Karl Kautsky

Der Ursprung des Christentums


IV. Die Anfänge des Christentums


4. Die Passionsgeschichte Christi


Es ist herzlich wenig, was wir aus den Evangelien mit einiger Wahrscheinlichkeit als wirkliche Tatsachen aus dem Leben Jesu feststellen können: seine Geburt und seinen Tod; zwei Tatsachen, die allerdings, wenn sie sich nachweisen lassen, beweisen, daß Jesus wirklich gelebt hat und keine bloße mythologische Figur war, die aber noch kein Licht auf das werfen, was bei einer historischen Persönlichkeit das wichtigste ist: die Tätigkeit, die sie zwischen ihrer Geburt und ihrem Tode entfaltete. Das Gewirr von Sittensprüchlein und Wundertaten, welches die Evangelien als Bericht darüber bringen, enthält so viel Unmögliches und erwiesenermaßen Erfundenes, enthält so gar nichts durch andere Zeugnisse Beglaubigtes, daß es als Quelle nicht zu verwerten ist.

Nicht viel besser steht es mit den Zeugnissen über Geburt und Tod Jesu. Dennoch haben wir hier einige Anhaltspunkte dafür, daß sie unter einem Wust von Erfindungen einen tatsächlichen Kern verbergen. Auf einen solchen dürfen wir schon daraus schließen, daß die Erzählungen Mitteilungen enthalten, die für das Christentum sehr unbequem waren, die es sicher nicht erfunden hätte, die aber in den Kreisen seiner Anhänger offenbar zu bekannt und anerkannt waren, als daß die Evangelienschreiber hätten wagen dürfen, sie durch eigene Erfindungen zu ersetzen, wie sie es so oft in unbedenklichster Weise taten.

Die eine dieser Tatsachen ist die galiläische Abkunft Jesu. Sie war sehr unbequem für seine davidisch-messianischen Ansprüche. Der Messias mußte auf jeden Fall aus der Davidstadt stammen. Wir haben gesehen, welche sonderbaren Ausflüchte notwendig waren, dem Galiläer diesen Abstammungsort zuzuweisen. Wäre Jesus das bloße Phantasieprodukt einer messianisch verzückten Gemeinde gewesen, dann hätte sie nie daran gedacht, ihn zum Galiläer zu machen. Seine galiläische Abkunft und damit seine Existenz selbst dürfen wir also mindestens als höchst wahrscheinlich annehmen. Ebenso aber auch seinen Tod am Kreuze. Wir haben gesehen, daß in den Evangelien noch Stellen zu finden sind, die annehmen lassen, er habe eine gewaltsame Erhebung geplant und sei dafür gekreuzigt worden. Auch das war eine so unbequeme Tatsache, daß sie kaum auf Erfindung beruhen wird. Sie widersprach zu sehr dem Geiste, der im Christentum zu der Zeit herrschte, in der es begann, sich auf sich selbst zu besinnen und die Geschichte seines Ursprungs zu schreiben, freilich nicht zu historischen, sondern zu polemischen und agitatorischen Zwecken.

Der Kreuzestod des Messias selbst war eine dem jüdischen Denken so fernliegende Idee, das sich den Messias nur in aller Herrlichkeit eines siegreichen Helden vorzustellen vermochte, daß es eines wirklichen Vorkommnisses bedurfte, des Märtyrertodes eines Vorkämpfers der guten Sache, der einen unauslöschlichen Eindruck auf seine Anhänger machte, um der Idee des gekreuzigten Messias einen Boden zu schaffen.

Als die Heidenchristen die Überlieferung dieses Kreuzestodes übernahmen, fanden sie aber bald ein Haar darin: die Überlieferung sagte, daß Jesus als jüdischer Messias, als König der Juden, das heißt als Verfechter der jüdischen Selbständigkeit, als Hochverräter an der römischen Herrschaft, von den Römern gekreuzigt worden war. Nach dem Falle Jerusalems wurde diese Überlieferung doppelt unbequem. Das Christentum war in vollsten Gegensatz zum Judentum geraten, dagegen wollte es sich mit der römischen Obrigkeit gut stellen. Nun galt es, die Überlieferung so zu drehen, daß die Schuld an der Kreuzigung Christi von den Römern auf die Juden abgewälzt, Christus selbst nicht nur von jeder Gewalttätigkeit, sondern auch von jeder jüdisch-patriotischen, römerfeindlichen Gesinnung gereinigt wurde.

Da aber die Evangelisten fast ebenso unwissende Leute waren wie die Masse des niederen Volkes in jener Zeit, produzierten sie bei ihrer Umfärbung des ursprünglichsten Bildes die sonderbarsten Farbenmischungen.

Wohl nirgends in den Evangelien finden wir mehr Widersprüche und Ungereimtheiten, als in jenem Teil, der seit bald zwei Jahrtausenden stets den größten Eindruck auf die christliche Welt gemacht und ihre Phantasie aufs mächtigste befruchtet hat. Kaum ein anderer Gegenstand wird so häufig gemalt worden sein wie das Leiden und Sterben Christi. und doch verträgt diese Geschichte keine nüchterne Prüfung und bildet eine Häufung der unkünstlerischsten, krassesten Effekte.

Es war nur die Macht der Gewohnheit, die selbst die höchsten Geister der Christenheit gegen die unglaublichsten Zutaten der Verfasser der Evangelien unempfindlich machte, so daß die ursprüngliche Tragik, die in der Kreuzigung Jesu wie in jedem Martyrium für eine große Sache liegt, trotz diesen Wustes stets ihre Wirkung übte und selbst dem Lächerlichen und Widersinnigen eine höhere Glorie verlieh. Die Passionsgeschichte beginnt mit dem Einzug Jesu in Jerusalem. Es ist der Triumphzug eines Königs. [1] Die Bevölkerung zieht ihm entgegen, die einen breiten die Kleider vor ihm auf den Weg, andere hauen Zweige von den Bäumen, um damit seinen Weg zu bestreuen, und alles jubelt ihm zu:

„Hosianna (hilf uns!), gesegnet sei, der da kommt im Namen des Herrn, gesegnet sei das Reich unseres Vaters David, das da kommt.“ (Markus 11, 9)

In dieser Weise wurden bei den Juden Könige empfangen. (Vergleiche Könige 9, 13 von Jehu.)

Alles Volk hängt Jesus an, nur die Aristokratie und Bourgeoisie, die „Hohenpriester und Schriftgelehrten“, sind ihm Feind. Wie ein Diktator benimmt sich Jesus. Er ist stark genug, ohne den geringsten Widerstand zu finden, die Verkäufer und Bankiers aus dem Tempel zu jagen. In dieser Zitadelle des Judentums herrscht er unumschränkt.

Das ist natürlich eine Aufschneiderei der Evangelisten. Hätte Jesus je solche Macht besessen, so wäre das nicht unbemerkt vorübergegangen. Ein Autor, wie Josephus, der die unbedeutendsten Details erzählt, wüßte davon zu berichten. Auch waren die proletarischen Elemente in Jerusalem, wie die Zeloten, nie so stark, die Stadt unumschränkt zu beherrschen. Sie stießen immer wieder auf Widerstand. Wollte Jesus im Gegensatz zu den Sadduzäern und Pharisäern in Jerusalem einziehen und den Tempel reinigen, so mußte er vorher im Straßenkampf siegen. Straßenkämpfe zwischen den verschieden Richtungen des Judentums waren damals in Jerusalem alltägliche Ereignisse.

Bemerkenswert in der Erzählung seines Einzugs aber ist es, daß sie die Bevölkerung Jesus begrüßen läßt als den Bringer „des Reiches unseres Vaters David“, das heißt, als den Wiederhersteller der Selbständigkeit des jüdischen Reiches. Das zeigt Jesus nicht bloß als Gegner der herrschenden Klassen im Judentum, sondern auch als den der Römer. In dieser Gegnerschaft haben wir offenbar nicht christliche Phantasie, sondern jüdische Wirklichkeit vor uns.

Im evangelischen Bericht kommen nun jene Ereignisse, die wir schon behandelt haben: die Aufforderung an die Jünger, sich zu bewaffnen, der Verrat des Judas, der bewaffnete Zusammenstoß am Ölberg. Wir haben schon gesehen, daß wir da Reste der alten Überlieferung vor uns haben, die später nicht mehr paßten und im Sinne friedlicher Unterwerfung übermalt wurden.

Jesus wird gefangen genommen, in den Palast des Hohenpriesters geführt und ihm dort der Prozeß gemacht:

„Die Hohenpriester aber und das ganze Synedrium suchten Zeugnis gegen Jesum, um ihn zu töten, und fanden keines: Denn viele legten falsches Zeugnis gegen ihn ab; und die Zeugnisse waren nicht gleich ... und der Hohepriester trat vor und befragte Jesus: Antwortest du gar nichts auf das, was diese gegen dich zeugen? Er aber schwieg und antwortete nichts. Wiederum befragte ihn der Hohepriester und sagte zu ihm: Bist du der Messias, der Sohn des Hochgelobten Jesus aber sagte: Ich bin es, und ihr werdet den Sohn des Menschen sitzen sehen zur Rechten der Macht und kommen mit den Wolken des Himmels. Der Hohepriester aber zerriß seine Kleider und sagte: Was brauchen wir noch Zeugen! Ihr habt die Lästerung gehört; wie scheint es euch? Sie aber verurteilten ihn alle zum Tode.“ (Markus 14, 55 ff.)

Wahrlich, ein sonderbares Gerichtsverfahren! Der Gerichtshof tritt sofort nach der Festnahme des Gefangenen zusammen, noch in der Nacht, und zwar nicht im Gerichtsgebäude, das wahrscheinlich auf dem Tempelberg lag [2], sondern im Palast des Hohenpriesters! Man stelle sich die Zuverlässigkeit des Berichts über einen Hochverratsprozeß in Deutschland vor, der den Gerichtshof etwa im königlichen Schlosse von Berlin tagen ließe! Nun treten falsche Zeugen gegen Jesus auf, aber trotzdem sie niemand in ein Kreuzverhör nimmt, Jesus auf ihre Anklagen schweigt, bringen sie nichts vor, was ihn belastet. Erst Jesus belastet sich, indem er bekennt, daß er der Messias sei. Ja, wozu der Apparat der falschen Zeugen, wenn dies Bekenntnis genügt, Jesus zu verurteilen? Sie haben keinen anderen Zweck, als die Schlechtigkeit der Juden zu demonstrieren. Das Todesurteil wird ohne weiteres sofort abgegeben. Darin liegt eine Verletzung der vorgeschriebenen Formen, denen gerade das Judentum jener Zeit besonders peinlich anhängt. Nur ein freisprechendes Urteil durfte der Gerichtshof sofort fällen, ein verdammendes erst am Tage nach der Verhandlung.

Durfte aber das Synedrium damals noch Todesurteile aussprechend. Der Sanhedrin sagt: „Vierzig Jahre vor der Zerstörung des Tempels wurden die Urteile über Leben und Tod von Israel genommen.“

Eine Bestätigung findet das darin, daß das Synedrium Jesus nicht bestraft, sondern nach vollzogenem Prozeß an Pilatus zu erneuter Prozessierung ausliefert, und zwar unter der Anklage des Hochverrats gegen die Römer, der Anklage, .Jesus habe sich zum König der Juden machen, Judäa also von der Römerherrschaft befreien wollen. Eine saubere Anklage durch einen Gerichtshof jüdischer Patrioten! Indes ist es möglich, daß das Synedrium wohl das Recht hatte, Todesurteile auszusprechen, daß sie aber der Bestätigung durch den Prokurator bedurften.

Wie vollziehen sich nun die Dinge vor dem römischen Machthaber?

„Pilatus befragte Jesus: Bist du König der Juden? Er aber antwortete ihm: Du sagst es. Und die Hohenpriester brachten viele Klagen gegen ihn vor. Pilatus aber befragte ihn wiederum: Antwortest du nichts? Siehe, was sie alles gegen dich vorbringen. Jesus aber antwortete gar nichts mehr, so daß sich Pilatus verwunderte. Auf das Fest aber pflegte er ihnen einen Gefangenen freizugeben, welchen sie sich ausbaten, Es lag aber ein Mann namens Barrabas in Fesseln mit den Aufrührern, die beim Aufruhr Mord verübt hatten. Und das Volk zog hinauf und fing an, zu fordern, wie er ihnen sonst tat. Pilatus aber antwortete ihnen: Wollet ihr, daß ich euch den König der Juden freigebe? Denn er erkannte, daß die Hohenpriester ihn aus Neid überliefert hatten. Die Hohenpriester aber wiegelten die Menge auf, daß er ihnen lieber den Barrabas freigeben solle. Pilatus aber antwortete ihnen wieder: Was wollt ihr denn, daß ich mit dem tue, den ihr den König der Juden nennt? Sie aber schrien wieder: Kreuzige ihn! Pilatus aber sagte zu ihnen: Was hat er denn Böses getan? Sie aber schrien nur lauter: Kreuzige ihn! Pilatus aber wollte das Volk befriedigen und ließ ihnen den Barrabas los, den Jesus aber ließ er geißeln und lieferte ihn aus zur Kreuzigung.“ (Markus 15, 2 ff.)

Bei Matthäus geht Pilatus so weit, daß er sich vor der Menge die Hände wäscht und erklärt: Ich bin unschuldig an diesem Blute, sehet ihr zu. Und das ganze Volk antwortete: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!

Lukas endlich erzählt nichts davon, daß das Synedrium Jesus verurteilt. Es tritt bloß als Denunziant bei Pilatus auf.

„Und ihre ganze Versammlung stand auf und brachte ihn zu Pilatus. Sie fingen aber an, ihn zu verklagen und sagten: Diesen haben wir erfunden als einen, der unser Volk aufwiegelt und dem Kaiser Steuer zu geben wehrt und sich selbst für den Messias und König ausgibt. Pilatus aber fragte ihn: Bist du der König der Juden? Er aber antwortete ihm: Du sagst es. Pilatus aber sagte zu den Hohenpriestern und zu der Masse des Volkes: Ich finde keine Schuld an diesem Menschen. Sie aber behaupteten noch eifriger, daß er das Volk mit seinen Lehren aufwiegle durch ganz Judäa und Galiläa.“ (23, 1 ff.)

Lukas dürfte der Wahrheit am nächsten kommen. Hier wird Jesus direkt des Hochverrats vor Pilatus beschuldigt. und mit stolzem Mute leugnet er seine Schuld nicht. Von Pilatus befragt, ob er der König der Juden sei, also ihr Führer im Unabhängigkeitskampf, erklärt Jesus: Du sagst es. Das Evangelium des Johannes fühlt, wie unbequem dieser Rest jüdischen Patriotentums sei, es läßt daher Jesus antworten: Mein Königreich ist nicht von dieser Welt. Wäre es von dieser Welt, so hätten meine Diener gekämpft. Das Johannesevangelium ist das jüngste. Es dauerte also ziemlich lange, bis sich die christlichen Literaten zu dieser Fälschung des ursprünglichen Tatbestandes entschlossen.

Die Sache lag offenbar für Pilatus sehr einfach. Wenn er als Vertreter der römischen Macht den Rebellen Jesus hinrichten ließ, tat er nur, was seines Amtes war.

Die Masse des Judentums hat dagegen nicht die geringste Ursache, sich über einen Mann zu entrüsten, der von der Römerherrschaft nichts wissen will und auffordert, dem Kaiser die Steuern zu verweigern. Wenn Jesus das wirklich tat, handelte er ganz im Sinne des Zelotentums, das damals in der Bevölkerung Jerusalems dominierte.

Aus der Natur der Sache folgt also, wenn wir die im Evangelium verzeichnete Anklage als richtig annehmen, daß die Juden Jesus sympathisch gegenüberstehen, Pilatus dagegen ihn verurteilen mußte.

Was verzeichnen aber die Evangelien? Pilatus findet nicht die geringste Schuld an Jesus, trotzdem dieser selbst sie bekennt. Immer wieder behauptet der Landvogt, der Angeklagte sei unschuldig, und er frägt, was habe dieser denn Böses getan?

Das ist schon sonderbar genug. Aber noch sonderbarer: trotzdem Pilatus die Schild Jesu nicht anerkennt, spricht er ihn doch nicht frei.

Nun kam es mitunter vor, daß der Prokurator einen politischen Fall zu verwickelt fand, um ihn selbst zu entscheiden. Aber es ist unerhört, daß ein Beamter des römischen Kaisers sich dadurch aus seiner Verlegenheit zu befreien suchte, daß er die Volksmasse befragte, was mit dem Angeklagten zu geschehen habe. Wollte er einen Hochverräter nicht selbst verurteilen, dann mußte er ihn vor den Kaiser nach Rom schicken. Das tat zum Beispiel der Prokurator Antonius Felix (52 bis 60). Er lockte das Haupt der Zeloten Jerusalems, den Bandenführer Eleazar, der zwanzig Jahre lang das Land unsicher gemacht hatte, unter der Zusicherung freien Geleits zu sich, nahm ihn gefangen und sandte ihn nach Rom. Von seinen Anhängern aber ließ er viele kreuzigen.

So hätte auch Pilatus Jesus nach Rom schicken können. Die Rolle dagegen, die Matthäus ihn spielen läßt, ist geradezu lächerlich: Ein römischer Richter, ein Vertreter des Kaisers Tiberius, der Herr über Leben und Tod, der eine Volksversammlung Jerusalems anbettelt, sie solle ihm erlauben, den Angeklagten freizusprechen, und der auf ihre ablehnenden Zurufe hin erwidert: Nun, dann tötet ihn, ich bin unschuldig daran!

Diese Rolle paßt zu dem historischen Pilatus wie die Faust aufs Auge. Agrippa I. neunt Pilatus in einem Brief an Philo „einen unbeugsamen und rücksichtslos harten Charakter“, und er wirft ihm vor „Bestechlichkeit, Gewalttaten, Räubereien, Mißhandlungen, Kränkungen, fortwährende Hinrichtungen ohne Urteilsspruch, endlose und unerträgliche Grausamkeiten“.

Seine Härte und Rücksichtslosigkeit erzeugte so scheußliche Zustände, daß es selbst der römischen Zentralregierung zu viel wurde und sie ihn abberief (36 n. Chr.).

Und gerade der soll dem proletarischen Hochverräter Jesus gegenüber eine so ausnehmende Gerechtigkeitsliebe und Mildherzigkeit au den Tag gelegt haben, die zum Unglück für den Angeklagten nur noch durch eine geradezu alberne Schwächlichkeit gegenüber dem Volk übertroffen wurde!

Die Evangelisten waren zu unwissend, um sich daran zu stoßen, indes mochten sie doch ahnen, daß sie dem römischen Statthalter eine zu sonderbare Rolle zumuteten. So suchten sie nach einem Motiv, sie glaubwürdiger zu gestalten: Sie berichten, die Juden seien gewöhnt gewesen, daß Pilatus ihnen zu Ostern einen Gefangenen freigebe, und als er ihnen nun die Freilassung Jesu anbot, erwiderten sie: Nein, wir wollen lieber den Mörder Barrabas haben!

Sonderbar ist dabei schon, daß von einem derartigen Gebrauch außer in den Evangelien nichts bekannt ich. Er widerspricht den römischen Einrichtungen, die den Statthaltern kein Recht der Begnadigung gaben. Und es widerspricht jedem geordneten Rechtszustand, das Begnadigungsrecht nicht etwa einer verantwortlichen Körperschaft, sondern einer zufällig zusammenlaufenden Menge zu übertragen. Derartige juristische Zustände können bloß Theologen ohne weiteres für bare Münze nehmen.

Aber selbst, wenn wir davon absehen und uns mit dem sonderbaren Begnadigungsrecht der jüdischen Menge, die sich vor dem Quartier des Prokurators gerade herumtreibt, abfinden wollen, so muß man sich doch fragen, was hat dieses Recht mit dem vorliegenden Fall zu tun?

Jesus ist ja noch gar nicht rechtskräftig verurteilt. Pontius Pilatus steht vor der Frage: Ist Jesus schuldig des Hochverrats oder nicht? Soll ich ihn verurteilen oder nicht? Und er antwortet mit der Frage: Wollt ihr zu seinen Gunsten von eurem Begnadigungsrecht Gebrauch machen oder nicht?

Pilatus hat das Urteil zu sprechen, und statt das zu tun, appelliert er an die Begnadigung! Ja, hat er nicht das Recht, Jesum freizusprechen, wenn er ihn für unschuldig hält?

Und da taucht eine neue Ungeheuerlichkeit auf. Die Juden haben angeblich das Recht der Begnadigung, und wie üben sie es aus? Begnügen sie sich damit, die Freilassung des Barrabas zu fordern? Nein, sie fordern die Kreuzigung Jesu! Die Evaugelisten bilden sich offenbar ein, aus dem Recht, den einen zu begnadigen, entspringe auch das Recht, den anderen zu verurteilen.

Dieser wahnsinnigen Art der Rechtsprechung entspricht eine nicht minder wahnsinnige Art der Politik.

Die Evangelisten führen uns eine Volksmenge vor, die Jesus in einem solchen Grade haßt, daß sie lieber einen Mörder begnadigt als ihn; anugerechnet einen Mörder – ein würdigeres Objekt der Begnadigung fand diese Menge nicht –; und daß sie sich nicht beruhigt, ehe er nicht zur Kreuzigung geführt wird.

Man bedenke, das ist dieselbe Menge, die tags vorher ihn noch mit Hosianna wie einen König begrüßte, auf seinem Weg Kleider vor ihm ausbreitete und einmütig, ohne den. mindesten Widerspruch, ihm zujubelte. Gerade diese Anhänglichkeit der Menge war nach den Evangelien der Grund, warum die Aristokraten Jesus nach dem Leben trachteten, warum sie es aber auch nicht wagten, ihn bei hellem Tage zu verhaften, sondern die Nacht dazu wählten. und nun zeigte sich dieselbe Menge ebenso einmütig von dem wildesten, fanatischsten Haß gegen ihn beseelt – gegen den Mann, der angeklagt war eines Verbrechens, das ihn in den Augen jedes jüdischen Patrioten der höchsten Verehrung würdig machte: des Versuchs, das jüdische Gemeinwesen von der Fremdherrschaft zu befreien.

Was ist vorgefallen, um diesen ganz überraschenden Gesinnungswechsel zu bewirken? Es bedürfte der gewaltigsten Motive, ihn begreiflich zu machen. Die Evangelisten stammeln nur ein paar lächerliche Redensarten, soweit sie überhaupt etwas sagen. Lukas und Johannes geben überhaupt keine Motivierung, Markus sagt: „Die Hohenpriester wiegelten die Menge auf“ gegen Jesus, Matthäus: Sie „beredeten die Masse“.

Diese Redensarten beweisen bloß, wie sehr den christlichen Literaten auch der letzte Rest politischen Empfindens und politischen Wissens abhanden gekommen war.

Selbst die charakterloseste Masse läßt sich zu fanatischem Haß nicht bereden ohne irgend einen Grund. Der Grund mag töricht oder niederträchtig sein, aber ein Grund muß vorhanden sein. Die jüdische Masse übertrifft bei den Evangelisten den infamsten und albernsten Theaterbösewicht an alberner Infamie, denn ohne den mindesten Grund, ohne die leiseste Veranlassung rast sie nach dem Blute dessen, den sie gestern noch angebetet.

Die Sache wird noch alberner, wenn man die politischen Verhältnisse jener Zeit in Betracht zieht. Im Gegensatz zu fast allen übrigen Bestandteilen des römischen Reiches wies das jüdische Gemeinwesen ein ungemein starkes politisches Leben auf, die schärfste Zuspitzung aller sozialen und politischen Gegensätze. Die politischen Parteien waren wohl organisiert, nichts weniger als haltlose Massen. Die unteren Klassen Jerusalems hatte der Zelotismus völlig gewonnen, und sie standen in stetem und schroffem Gegensatz zu den Sadduzäern und Pharisäern, waren von wildestem Haß gegen das Römertum erfüllt. Ihre besten Verbündeten bildeten die rebellischen Galiläer.

Selbst wenn es den Sadduzäern und Pharisäern gelungen wäre, einige Volkselemente gegen Jesus „aufzuwiegeln“, sie hätten unmöglich eine einstimmige Kundgebung erzielen können, sondern im besten Fall einen erbitterten Straßenkampf. Nichts komischer als die Vorstellung von Zeloten, die sich mit wildem Geschrei nicht etwa auf Römer und Aristokraten stürzen, sondern auf den angeklagten Rebellen, dessen Hinrichtung sie dem für den Hochverräter schwärmenden Waschlappen von römischem Kommandanten durch ihre fanatische Wut abtrotzen.

Eine kindischere Ungeheuerlichkeit ist noch nie erdacht worden.

Nachdem es aber den Evangelisten auf diese geniale Manier gelungen ist, den Bluthund Pilatus als ein Unschuldslamm und die dem Judentum angeborene Verworfenheit als die wirkliche Ursache der Kreuzigung des so harmlosen und friedlichen Messias erscheinen zu lassen, ist ihre Kraft erschöpft. Ihr Erfindungstalent versiegt für einen Moment und die alte Darstellung kommt wenigstens vorübergehend wieder zu ihrem Recht: Jesus wird nach seiner Verurteilung gehöhnt und mißhandelt, aber nicht etwa von den Juden, nein, von den Soldaten desselben Pilatus, der ihn eben für unschuldig erklärt hat. Nun läßt er ihn durch seine Soldaten nicht bloß kreuzigen, sondern vorher noch geißeln und wegen seines jüdischen Königtums verhöhnen: eine Dornenkrone wird ihm aufgesetzt, ein Purpurmantel angetan, die Soldaten beugen die Knie vor ihm, und dann schlagen sie ihn wieder auf den Kopf und speien ihn an. Auf seinem Kreuz endlich befestigen sie die Inschrift: Jesus, König der Juden.

Hier tritt der ursprüngliche Charakter der Katastrophe wieder deutlich hervor. Hier sind die Römer die erbitterten Feinde Jesu, und der Grund ihres Hohnes wie ihres Hasses liegt in seinem Hochverrat, in seiner Aspiration auf das jüdische Königtum, auf dem Streben nach Abschüttlung der römischen Fremdherrschaft.

Leider dauert dieses Durchschimmern der einfachen Wahrheit nicht lange.

Jesus stirbt, und nun heißt es durch eine Reihe von Knalleffekten den Beweis liefern, daß ein Gott gestorben ist:

„Jesus aber, nachdem er abermals laut aufgeschrien, gab den Geist auf; und siehe, der Vorhang im Tempel zerriß von oben bis unten in zwei Stücke, und die Erde bebte und· die Felsen spalteten sich und die Gräber taten sich auf und viele Leiber der entschlafenen Heiligen standen auf. Und sie· gingen aus den Gräbern hervor und kamen nach seiner Auferstehung in die heilige Stadt und erschienen vielen.“ (Matthäus 27, 50 ff.)

Die Evangelisten berichten nicht, was die auferstandenen „Heiligen“ bei und nach ihrem Massenausflug nach Jerusalem getan, ob sie am Leben blieben oder sich fein säuberlich wieder in ihren Gräbern zur Ruhe legten. Auf jeden Fall sollte man erwarten, daß etwas so Außerordentliches auf alle Zeugen einen überwältigenden Eindruck machen und jedermann von der Göttlichkeit Jesu überzeugen mußte. Aber die Juden bleiben auch jetzt noch verstockt. Wieder sind es nur die Römer, die sich vor der Gottheit beugen.

„Der Hauptmann aber und seine Leute, die .Jesus bewachten, wie sie das Erdbeben sahen und was da vorging, gerieten sie in große Furcht und sprachen: Dieser war wahrhaftig Gottes Sohn.“ (Matthäus 27, 54)

Die Hohenpriester und Pharisäer dagegen erklären trotz alledem Jesus für einen Betrüger (Matthäus 27, 63), und als er von den Toten aufersteht, hat das keine andere Wirkung, als jenes von uns schon erwähnte Trinkgeld an die römischen Augenzeugen, damit sie das Wunder für einen Betrug ausgeben.

So verwandelt am Schlusse der Passionsgeschichte noch jüdische Korruption die biederen römischen Soldaten in Werkzeuge jüdischer Tücke und Niedertracht, die der erhabensten göttlichen Milde teuflische Wut entgegensetzt.

In dieser ganzen Erzählung ist die Tendenz der Servilität gegen die Römer und des Hasses gegen die Juden so dick aufgetragen und in einer solchen Häufung von Sinnlosigkeiten zur Darstellung gebracht, daß man meinen sollte, sie hätte auf denkende Menschen nicht die geringste Wirkung üben können. Und doch wissen wir, daß sie nur zu gut ihren Zweck erreichte. Diese durch den Glorienschein der Gottheit verklärte Erzählung, geadelt durch das Martyrium des stolzen Bekenners einer hohen Sendung, war viele Jahrhunderte hindurch eines der wichtigsten Mittel, auch in höchst wohlwollenden Gemütern der Christenheit Haß und Verachtung gegen das Judentum zu erwecken, das ihnen persönlich ferne stand und von dem sie sich ferne hielten; das Judentum zum Abschaum der Menschheit zu stempeln, zu einer Rasse, die von Natur aus erfüllt ist von verruchtester Bosheit und Verstocktheit, die man fernhalten muß von jeder menschlichen Gemeinschaft, die niederzuhalten ist mit eiserner Faust.

Aber es wäre unmöglich gewesen, daß diese Auffassung des Judentums jemals Geltung erlangt hätte, wenn sie nicht aufgekommen wäre in einer Zeit allgemeinen Judenhasses und allgemeiner Judenverfolgung.

Aus der Ächtung des Judentums geboren, hat sie diese Ächtung unendlich verstärkt, ihre Dauer verlängert, ihren Kreis erweitert.

Was als Geschichte der Passion des Herrn Jesus Christus auftritt, ist im Grunde nur ein Zeugnis für die Passionsgeschichte des jüdischen Volkes.


Fußnoten

1. Der Kuriosität halber sei hier auf „das schriftstellerische Wunder hingewiesen, welches Matthäus in der Weise vollzieht, daß Jesus zu gleicher Zeit auf zwei Tieren reitend seinen Einzug hält“. (Bruno Bauer, Kritik der Evangelien, III, S. 114) Die herkömmlichen Übersetzungen vertuschen dieses Wunder. So übersetzt Luther:

„Und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf und setzten ihn darauf.“ (Matthäus 21, 7)

Aber im Original heißt es: Und sie brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider auf beide (ἐπ᾽ ἀυτῶν) und setzten ihn auf beide (ἐπάνω ἀυτῶν).

Und das hat, bei aller Freiheit im Fälschen, durch die Jahrhunderte hindurch ein Abschreiber dem anderen nachgeschrieben, ein Beweis der Gedankenlosigkeit und Geistlosigkeit der Kommpilatoren der Evangelien.

2. Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes, II, S. 211.


Zuletzt aktualisiert am 26.12.2011