Karl Kautsky

Der Ursprung des Christentums


IV. Die Anfänge des Christentums


6. Christentum und Sozialdemokratie


Die berühmte Einleitung, die Engels zu der Neuausgabe der Marxschen Schrift Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850 im März 1895 verfaßte, schließt mit folgenden Ausführungen:

„Es sind nun fast aufs Jahr 1,600 Jahre, da wirtschaftete im römischen Reich ebenfalls eine gefährliche Umsturzpartei. Sie untergrub die Religion und alle Grundlagen des Staates; sie leugnete geradezu, daß des Kaisers Wille das höchste Gesetz, sie war vaterlandslos, international, sie breitete sich aus über alle Reichslande von Gallien bis Asien und über die Reichsgrenzen hinaus. Sie hatte lange unterirdisch, im verborgenen gewühlt; sie hielt sich aber schon seit längerer Zeit stark genug, offen ans Licht zu treten. Diese Umsturzpartei, die unter dem Namen der Christen bekannt war, hatte auch ihre starke Vertretung im Heer; ganze Legionen waren christlich. Wenn sie zu den Opferzeremonien der heidnischen Landeskirche kommandiert wurden, um dort die Honneurs zu machen, trieben die Umstürzlersoldaten die Frechheit so weit, daß sie zum Protest besondere Abzeichen – Kreuze – an ihre Helme steckten. Selbst die üblichen Kasernenschuhriegeleien der Vorgesetzten waren fruchtlos. Der Kaiser Diokletian konnte nicht länger ruhig zusehen, wie Ordnung, Gehorsam und Zucht in seinem Heere untergraben wurden. Er griff energisch ein, weil es noch Zeit war. Er erließ ein Sozialisten-, wollte sagen Christengesetz. Die Versammlungen der Umstürzler wurden verboten, ihre Saallokalitäten geschlossen oder gar niedergerissen, die christlichen Abzeichen, Kreuze usw., wurden verboten, wie in Sachsen die roten Schnupftücher. Die Christen wurden für unfähig erklärt, Staatsämter zu bekleiden, nicht einmal Gefreite sollten sie werden dürfen. Da man damals noch nicht über so gut auf das ‚Ansehen der Person‘ dressierte Richter verfügte, wie Herrn v. Köllers Umsturzvorlage sie voraussetzt, so verbot man den Christen kurzerhand, sich vor Gericht ihr Recht zu holen. Auch dieses Ausnahmegesetz blieb wirkungslos. Die Christen rissen es zum Hohn von den Mauern herunter, ja, sie sollen dem Kaiser in Nikomedien den Palast über dem Kopf angezündet haben. Da rächte sich dieser durch die große Christenverfolgung des Jahres 303 unserer Zeitrechnung. Sie war die letzte ihrer Art. Und sie war so wirksam, daß siebzehn Jahre später die Armee überwiegend aus Christen bestand und der nächstfolgende Selbstherrscher des gesamten Römerreichs, Konstantin, von den Pfaffen genannt der Große, das Christentum proklamierte als Staatsreligion.“

Wer Engels kennt und diese letzten Zeilen seines „politischen Testaments“ mit den Anschauungen vergleicht, die er sein ganzes Leben hindurch verfolgte, kann nicht im Zweifel darüber sein, was er mit diesem humorvollen Vergleich sagen wollte. Er wollte auf die Unaufhaltsamkeit und Raschheit des Vordringens unserer Bewegung hinweisen, die unwiderstehlich gemacht werde namentlich durch die Zunahme ihrer Anhänger in der Armee, so daß sie bald auch den stärksten Selbstherrscher zur Kapitulation zu zwingen vermöge.

Es spricht aus dieser Schilderung vor allem der kraftvolle Optimismus, der Engels bis an sein Lebensende beseelte.

Aber man hat sie auch anders gedeutet, da sie sich anschließt an Ausführungen, die dartun, daß unsere Partei augenblicklich beim gesetzlichen Weg am besten gedeihe. Es hat Leute gegeben, die. daraus herauslasen, daß Engels in seinem politischen Testament seine ganze Lebensarbeit verleugnet und den revolutionären Standpunkt, den er zwei Menschenalter lang vertreten, schließlich als verkehrt hingegestellt habe. Diese Leute schlossen, Engels sei zu der Erkenntnis gekommen, daß der Marxsche Gedanke, die Gewalt sei die Geburtshelferin jeder neuen Gesellschaft, sich nicht länger aufrechterhalten lasse. Bei dem Vergleich zwischen Christentum und Sozialdemokratie legten die Ausleger dieser Art den Nachdruck nicht auf die Unwiderstehlichkeit und Raschheit des Vordringens, sondern darauf, daß Konstantin das Christentum freiwillig als Staatsreligion anerkannte, daß diese ohne jede gewaltsame Erschütterung des Staates in durchaus friedlicher Weise durch ein Entgegenkommen der Regierung zum Siege gelangte.

So meinten sie, müsse und werde auch die Sozialdemokratie siegen. Und unmittelbar nach Engels Tode schien in der Tat diese Erwartung schon in Erfüllung zu gehen, indem Herr Waldeck-Rousseau in Frankreich als neuer Konstantin auftrat und einen Bischof der neuen Christen, Herrn Millerand, zu seinem Minister machte.

Wer Engels kennt und unbefangen beurteilt, weiß, daß es ihm niemals einfiel, seine revolutionäre Vergangenheit abzuschwören, daß der Schlußpassus seiner Einleitung also nicht in dem Sinne ausgelegt werden darf, der eben gekennzeichnet wurde. Aber man muß zugeben, daß dieser Passus nicht sehr deutlich gefaßt ist. Von Leuten, die Engels nicht kennen, aber die meinen, unmittelbar vor seinem Tode habe ihn ein plötzlicher Zweifel an der Zweckmäßigkeit seiner ganzen Lebensarbeit erfaßt, kann die Stelle, für sich allein betrachtet, wohl so ausgelegt werden, als sei der Weg zum Siege, den das Christentum zurücklegte, vorbildlich für den Weg zum Ziele, der der Sozialdemokratie bevorsteht.

Wäre das Engels’ wirkliche Meinung gewesen, dann hätte er über die Sozialdemokratie nichts Schlimmeres sagen können, dann hätte er nicht den kommenden Triumph, sondern das völlige Unterliegen des großen Zieles prophezeit, dem die Sozialdemokratie dient.

Es ist bezeichnend, daß die Leute, die den fraglichen Passus für sich ausbeuten, an allem Großen und Tiefen bei Engels verständnislos oder mißtrauisch vorbeigehen, dagegen Sätze mit Begeisterung aufnehmen, die, wenn sie wirklich das enthielten, was hineingelegt wird, durch und durch verfehlt wären.

Wir haben gesehen, daß das Christentum erst zum Siege gelangte, als es sich in das gerade Gegenteil seines ursprünglichen Wesens verwandelt hatte; daß im Christentum nicht das Proletariat zum Siege gelangte, sondern der es ausbeutende und beherrschende Klerus; daß das Christentum siegte nicht als umstürzlerische, sondern als konservative Macht, als neue Stütze der Unterdrückung und Ausbeutung; daß es die kaiserliche Macht, die Sklaverei, die Besitzlosigkeit der Massen und die Konzentration des Reichtums in wenigen Händen nicht nur nicht beseitigte, sondern befestigte. Die Organisation des Christentums, die Kirche, siegte dadurch, daß sie ihre ursprünglichen Ziele preisgab und deren Gegenteil verfocht.

Wahrlich, wenn der Sieg der Sozialdemokratie sich in gleicher Weise vollziehen sollte, wie der des Christentums, dann wäre das ein Grund, nicht der Revolution, sondern der Sozialdemokratie abzuschwören, dann gäbe es vom proletarischen Standpunkt keine schärfere Anklage gegen die Sozialdemokratie, dann wären die Attacken der Anarchisten gegen sie nur zu sehr berechtigt. In der Tat hat der Versuch des sozialistischen Ministerialismus in Frankreich, der auf bürgerlicher wie sozialistischer Seite die christliche Methode der Verstaatlichung des Christentums von Anno dazu·mal nachzuahmen versuchte – kurioserweise zur Bekämpfung des Staatschristentums von heute –, nichts anderes zur Folge gehabt, als ein Erstarken des halbanarchistischen, antisozialdemokratischen Syndikalismus.

Aber zum Glück ist die Parallele zwischen Christentum und Sozialdemokratie in diesem Zusammenhang vollständig verfehlt.

Wohl ist das Christentum in seinem Ursprung eine Bewegung der Besitzlosen, gleich der Sozialdemokratie, und haben daher beide vieles miteinander gemein, was auch im vorstehenden mehrfach hervorgehoben wurde.

Engels hat darauf ebenfalls kurz vor seinem Tode hingewiesen in einem Artikel Zur Geschichte des Urchristentums in der Neuen Zeit [1], der bezeugt, wie sehr sich Engels damals mit dem Gegenstand beschäftigte, so daß ihm die Parallele in seiner Einleitung zu den Klassenkämpfen in Frankreich nahelag. Er schreibt dort:

„Die Geschichte des Urchristentums bietet merkwürdige Berührungspunkte mit der modernen Arbeiterbewegung. Wie diese war das Christentum im Ursprung eine Bewegung Unterdrückter; es trat zuerst auf als Religion der Sklaven und Freigelassenen, der Armen und Rechtlosen, der von Rom unterjochten oder zersprengten Völker. Beide, Christentum wie Sozialismus, predigen eine bevorstehende Erlösung aus Knechtschaft und Elend; das Christentum setzt diese Erlösung in ein jenseitiges Leben nach dem Tode in den Himmel, der Sozialismus in diese Welt, in eine Umgestaltung der Gesellschaft. Beide werden verfolgt und gehetzt, ihre Anhänger geächtet, unter Ausnahmegesetze gestellt, die einen als Feinde des Menschengeschlechts, die anderen als Reichsfeinde, Feinde der Religion, der Familie, der gesellschaftlichen Ordnung. Und trotz aller Verfolgungen, ja sogar siegreich gefördert durch sie, dringen beide siegreich, unaufhaltsam vor. Dreihundert Jahre nach seinem Entstehen ist das Christentum anerkannte Staatsreligion des römischen Weltreiches, und in kaum sechzig Jahren hat sich der Sozialismus eine Stellung erobert, die ihm den Sieg absolut sicherstellt.“

Diese Parallele ist im großen und ganzen richtig, freilich mit einigen Einschränkungen: Das Christentum ist kaum eine Religion der Sklaven zu nennen, für die es nichts getan hat. Andererseits war die Erlösung aus dem Elend, die das Christentum verkündete, anfangs sehr materiell, auf dieser Welt, nicht im Himmel gedacht. Dieser letztere Umstand vermehrt aber noch die Ähnlichkeit mit der neueren Arbeiterbewegung.

Engels fährt fort:

„Die Parallele beider geschichtlichen Erscheinungen drängt sich schon im Mittelalter auf, bei den ersten Erhebungen unterdrückter Bauern und namentlich städtischer Plebejer ... Sowohl, die französischen revolutionären Kommunisten, wie namentlich Weitling und seine Anhänger, berufen sich aufs Urchristentum, lange bevor Ernest Renan sagte: Wollt ihr euch eine Vorstellung von den ersten christlichen Gemeinden machen, so seht euch eine lokale Sektion der Internationalen Arbeiterassoziation an.

„Der französische Belletrist, der auf Grundlage einer, selbst in der modernen Journalistik beispiellosen Ausschlachtung der deutschen Bibelkritik den kirchengeschichtlichen Roman Origines du Christianisme anfertigte, wußte selbst nicht, wieviel Wahres in obigem Worte lag. Ich möchte den alten ‚Internationalen‘ sehen, der zum Beispiel den sogenannten zweiten Brief an die Korinther lesen kann, ohne daß wenigstens in einer Beziehung alte Wunden bei ihm aufbrechen.“

Engels verfolgt dann noch eingehender den Vergleich zwischen dem Urchristentum und der Internationale, untersucht aber nicht den weiteren Verlauf der Entwicklung des Christentums wie der Arbeiterbewegung. Der dialektische Umschlag des ersteren beschäftigte ihn nicht, und doch hätte er, wenn er ihm nachgegangen wäre, auch Keime zu einem ähnlichen Umschlagen in der modernen Arbeiterbewegung entdecken können. Wie das Christentum, muß auch diese in ihrem Wachstum sich ständige Organe schaffen, eine Art Berufsbureaukratie in der Partei wie in den Gewerkschaften, ohne die sie nicht auskommt, die für sie eine Notwendigkeit ist, die immer mehr anwachsen und immer wichtigere Funktionen erhalten muß.

Diese Bureaukratie, zu der man im weiteren Sinne nicht bloß die Verwaltungsbeamten rechnen darf, sondern auch Redakteure und Abgeordnete, wird sie sich im weiteren Verlauf der Entwicklung nicht auch, wie der Klerus mit dem Bischof an der Spitze, zu einer neuen Aristokratie ausbilden? Zu einer Aristokratie, die die arbeitende Masse beherrscht und ausbeutet und die schließlich die Kraft erringt, mit der Staatsgewalt als ebenbürtige Macht zu verhandeln, die aber auch das Bedürfnis hat, nicht sie umzuwälzen, sondern sich ihr einzugliedern?

An diesem Endergebnis wäre nicht zu zweifeln, wenn die Parallele genau stimmte. Aber zum Glück ist das nicht der Fall. So viele Ähnlichkeiten es auch zwischen Christentum und moderner Arbeiterbewegung geben mag, so gibt es doch auch Unterschiede zwischen ihnen, und zwar solche fundamentaler Natur.

Vor allem ist das Proletariat heute ein ganz anderes als das der Anfänge des Christentums. Wohl ist die herkömmliche Anschauung übertrieben, als habe das freie Proletariat damals ausschließlich aus Bettlern bestanden, als seien die Sklaven die einzigen Arbeiter gewesen. Aber gewiß ist es, daß die Sklavenarbeit auch die freien, arbeitenden Proletarier, die meistens Heimarbeiter waren, korrumpierte. Das Ideal des arbeitenden Proletariers ging damals ebenso wie das des Bettlers dahin, eine arbeitslose Existenz auf Kosten der Reichen zu gewinnen, die das nötige Quantum Produkte aus den Sklaven herausschinden sollten.

Auch war das Christentum in den ersten drei Jahrhunderten eine ausschließlich städtische Bewegung, die städtischen Proletarier hatten aber in jener Zeit insgesamt, auch die arbeitenden, für den Bestand der Gesellschaft wenig zu bedeuten, deren produktive Grundlage noch fast ausschließlich die Landwirtschaft bildete, mit der sehr wichtige Industriezweige verbunden waren.

Alles das bewirkte, daß die Hauptträger der christlichen Bewegung, die städtischen freien Proletarier, arbeitende wie faulenzende, nicht die Empfindung hatten, die Gesellschaft lebe von ihnen; daß sie alle den Drang hatten, ohne Gegenleistung von der Gesellschaft zu leben. In ihrem Zukunftsstaat spielte die Arbeit keine Rolle.

Damit war von vornherein gegeben, daß trotz allen Klassenhasses gegen die Reichen das Streben, deren Gunst und deren Freigebigkeit zu gewinnen, immer wieder durchbrach und die Hinneigung der kirchlichen Bureaukratie zu den Reichen in den Massen der Gemeinde ebensowenig dauernden Widerstand fand, wie die Überhebung dieser Bureaukratie selbst.

Die ökonomische und moralische Verlumpung des Proletariats im Römerreich wurde aber noch vermehrt durch die allgemeine Verlumpung der ganzen Gesellschaft, die immer mehr verarmte und verkam, deren Produktivkräfte immer mehr abnahmen. So ergriffen Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung alle Klassen, lähmten ihre Selbsttätigteit, ließen sie alle Rettung nur von außerordentlichen, übernatürlichen Mächten erwarten, machten sie zur willenlosen Beute jedes schlauen Betrügers und jedes energischen, selbstbewußten Abenteurers, ließen sie jedes selbständige Ankämpfen gegen eine der herrschenden Mächte als aussichtslos aufgeben.

Wie ganz anders das moderne Proletariat! Es ist ein Proletariat der Arbeit, und es weiß, daß auf seinen Schultern die ganze Gesellschaft ruht. Dabei verschiebt die kapitalistische Produktionsweise den Schwerpunkt der Produktion immer mehr vom flachen Lande in die Industriezentren, in denen das geistige und politische Leben am kräftigsten pulsiert. Deren Arbeiter, die energischsten und intelligentesten von allen, werden jetzt diejenigen Elemente, die das Schicksal der ganzen Gesellschaft in ihrer Hand haben.

Dabei entwickelt die herrschende Produktionsweise die Produktivkräfte enorm und vermehrt damit die Ansprüche, die die Arbeiter an die Gesellschaft stellen, vermehrt aber auch ihre Kraft, diese Ansprüche durchzusetzen. Hoffnungsfreudigkeit, Zuversicht, Selbstbewußtsein erfüllt sie, wie es vor ihnen schon die aufsteigende Bourgeoisie erfüllte und ihr den Drang einflößte, die Ketten der feudalen, kirchlichen, bureaukratischen Herrschaft und Ausbeutung zu zerreißen, wozu ihr der Aufschwung des Kapitals auch die nötige Kraft verlieh.

Der Ursprung des Christentums fällt zusammen mit dem Zusammenbruch der Demokratie. Die drei Jahrhunderte seiner Entwicklung bis zu seiner Anerkennung sind eine Zeit des beständigen Verfalls aller Reste von Selbstverwaltung, wie sie eine Zeit des beständigen Verfalls der Produktivkräfte sind.

Die moderne Arbeiterbewegung nimmt ihren Ausgang von einem ungeheuren Siege der Demokratie, der großen französischen Revolution. Das Jahrhundert, das seitdem verflossen ist, zeigt bei allen Wechselfällen und Schwankungen doch ein stetiges Fortschreiten der Demokratie, ein geradezu märchenhaftes Anwachsen der Produktivkräfte und eine Zunahme nicht bloß der Ausdehnung, sondern auch der Selbständigkeit und Klarheit des Proletariats.

Man braucht nur diesen Gegensatz ins Auge zu fassen, um zu erkennen, daß die Entwicklung der Sozialdemokratie unmöglich in denselben Bahnen verlaufen kann wie die des Christentums, und daß nicht zu befürchten ist, es werde sich aus ihren Reihen eine neue Klasse von Herrschern und Ausbeutern entwickeln, die mit den alten Machthabern die Beute teilt.

Wenn im römischen Kaiserreich die Kampffähigkeit und Kampflust des Proletariats immer mehr abnahm, so steigt sie in der modernen Gesellschaft, die Klassengegensätze verschärfen sich zusehends, und schon daran müssen alle Versuche scheitern, durch Befriedigung seiner Vorkämpfer das Proletariat zum Verzicht auf seinen Kampf zu bewegen. Wo solche Versuche gemacht wurden, sahen sich deren Veranstalter stets bald von ihrem Anhang verlassen, mochten sie sich vorher auch noch so sehr um das Proletariat verdient gemacht haben.

Aber nicht bloß das Proletariat und das politische und gesellschaftliche Milieu, in dem es sich bewegt, ist heute von dem der urchristlichen Zeit vollständig verschieden, auch der Charakter des Kommunismus und die Bedingungen seiner Durchführung sind heute ganz andere als damals.

Das Streben nach Kommunismus, das Bedürfnis danach entspringt freilich jetzt wie frühen der gleichen Quelle, der Besitzlosigkeit, und solange der Sozialismus nur Gefühlssozialismus ist, nur Ausdruck dieses Bedürfnisses, äußert er sich auch in der modernen Arbeiterbewegung mitunter in gleichen Bestrebungen, wie zur Zeit des Urchristentums. Die geringste Einsicht in die ökonomischen Bedingungen des Kommunismus gibt ihm aber in unserer Zeit sofort einen von dem urchristlichen ganz verschiedenen Charakter.

Die Konzentration des Reichtums in wenigen Händen, die im Römerreiche bald Hand in Hand ging mit einem stetigen Abnehmen der Produktivkräfte, an dem sie zum Teil selbst Schuld trug, dieselbe Konzentration ist heute zur Grundlage einer enormen Vermehrung der Produktivkräfte geworden. Wenn die Verteilung des Reichtums damals die Produktivität der Gesellschaft nicht im geril1gsten geschädigt, eher gefördert hätte, würde sie heute völlige Lahmlegung der Produktion bedeute. Der moderne Kommunismus kann heute nicht mehr daran denken, den Reichtum gleichmäßig zu verteilen, er will vielmehr die höchstmögliche Vermehrung der Produktivität der Arbeit und eine gleichmäßigere Verteilung der jährlichen Produkte der Arbeit dadurch anbahnen, daß er die Konzentration des Reichtums auf die Spitze treibt, ihn aus dem privaten Monopol einiger Kapitallistengruppen in ein gesellschaftliches Monopol verwandelt.

Dafür muß aber der moderne Kommunismus, will er den Bedürfnissen des durch die moderne Produktionsweise geschaffenen Menschen entsprechen, den Individualismus des Genießens in vollstem Maße wahren. Dieser Individualismus bedeutet nicht die Absonderung der Individuen voneinander beim Genießen, er kann und wird vielfach auftreten in der Form der Geselligkeit, geselligen Genießens; der Individualismus des Genießens bedeutet auch nicht die Aufhebung des Großbetriebs in der Produktion der Genußmittel, nicht die Ersetzung der Maschine durch die Handarbeit, wie manche ästhetische Sozialisten träumen. Aber der Individualismus des Genießens erfordert die Freiheit in der Wahl der Genüsse, auch die Freiheit in der Wahl der Gesellschaft, mit der man genießt.

Die städtische Volksmasse in der Zeit des Urchristentums kannte dagegen keine Formen gesellschaftlichen Produzierens; der Großbetrieb mit freien Arbeitern existierte in der städtischen Industrie kaum. Wohl aber waren ihr gesellschaftliche, oft von Gemeinde oder Staats wegen festgesetzte Formen des Genießens, namentlich gemeinsame Mahlzeiten, wohlvertraut.

So war der urchristliche Kommunismus einer der Verteilung des Reichtums und der Uniformierung des Genießens, der moderne ist einer der Konzentration des Reichtums und des Produzierens.

Jener urchristliche Kommunismus bedurfte zu seiner Verwirklichung nicht der Ausdehnung auf das Bereich der ganzen Gesellschaft. Mit seiner Durchführung konnte schon innerhalb der gegebenen Gesellschaft begonnen werden, ja, soweit er es vermochte, dauernde Formen anzunehmen, waren diese von einer Art, die es geradezu ausschloß, daß sie zur allgemeinen Form der Gesellschaft wurden.

Daher mußte der urchristliche Kommunismus schließlich wieder zu einer neuen Form von Aristokratie führen, und er mußte diese unsere Dialektik schon innerhalb der Gesellschaft, die er vorfand, entwickeln. Er vermochte die Klassen nicht aufzuheben, sondern der Gesellschaft schließlich nur ein neues Herrschaftsverhältnis einzuverleiben.

Der moderne Kommunismus hat dagegen bei der kolossalen Ausdehnung der Produktionsmittel, dem gesellschaftlichen Charakter der Produktionsweise, der weitgetriebenen Konzentration der wichtigsten Objekte des Reichtums gar nicht die Möglichkeit, in geringerer Ausdehnung verwirklicht zu werden, als der der gesamten Gesellschaft. Alle Versuche, ihn im Rahmen kleiner Gründungen sozialistischer Kolonien oder Produktivgenossenschaften schon in der gegebenen Gesellschaft durchzuführen, sind fehlgeschlagen. Er kann nicht ins Leben gerufen werden durch Bildung kleiner Vereinigungen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft, die nach und nach immer mehr anwachsen und diese aufsaugen, sondern nur durch Gewinnung einer Macht, die imstande ist, das ganze gesellschaftliche Leben zu beherrschen und umzuwandeln. Diese Macht ist die Staatsgewalt. Die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat ist die erste Vorbedingung der Durchführung des modernen Kommunismus.

Solange das Proletariat nicht so weit ist, kann von sozialistischer Produktion keine Rede sein, also auch nicht davon, daß deren Entwicklung Widersprüche zeitigt, die Vernunft in Unsinn und Wohltat in Plage verwandeln. Aber auch wenn das Proletariat die politische Macht erobert hat, wird die sozialistische Produktion nicht mit einem Male als fertiges Ganzes in Erscheinung treten, sondern von da an. nimmt nur die ökonomische Entwicklung plötzlich eine neue Richtung an, nicht mehr zur Zuspitzung des Kapitalismus, sondern zur Ausbildung gesellschaftlicher Produktion. Wams diese so weit sein wird, ihrerseits Widersprüche und Mißstände hervorzurufen, die zu weiterer Entwicklung über sie hinaus in irgend einer noch völlig dunklen Weise führen, das ist heute unabsehbar und braucht uns nicht zu beschäftigen.

Soweit die moderne sozialistische Bewegung verfolgt werden kann, ist es ausgeschlossen, daß sie aus sich Erscheinungen hervorbringt, die mit denen des Christentums als Staatsreligion irgend eine Ähnlichkeit haben. Aber damit ist es freilich auch ausgeschlossen, daß die Art und Weise, wie das Christentum zum Siege gelangte, in irgend einer Weise für die moderne proletarische Emanzipationsbewegung vorbildlich werden kann.

So bequem wie für die Herren Bischöfe des vierten Jahrhunderts wird der Sieg für die Vorkämpfer des Proletariats nicht werden.

Aber nicht bloß für die Zeit bis zu diesem Siege kann man behaupten, daß der Sozialismus aus sich keine Widersprüche erzeugen wird, die mit denen, in welche das Christentum auslief, etwas gemein haben, man kann dasselbe mit großer Sicherheit auch für die Zeit der unabsehbaren Konsequenzen dieses Sieges annehmen.

Denn der Kapitalismus hat die Bedingungen geschaffen, am die Gesellschaft auf eine ganz neue Grundlage zu stellen, völlig verschieden von jeder der Grundlagen, auf denen sie seit der Bildung der Klassenunterschiede stand. Hat bisher jede neue revolutionäre Klasse oder Partei, auch wenn sie viel weiter ging, als das von Konstantin anerkannte Christentum, auch wenn sie vorhandene Klassenunterschiede wirklich beseitigte, doch nie vermocht, alle Klassen aufzuheben, sondern stets nur neue Klassenunterschiede an Stelle der überwundenen zu setzen, so sind heute bereits die materiellen Bedingungen gegeben, alle Klassenunterschiede zu beseitigen, und das moderne Proletariat wird durch sein Klasseninteresse getrieben, diese Bedingungen dazu auszunutzen, denn es bildet jetzt die unterste aller Klassen, im Unterschied zur Zeit des Christentums, wo noch die Sklaven unter ihm standen.

Die Klassenunterschiede und Klassengegensätze darf man keineswegs mit den Unterscheidungen zusammenwerfen, die die Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Berufen erzeugt. Die Gegensätze der Klassen entspringen drei Ursachen: dem Privateigentum an den Produktionsmitteln, der Waffentechnik, der Wissenschaft. Bestimmte technische und soziale Bedingungen erzeugen die Gegensätze zwischen den Besitzern der Produktionsmittel und den von deren Besitz Ausgeschlossenen, dann den Gegensatz zwischen den waffengeübten Wohlgerüsteten und den Wehrlosen, endlich den Gegensatz zwischen den mit der Wissenschaft wohl Vertrauten und den Unwissenden.

Die kapitalistische Produktionsweise schafft die Vorbedingungen zur Aufhebung aller dieser Gegensätze. Sie drängt nicht bloß dazu, das Privateigentum an den Produktionsmitteln aufzuheben, durch die Fülle der Produktivkräfte beseitigt sie auch die Notwendigkeit der Beschränkung der Wehrhaftigkeit und des Wissens auf bestimmte Schichten. Diese Notwendigkeit hatte sich ehedem gebildet, sobald Waffentechnik und Wissenschaft eine höhere Stufe erreicht hatten, so daß freie Zeit und der Besitz materieller Mittel über den Lebensbedarf hinaus erforderlich waren, die Waffen und das Wissen zu erwerben und sich ihrer erfolgreich zu bedienen.

Solange die Produktivität der Arbeit klein blieb und nur geringe Überschüsse lieferte, war nicht jeder einzelne imstande, Zeit und Mittel zu gewinnen, um in der Wehrhaftigkeit oder der Wissenschaft auf der Höhe seiner Zeit zu stehen. Es erforderte sogar die Überschüsse vieler einzelnen, um einen einzigen instand zu setzen, in Wehrhaftigkeit oder Wissenschaft Vollkommenes zu leisten.

Dies war nur erreichbar dadurch, daß wenige viele ans beuteten. Die erhöhte Werhaftigkeit und Intelligenz der wenigen setzte sie instand, die wehrlose, unwissende Masse zu unterdrücken und auszubeuten. Andererseits wurde gerade diese Unterdrückung und Ausbeutung der Masse das Mittel, die Wehrhaftigkeit und Wissenschaft der herrschenden Klassen zu steigern.

Nationen, die Ausbeutung und Unterdrückung von sich fern zu halten wußten, blieben unwissend und oft auch wehrlos gegenüber besser bewehrten und mehr wissenden Nachbarn. Die Nationen der Ausbeuter und Unterdrücker siegten daher im Kampf ums Dasein über jene, die am urwüchsigen Kommunismus und der urwüchsigen Demokratie festhielten.

Die kapitalistische Produktionsweise hat die Produktivität der Arbeit so unendlich hoch entwickelt, daß diese Ursache der Klassengegensätze nicht mehr besteht. Sie erhalten sich nicht mehr als eine gesellschaftliche Notwendigkeit, sondern nur noch als Folge eines überkommenen Machtverhältnisses, so daß sie aufhören, sobald dieses Verhältnis nicht mehr wirkt.

Die kapitalistische Produktionsweise selbst hat dank der großen Überschüsse, die sie erzeugt, den verschiedenen Nationen die Mittel geliefert, zur allgemeinen Wehrpflicht überzugehen und damit die Aristokratie des Kriegertums zu überwinden. Sie selbst bringt aber alle Nationen des Weltmarktes in so enge und dauernde Verbindungen miteinander, daß der Weltfriede immer mehr zu einer dringenden Notwendigkeit wird, jeder Weltkrieg als eine ruchlose Torheit erscheint.

Sind mit der kapitalistischen Produktionsweise auch die wirtschaftlichen Gegensätze zwischen den einzelnen Nationen überwunden, dann wird der heute schon von der Masse der Menschen herbeigesehnte ewige Friedenszustand zur Wirklichkeit. Jener Zustand des Völkerfriedens, den der kaiserliche Despotismus im zweiten Jahrhundert des Christentums für die Nationen am Mittelmeer herbeiführte – der einzige Vorteil von Belang, den er ihnen brachte –, ihn wird die soziale Demokratie im zwanzigsten Jahrhundert für die Nationen der Welt begründen.

Damit verschwindet vollends jede Grundlage des Gegensatzes zwischen den Klassen der Wehrhaften und der Wehrlosen.

Nicht minder aber schwinden auch die Grundlagen des Gegensatzes zwischen Gebildeten und Ungebildeten. Heute schon hat die kapitalistische Produktionsweise die Produktionsmittel des Wissens durch den Buchdruck ungemein verbilligt und den Massen zugänglich gemacht. Gleichzeitig erzeugt sie eine wachsende Nachfrage nach Intellektuellen, die sie massenhaft in ihren Schulen heranzieht, aber auch um so mehr ins Proletariat herabdrückt, je massenhafter sie auftreten. Dabei hat sie die technische Möglichkeit geschaffen, die Arbeitszeit ungemein zu verkürzen, und einzelne Arbeiterschichten haben schon einige Vorteile in dieser Richtung gewonnen, mehr freie Zeit zu ihrer Bildung erobert.

Sobald das Proletariat siegt, wird es sofort alle diese Keime zu vollster Entfaltung bringen, alle die Möglichkeiten allgemeiner Bildung der Massen, die die kapitalistische Produktionsweise geschaffen hat, zur herrlichsten Wirklichkeit gestalten.

Ist die Zeit des aufsteigenden Christentums eine Zeit trübseligsten geistigen Niederganges, rapider Zunahme der lächerlichsten Unwissenheit und des dümmsten Aberglaubens, so ist die Zeit des Aufsteigens des Sozialismus eine Zeit glänzendster Fortschritte der Naturwissenschaften und raschester Zunahme der Bildung in den von der Sozialdemokratie erfaßten Volksmassen.

Hat heute schon der aus der Wehrhaftigkeit hervorgehende Klassengegensatz seine Basis verloren, so verliert sie der ans dem Privateigentum an den Produktionsmitteln hervorgehende, sobald die politische Herrschaft des Proletariats ihre Wirkung übt, und deren Konsequenzen werden sich rasch in einer Abnahme des Unterschieds zwischen Gebildeten und Ungebildeten zeigen, der dann binnen einer Generation verschwunden sein kann.

Damit hört die letzte Ursache eines Klassengegensatzes oder Klassenunterschieds auf.

So muß die Sozialdemokratie nicht bloß auf ganz anderen Wegen zur Herrschaft kommen als das Christentum, sie muß auch ganz andere Wirkungen erzielen. Sie muß jeder Klassenherrschaft für immer ein Ende machen.


Fußnote

1. XIII, 1, S. 4 ff., im September 1894.


Zuletzt aktualisiert am 26.12.2011