der Menschheit erweiterte. Die rein ökonomischen Vereine, die bloß in einem oder dem anderen Punkt dem Individuum helfen wollten, lösten dieses nicht von der bestehenden Gesellschaft los und gaben ihm nicht einen neuen Lebensinhalt. Anders die religiösen Vereine, die in religiöser Hülle ein großes gesellschaftliches Ideal anstrebten. Dies Ideal stand in vollstem Widerspruch zur bestehenden Gesellschaft, nicht bloß in einem Punkt, sondern an allen Ecken und Enden. Die Verfechter dieses Ideals sprachen dieselbe Sprache wie ihre Umgebung und wurden doch von dieser nicht verstanden; und auf Schritt und Tritt begegneten sich die beiden Welten, die alte und die neue, feindselig an ihren Grenzen, trotzdem sie beide in gleichem Lande wohnten. So erstand ein neuer Gegensatz der Menschen untereinander. Eben damals als der Gallier und der Syrier, der Römer und der Ägypter, der Spanier und der Grieche begannen, ihre nationale Besonderheit zu verlieren, erstand der große Gegensatz zwischen Gläubigen und Ungläubigen, Heiligen und Sündern, Christen und Heiden, der die Welt bald aufs tiefste zerklüften sollte.

Und mit der Schärfe des Gegensatzes, mit der Energie des Kampfes wuchsen auch die Unduldsamkeit und der Fanatismus, die mit jedem Kampf naturnotwendig verknüpft sind und wie dieser ein notwendiges Element des Fortschritts und der Entwicklung bilden, wenn sie die fortschrittlichen Elemente beleben und kräftigen. Notabene, unter Unduldsamkeit verstehen wir hier nicht die gewaltsame Verhinderung der Propagierung jeder unbequemen Meinung, sondern die energische Ablehnung und Kritik jeder anderen Anschauung und die energische Verfechtung der eigenen. Nur Feigheit und Faulheit sind in diesem Sinne duldsam, wo sich’s um große, allgemeine Lebensinteressen handelt.

Freilich, diese Interessen sind in stetem Wechsel begriffen. Was gestern noch eine Lebensfrage war, mag heute sehr gleichgültig fein, einen Kampf nicht lohnen. Da mag der Fanatismus in diesem Punkte, der gestern noch eine Notwendigkeit war, heute zu einer Ursache von Kraftverschwendung und daher höchst schädlich werden.

So bildeten religiöse Unduldsamkeit und religiöser Fanatismus mancher der jeweilig aufstrebenden christlichen Sekten eine der Kräfte, die die gesellschaftliche Entwicklung vorantrieben solange große gesellschaftliche Ziele nur in religiösem Gewand den Massen zugänglich waren, also von der Kaiserzeit an bis in die Zeiten der Reformation hinein. Diese Eigenschaften werden reaktionär und nur noch ein Mittel, den Fortschritt zu hemmen, seitdem die religiöse Denkart durch die Methoden der modernen Forschung überwunden ist, so daß sie nur noch von rückständigen Klassen, Schichten, Gegenden gehegt wird und in keiner Weise mehr zur Hülle neuer gesellschaftlicher Ziele mehr werden kann.

Die religiöse Intoleranz war ein ganz neuer Zug in der Denkweise der antiken Gesellschaft. So intolerant diese in nationaler Beziehung war, so wenig sie den Fremden achtete, oder gar den Feind, den sie zum Sklaven machte oder tötete, auch wenn er nicht als Krieger gefochten hatte, so wenig fiel es ihr ein, jemand wegen seiner religiösen Auffassungen geringer zu schätzen. Fälle, die als religiöse Verfolgungen angesehen werden können, wie zum Beispiel der Prozeß des Sokrates, lassen sich auf Anklagen politischer, nicht religiöser Natur zurückführen.

Erst die neue Denkweise, die in der Kaiserzeit ersproß, brachte die religiöse Intoleranz mit sich, und zwar auf beiden Seiten, bei Christen wie bei Heiden, bei diesen aber naturgemäß nicht jeder fremden Religion gegenüber, sondern eben nur jener, die in religiösem Gewand ein neues gesellschaftliches Ideal propagierte, das zu der bestehen den Gesellschaftsordnung in völligem Widerspruch stand.

Sonst blieben die Heiden der religiösen Toleranz treu, die sie ehedem geübt, ja, gerade der internationale Verkehr der Kaiserzeit führte auch zu einer Internationalität der religiösen Kulte. Die fremden Kaufleute und sonstigen Reisenden brachten ihre Götter überall hin mit sich. und fremde Götter gelangten damals zu noch höherem Ansehen wie die einheimischen. Diese hatten ja nichts geholfen, sie schienen völlig machtlos geworden zu sein. Jenes Gefühl der Verzweiflung, das aus dem allgemeinen Niedergang hervorging, führte auch zum Zweifel an den alten Göttern, was manche kühneren und selbständigeren Geister zum Atheismus und Skeptizismus brachte, zum Zweifel an aller Gottheit oder auch an aller Philosophie. Die zaghafteren, schwächeren aber wurden, wie wir schon gesehen, getrieben, sich einen neuen Erlöser zu suchen, an dem sie ihre Stütze und Hoffnung finden konnten. Manche glaubten sie in den Cäsaren zu finden, die sie zu Göttern erhoben. Andere dachten, sicherer zu gehen, wenn sie sich Göttern zuwandten, die schon von altersher als solche galten, die aber im Lande noch nicht erprobt worden waren. So kamen ausländische Kulte in die Mode.

Bei dieser internationalen Götterkonkurrenz siegte aber der Orient über den Westen, zum Teil, wen die orientalischen Religionen weniger naiv waren, mehr großstädtisch-philosophischen Tiefsinn besaßen aus Gründen, die wir noch kennen lernen werden, zum Teil aber auch deswegen, weil der Osten industriell über den Westen siegte.

Die alte Kulturwelt des Orients war dem Abendland industriell weit überlegen, als sie von den Makedoniern und dann von den Römern erobert und geplündert wurde. Man sollte meinen, die internationale Ausgleichung, die seitdem vor sich ging, hätte auch einen industriellen Ausgleich bringen, den Westen auf die Höhe des Ostens erheben müssen. Aber das Umgekehrte geschah. Wir haben gesehen, daß von einem gewissen Punkt an ein allgemeiner Niedergang der antiken Welt einsetzt, eine Folge teils des Überwiegens der Zwangsarbeit über die freie Arbeit, teils der Ausplünderung der Provinzen durch Rom und das Wucherkapital. Aber dieser Niedergang vollzieht sich im Westen rascher als im Osten, so daß die kulturelle Überlegenheit des letzteren vom zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung an viele Jahrhunderte lang, bis etwa um das Jahr tausend, nicht abnimmt, sondern wächst. Armut, Barbarei und Entvölkerung machen im Abendland raschere Fortschritte als im Morgenland.

Die Ursache dieser Erscheinung ist vornehmlich in der industriellen Überlegenheit des Ostens und der ständigen Zunahme der Ausbeutung der arbeitenden Klassen im ganzen Reiche zu suchen. Die Überschüsse, welche diese lieferten, strömten aus den Provinzen zum größten Teilnach Rom, dem Zentrum aller großen Ausbeuter. Aber soweit die dort aufgehäuften Überschüsse die Form von Geld erhielten, strömte ihr Löwenanteil wieder nach dem Orient ab. Denn dieser allem erzeugte alle die Luxuswaren, nach denen die großen Ausbeuter verlangten. Er lieferte die Luxussklaven, aber auch Industrieprodukte, wie Glas und Purpur in Phönizien, Linnen und gewirkte Zeuge in Ägypten, feine Wollen- und Lederwaren in Kleinasien, Teppiche in Babylonien. Und die zunehmend Unfruchtbarkeit Italiens machte Ägypten auch zur Kornkammer Roms, denn dank den Überschwemmungen des Flusses, die seinen Boden jedes Jahr mit neuem fruchtbarem Schlamm überdeckten, war die Landwirtschaft des Niltals nicht zu erschöpfen.

Wohl wurde ein großer Teil dessen, was der Orient lieferte, ihm durch Steuern und Wucherzinsen gewaltsam entzogen, aber dabei blieb doch noch ein erheblicher Rest, der bezahlt werden mußte mit den Erträgen der Ausbeutung des Abendlandes, das dabei verarmte.

Und der Verkehr mit dem Osten dehnte sich über die Reichsgrenzen aus. Alexandrien wurde reich nicht nur durch den Verkauf ägyptischer Industrieprodukte, sondern auch durch Vermittlung des Handels mit Arabien und Indien, indes von Sinope am Schwarzen Meer eine Handelsstraße nach China eröffnet wurde. Plinius schätzte in seiner Naturgeschichte, daß allein für chinesische Seidenstoffe, indische Juwelen und arabische Spezereien jährlich rund hundert Millionen Sesterzen (über 20 Millionen Mark) aus dem Reiche gezogen würden. Ohne eine nennenswerte Gegenleistung an Waren, aber auch ohne irgend eine Verpflichtung des Auslands zu Tribut oder Zinszahlung. Die ganze Summe mußte in Edelmetall bezahlt werden.

Mit orientalischen Waren drangen auch orientalische Kaufleute nach dem Westen und mit ihnen deren Kulte. Diese entsprachen dem Bedürfnis des Westens uni so mehr, als sich ja im Orient schon vordem ähnliche gesellschaftliche Zustände, wenn auch nicht so verzweifelter Art entwickelt hatten, wie sie jetzt im ganzen Reiche herrschten. Der Gedanke der Erlösung durch die Gottheit, deren Wohlgefallen man dadurch gewinnt, daß man den irdischen Genüssen entsagt, war den meisten jener Kulte eigen, die sich im Reiche nun rasch verbreiteten, namentlich dem ägyptischen Isis- und dem persischen Mithraskult.

„Die Isis zumal, deren Dienst seit Sulla in Rom eingedrungen war und seit Vespasian kaiserliche Gunst gewonnen hatte, verbreitete sich bis nach dem fernsten Westen und hatte allmählich, zunächst als eine Gottheit des Heils, im engeren Sinne auch der Heilung, eine ungeheure, allumfassende Bedeutung gewonnen ... Ihr Kultus war reich an prachtvollen Prozessionen, nicht minder an Kasteiungen, Sühnungen und strengen Observanzen, und vor allem an Mysterien. Gerade die religiöse Sehnsucht, die Hoffnung auf Entsühnung, der Drang nach kräftigen Bußen, und die Hoffnung durch die Hingebung an eine Gottheit eine selige Unsterblichkeit zu gewinnen, förderte die Aufnahme so fremdartiger Kulte in die römisch-griechische Götterwelt, der sonst diese geheimnisvollen Zeremonien, schwärmerische Ekstase, Magie, Selbstentäußerung und schrankenlose Hingebung an die Gottheit, Entsagung und Buße als Vorbedingung der Läuterung und Weihe, ziemlich fremd gewesen waren. Noch mächtiger aber, und namentlich durch die Armeen verbreitet war der Geheimdienst des Mithras, ebenfalls mit dem Anspruch auf Erlösung und Unsterblichkeit. Er ist zuerst unter Tiberius bekannt geworden.“ [25]

Aber auch indische Anschauungen fanden im römischen Reiche Eingang. So wanderte zum Beispiel der uns schon bekannte Apollonius von Tyana eigens deswegen nach Indien, um die dortigen philosophischen und religiösen Lehren zu studieren. Auch von Plotin haben wir gehört, daß er, um persischer und indischer Weisheit näher zu kommen, nach Persien zog.

An den nach Erlösung und Erhebung ringenden Christen gingen alle diese Anschauungen und Kulte nicht spurlos vorbei, sie haben bei dem Erstehen des Kultus und der Sagenwelt des Christentums kräftig mitgewirkt.

„Der Kirchenlehrer Eusebius behandelte den ägyptischen Kultus verächtlich als ‚Käferweisheit‘ und doch ist der Mythus von der Jungfrau Maria nur ein Nachklang der Mythen, die an den Ufern des Nil heimisch waren.

„Osiris wurde auf Erden durch den Stier Apis vertreten. Wie mm Osiris selbst von seiner Mutter ohne das Zutun eines Gottes empfangen worden war, so mußte auch sein irdischer Stellvertreter von einer jungfräulichen Kuh ohne das Zutun eines Stiers geboren werden. Herodot berichtet uns, daß die Mutter des Apis von einem Sonnenstrahl befruchtet ward, nach Plutarch empfängt sie von einem Mondstrahl.

„Wie der Apis hatte auch Jesus keinen Vater, er war von einem himmlischen Lichtstrahl gezeugt worden. Der Apis war ein Stier, aber er stellte einen Gott dar; Jesus war ein Gott, der durch ein Lamm dargestellt wurde. Nun wurde aber Osiris oft mit einem Widderkopf dargestellt.“ [26]

In der Tat meinte ein Spötter, wohl aus dem dritten Jahrhundert, wo das Christentum schon sehr stark war, in Ägypten sei zwischen Christen und Heiden kein großer Unterschied:

„Wer in Ägypten den Sarapis verehrt, ist auch Christ, und die sich christliche Bischöfe nennen, verehren gleichfalls den Sarapis; jeder Großrabbi der Juden, jeder Samariter, jeder christliche Geistliche ist da zugleich ein Zauberer, ein Prophet, ein Quacksalber (aliptes). Selbst wenn der Patriarch nach Ägypten kommt, fordern die einen, daß er zum Sarapis, die anderen, daß er zu Christus betet“. [27]

Die Geburtsgeschichte Christi wieder, wie wir sie bei Lukas finden, weist buddhistische Züge auf.

Pfleiderer führt aus, daß der Verfasser des Evangeliums diese Geschichte, so unhistorisch sie sei, doch nicht frei erfunden habe, er habe sie vielmehr Sagen entnommen, „die ihm auf irgend welchem Wege zugekommen waren“, vielleicht uralte gemeinsame Sagen der vorderasiatischen Völker sind.

„Denn wir finden dieselben Sagen in teilweise auffallend ähnlichen Zügen auch verarbeitet in der Kindheitsgeschichte des indischen Heilands Gautama Buddha (der im fünften Jahrhundert vor Christo lebte. – K.). Auch er ist wunderbar von der jungfräulichen Königin Maja geboren, in deren unbefleckten Leib das himmlische Lichtwesen Buddhas einging. Auch bei seiner Geburt erscheinen himmlische Geister und stimmen diesen Lobgesang an: ‚Ein wunderbarer Held, ein unvergleichlicher ist geboren. Heil der Welt, des Erbarmens voll, heute breitest du aus dein Wohlwollen über alle Enden des Weltraums. Laß kommen aller Kreatur Freude und Befriedigung, auf daß sie still werden, Herren ihrer selbst und glücklich.‘ Auch er wird dann von seiner Mutter m Behuf der Vollbringung gesetzlicher Bräuche in den Tempel gebracht, da findet ihn der alte Einsiedler Asita, den eine Ahnung vom Himalaya herabgetrieben hatte; der weissagte, dieses Kind werde Buddha werden, der Erlöser von allen Übeln, Führer zu Freiheit und Licht und Unsterblichkeit ... Und zum Schleisse die summarische Schilderung, wie das Königskind täglich zugenommen habe an geistiger Vollkommenheit und körperlicher Schönheit und Stärke – ganz wie Lukas 2, 40 und 52 vom Jesuskinde gesagt wird.“ [28]

„Auch vom heranwachsenden Kinde Gautama werden Proben früher Weisheit erzählt, unter anderem daß er einmal aus Anlaß eines Festes den Seinigen verloren gegangen und dann nach eifrigem Suchen von seinem Vater gefunden worden sei, wie er im Kreise von heiligen Männern in fromme Betrachtung versunken war, worauf er den erstaunten Vater ermahnt habe, nach höheren Dingen zu suchen.“ [29]

Pfleiderer zeigt in dem genannten Buche noch weitere Elemente, die aus anderen Knlten in das Christentum aufgenommen wurden, zum Beispiel aus der Verehrung des Mithra. Den Hinweis auf das Vorbild des Abendmahls, das zu den „Mithrasakramenten gehörte“ (S. 130), haben wir schon mitgeteilt. Auch in der Lehre von der Auferstehung finden sich wohl heidnische Elemente.

„Mitgewirkt haben haben vielleicht doch die volkstümlichen Vorstellung vom sterbenden und neulebenden Gott, wie sie in den vorderasiatischen Kulten des Adonis, Attis, Osiris – unter verschiedenen Namen und Bräuchen, doch in der Hauptsache überall gleichmäßig – zu jener Zeit herrschend waren. In der syrischen Hauptstadt Antiochia, wo Paulus längere Zeit wirkte, war das Hauptfest die Adonisfeier im Frühling; da wurde zuerst der Tod des Adonis (‚des Herrn‘) und die Bestattung seiner durch ein Bild dargestellten Leiche unter wilden Klagegesängen der Frauen gefeiert. Dann am folgenden Tag (bei der Osirisfeier war es der dritte und bei der Attisfeier der vierte Tag nach dem Todestage) erscholl die Kunde, daß der Gott lebe, und man ließ ihn (sein Bild) in die Luft aufsteigen usw.“ [30]

Aber mit Recht weist Pfleiderer darauf hin, daß das Christentum alle diese heidnischen Elemente nicht einfach aufnahm, sondern sie seiner einheitlichen Weltanschauung anpaßte. Denn das Christentum konnte die fremden Götter nicht so annehmen, wie sie kamen, daran hinderte es schon sein Monotheismus.


g. Monotheismus

Aber auch der Monotheismus, der Glaube an einen einzigen Gott, war nicht etwas dem Christentum allein Eigentümliches. Und auch hier ist es möglich, die ökonomischen Wurzeln bloßzulegen, denen diese Idee entsproß. Wir haben schon gesehen, wie der Bewohner der Großstadt der Natur entfremdet wurde; wie sich alle überlieferten Organisationen auflösten, in denen das Individuum ehedem einen festen moralischen Halt gefunden hatte; wie endlich die Beschäftigung mit dem Ich zur Hauptaufgabe des Denkens wurde, das sich aus einem Erforschen der Außenwelt immer mehr in ein Grübeln über die eigenen Empfindungen und Bedürfnisse verwandelte.

Die Götter hatten anfangs dazu gedient, die Vorgänge in der Natur zu erklären, deren gesetzmäßige Zusammenhänge man nicht begriff. Diese Vorgänge waren ungemein zahlreich und von der mannigfachsten Art. So erforderten sie auch zu ihrer Erklärung die Annahme der mannigfachsten, verschiedenartigsten Götter, grausiger und heiterer, brutaler und zarter, männlicher und weiblicher. Je mehr dann die Erkenntnis der gesetzmäßigen Zusammenhänge in der Natur fortschritt, desto überflüssiger wurden die einzelnen Göttergestalten. Aber sie hatten sich im Laufe von Jahrtausenden zu tief im Denken der Menschheit eingewurzelt und mit ihren alltäglichen Beschäftigungen verquickt, und die Naturerkenntnis selbst war noch eine zu lückenhafte, als daß sie dem Glauben an die Götter völlig ein Ende gemacht hätte. Die Götter sahen sich nur immer mehr aus einem Tätigkeitsgebiet nach dem anderen verdrängt; sie wurden immer mehr aus ständigen Genossen der Menschen zu außergewöhnlichen Wundererscheinungen; immer mehr aus Bewohnern der Erde zu Bewohnern überirdischer Gegenden, des Himmels; aus tatenfrohen, energischen Arbeitern und Kämpfern, die unermüdlich die Welt bewegten, zu beschaulichen Zusehern des Weltenschauspiels.

Schließlich hätte sie der Fortschritt der Naturwissenschaften wohl völlig verdrängt, wenn nicht die Bildung der Großstadt und der ökonomische Niedergang, den wir geschildert, die Abwendung von der Natur veranlaßt und in den Vordergrund des Denkens das Studium des Geistes durch den Geist geschoben hätten, das heißt, nicht die naturwissenschaftliche Erforschung der Gesamtheit der erfahrenen geistigen Vorgänge, sondern ein Studium, in dem der eigene Geist des Individuums zur Quelle aller Weisheit über sich selbst wurde, und diese Weisheit den Urquell aller Weltweisheit Überhaupt erschloß. Wie mannigfach und wechselnd aber auch die Regungen und Bedürfnisse der Seele sein mochten, sie selbst erschien als etwas Einheitliches und Unteilbares. Und von ganz gleicher Beschaffenheit wie die eigene Seele erwiesen sich die Seelen der anderen. Eine naturwissenschaftliche Auffassung hätte daraus die Gesetzmäßigkeit alles geistigen Wirkens geschlossen. Aber gerade damals begann jene Auflösung der alten moralischen Stützen, jene Haltlosigkeit, die den Menschen als Freiheit erschien, als Freiheit des Willens für das einzelne Individuum. Die Einheitlichkeit des Geistes in allen Menschen erschien da nur dadurch erklärbar, daß er überall ein Stück desselben Geistes ist, des einen Geistes, dessen Ausfluß und Abbild die einheitliche, unfaßbare Seele in jedem einzelnen bildet. Raumlos, wie die einzelne Seele, ist auch diese Gesamtseele, diese Weltseele. Aber sie ist gegenwärtig und wirksam in allen Menschen, also allgegenwärtig und allwissend; auch die geheimsten Gedanken bleiben ihr nicht fremd. Das Überwiegen des moralischen Interesses über das natürliche, aus dem die Annahme dieser Weltseele erstand, gab auch dieser einen moralischen Charakter. Sie wurde der Inbegriff aller der moralischen Ideale, die die Menschen damals beschäftigten. Um aber das sein zu können, mußte sie getrennt sein von der körperlichen Natur, die der Seele des Menschen a1ihaftet und ihre Moral verdunkelt. So entwickelte sich der Begriff einer neuen Gottheit. Diese konnte nur eine einzige sein, entsprechend der Einheitlichkeit der Seele des einzelnen, im Gegensatz zu der Vielheit der Götter des Altertums, die der Mannigfaltigkeit der Naturvorgänge außer uns entsprach. Und die neue eine Gottheit stand außer der Natur und über der Natur, sie existierte vor der Natur, die von ihr geschaffen war, im Gegensatz zu den alten Göttern, die ein Stück der Natur gebildet hatten und nicht älter waren als diese.

Aber so rein seelisch und moralisch die neuen geistigen Interessen der Menschen auftraten, ganz von der Natur absehen konnten sie doch nicht. Und da gleichzeitig die Naturwissenschaft verfiel, kam zur Erklärung der Natur auch wieder die Annahme übermenschlicher persönlicher Einwirkungen mehr auf. Die höheren Wesen, die jetzt in den Weltenlauf eingriffen, waren jedoch nicht mehr souveräne Götter wie ehedem, sie standen unter der Weltseele, wie die Natur unter Gott, der Leib unter dem Geiste nach der damaligen Auffassung stand. Sie waren Zwischenwesen zwischen Gott und den Menschen

Diese Auffassung erhielt noch eine Stütze durch die politische Entwicklung. Der Untergang der Götterrepublik im Himmel ging Hand in Hand mit dem Untergang der Republik in Rom; Gott wurde der allmächtige Kaiser des Jenseits, der ebenso wie der Cäsar seinen Hofstaat hatte, die Heiligen und Engel, und seine republikanische Opposition, den Teufel und dessen Scharen.

Ja, schließlich kamen die Christen dahin, die himmlische Bureaukratie Gottes, die Engel, gerade so in Rangklassen zu teilen, wie die Kaiser ihre irdische Bureaukratie einteilten, und unter den Engeln scheint da der gleiche Titelstolz zu herrschen, wie unter den Beamten der Kaiser.

Seit Konstantin wurden die Höflinge und Beamten des Staates in verschiedene Rangklassen geteilt, von denen jede einen besonderen Titel führte: So finden wir 1. die Gloriosi, die Hochberühmten, so hießen die Konsuln. 2. Die Nobilissimi, die Hochedlen; so hießen die Prinzen von Geblüt. 3. Die Patricii, die Barone. Neben diesen Rangstufen des Adels waren dann die Rangstufen der höheren Bureaukratie: 4. Die Illustres, die Erlauchten; 5. die Spectabiles, die Hochansehnlichen; 6. die Clarissimmi, die Vielberühmten. Unter diesen wieder standen: 7. die Perfectissimi, die Vollkommensten; 8. die Egregii, die Ausgezeichneten, und 9. die Comites, die „Geheimräte“.

Gerade so ist der himmlische Hofstaat organisiert. Das wissen unsere Theologen ganz genau.

So berichtet zum Beispiel das Kirchenlexikon der katholischen Theologie (herausgegeben von Wetzer und Welte, Freiburg i. B., 1849) im Artikel Engel von der massenhaften Anzahl der Engel und fährt fort:

„Nach dem Vorgang des heiligen Ambrosius glauben viele Lehrer, die Anzahl der Engel verhalte sich zu der der Menschen wie 99 zu 1; das verirrte Schaf nämlich in der Parabel vom guten Hirten (Lukas 12, 32) bedeute das menschliche Geschlecht, und die 99 Schafe, die sich nicht verirrt, die Engel. In dieser zahllosen Menge bilden die Engel verschiedene Klassen, und die Kirche sprach sich auch gegen die Meinung des Origenes, wonach alle Geister der Substanz, Kraft usw. nach einander gleich wären, auf dem zweiten Konzil zu Konstantinopel im Jahre 553 offen für die Verschiedenheit der Engel aus. Die Kirche kennt neun Chöre von Engeln, deren je drei wieder einen Chor bilden. Es sind: 1. Seraphim, 2. Cherubim, 3. Throni (Throne), 4. Dominationes (Herrscher), 5. Virtutes (Tugenden), 6. Potestates (Hochmächtige), 7. Principatus (Fürstentümer), 8. Archangeli (Erzengel), 9. Angeli (gewöhnliche Engel). [31]

„Soviel scheint über allen Zweifel erhaben zu sein, daß die Engel, im ·engeren Sinne des Wortes, die unterste, aber auch zahlreichste Klasse bilden, die Seraphim dagegen die oberste, der Zahl ihrer Glieder nach aber die geringste.“

So geht’s auf Erden auch. Der Exzellenzen gibt’s nur wenige, dagegen der einfachen Briefträger ganze Massen.

Es heißt dort weiter:

„Gott gegenüber leben die Engel in i1miger und persönlicher Gemeinschaft mit ihm und ihr Verhältnis zu Gott offenbart sich sonach in unendlicher Huldigung, in demütiger Unterwerfung, in ausnahmsloser, auf alles außergöttliche verzichtender Liebe, in voller, freudiger Dahingabe des ganzen Wesens, in fester Treue, unwandelbarem Gehorsam, tiefer Verehrung, unaufhörlichem Dank, inniger Anbetung, sowie in unausgesetztem Lob, in steter Verherrlichung, im ehrfurchtsvollen Preisen, im heiligen Jubel und im entzückten Frohlocken.“

Gerade dieselbe freudige Unterwürfigkeit verlangten auch die Kaiser von ihren Höflingen und Beamten. Es war das Ideal des Byzantinismus.

Man sieht, zu dem Bilde des einen Gottes, das sich im Christentum gestaltete, hat der kaiserliche Despotismus nicht weniger beigetragen als die Philosophie, die seit Plato immer mehr im Sinne des Monotheismus wirkte.

Diese Philosophie entsprach so sehr dem allgemeinen Empfinden und Bedürfen, daß sie rasch ins Volksbewußtsein überging. So finden wir zum Beispiel schon bei Plautus, einem Komödiendichter, der im dritten Jahrhundert vor Christo lebte und nur sehr populäre Lebensweisheit zum besten gab, Stellen, wie folgenden Ausspruch eines Sklaven, der um eine Wohltat bittet:

„Doch lebt ein Gott, der alles, was wir Menschen schaffen, hört und sieht.
Der wird an deinem Sohne tun, ganz wie du hier an mir getan.
Vergelten wird er gute Tat, doch Übeltat vergilt er auch.“

(Die Kriegsgefangenen, 2. Akt, 2. Szene. Deutsch von Donner.)

Das ist schon eine ganz christliche Auffassung Gottes. Aber dieser Monotheismus war noch ein ganz naiver, der gedankenlos die alten Götter neben sich fortbestehen ließ. Und den Christen selbst fiel es nicht ein, an deren Existenz zu zweifeln, wo sie so viele Wunder der Heiden unbesehen in den Kauf nahmen. Indes ihr Gott duldete keinen anderen neben sich; er wollte Alleinherrscher sein. Mochten sich die heidnischen Götter ihm nicht unterwerfen und seinem Hofstaat einverleiben lassen, dann blieb ihnen nur jene Rolle übrig, welche die republikanische Opposition unter den ersten Kaisern spielte und zumeist recht schäbiger Natur war. Sie bestand in nichts anderem, als in Versuchen, dem allmächtigen Herrn hie und da einen Schabernack zu spielen und brave Untertanen gegen ihn aufzuhetzen, ohne jede Hoffnung, den Herrscher zu stürzen, sondern bloß, um ihn gelegentlich zu ärgern.

Aber auch diesen unduldsamen und siegessicheren Monotheismus, der an der Überlegenheit und Allmacht seines Gottes keinen Moment zweifelte, fand das Christentum schon vor. Freilich nicht unter den Heiden, sondern bei einem Völkchen eigener Art, dem Judentum, das ebenso den Erlöserglauben und die Verpflichtung der gegenseitigen Unterstützung und des festen Zusammenhaltens weit stärker entwickelte und die damals so starken Bedürfnisse danach weit besser befriedigte, als irgend eine andere Nation oder Bevölkerungsschicht jener Zeit. So hat es der aus jenen Bedürfnissen erwachsenden neuen Lehre mächtige Antriebe gegeben und ihr einige ihrer wichtigsten Elemente geliefert. Erst wenn wir neben der römisch-hellenischen Welt der Kaiserzeit im allgemeinen auch noch das Judentum im besonderen begriffen haben, sind alle Wurzeln bloßgelegt, aus denen das Christentum entsproß.


Fußnoten

1. Merivale, The Romans under the Empire, 1862, VII, 349.

2. Appian, Römische Bürgerkriege, II, 16.

3. Jüdische Altertümer, XVIII, 3.

4. The Romans under the Empire.

5. Apollonius von Tyana, aus dem Griechischen des Philostratus, übersetzt und erläutert von Ed. Baltzer, 1883, I, 4.

6. A. a. O., IV, 45.

7. A. a. O., S. 378.

8. Friedländer, Sittengeschichte Roms, 1901, II, S. 534.

9. Friedländer, a. a. O., II, S. 475.

10. Weltgeschichte, 1846, IV, 452 ff.

11. Mommsen, Römische Geschichte, V, 517, 518.

12. Friedländer, a. a. O., II, 626.

13. Vergleiche B. Matthias, Römische Alimentarinstitutionen und Agrarwirtschaft, Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik, 1885, VI, S. 503 ff.

14. A. Müller, Jugendfürsorge in der römischen Kaiserzeit, 1908, S. 21.

15. A. a. O., S. 7, 8.

16. Der Kaiser Hadrian, 1884.

17. Römische Geschichte, 1845, V, S. 312.

18. Pöhlmann, Geschichte des antiken Kommunismus, II, S. 252 ff.

19. Friedländer, Sittengeschichte Roms, I, S. 42 bis 47.

20. Plinius, Naturgeschichte, XXXIII, 17.

21. Kalthoff, Die Entstehung des Christentums, S. 133.

22. Octavianus Augustus, Kap. 32.

23. Römische Geschichte, III, 476.

24. Plinius, Briefe, X, 42 und 43.

25. Hertzberg, Geschichte des römischen Kaiserreichs, S. 451.

26. Lafargue, Der Mythus von der unbefleckten Empfängnis, Neue Zeit, XI, 1, 849.

27. Zitiert von Mommsen, Römische Geschichte, V, 585.

28. Urchristentum, I, 412.

29. Pfleiderer, Entstehung des Christentums, 198, 199.

30. A. a. O., S. 147.

31. Das Wort Angelus bedeutet ursprünglich nichts anderes als einen Boten.


Zuletzt aktualisiert am 26.12.2011