Karl Kautsky

Die Klassengegensätze im Zeitalter
der Französischen Revolution


X. Das Ausland


Ehe wir unsere Darstellung schließen, wollen wir noch einen Blick auf das Verhalten der feudalen Elemente, des Adels und der Höfe außerhalb Frankreichs werfen, daß für die revolutionäre Entwicklung in letzterem Lande keineswegs ohne Einfluß blieb.

So unglaublich der Zwiespalt zwischen Königtum und Adel in Frankreich unmittelbar vor der Revolution ist, noch unglaublicher ist es, daß noch nach dem Ausbruch derselben ein solcher Zwiespalt in einer europäischen Monarchie sich geltend machen konnte und Augenblicksinteressen der borniertesten Art Kämpfe zwischen Elementen erzeugten, deren allgemeine dauernde Interessen damals den Zusammenschluß aufs dringendste erheischten. Einige der wichtigsten dieser Kämpfe seien hier angedeutet.

Der Habsburger Josef II. hatte in seinen Staaten mit großer Energie und Rücksichtslosigkeit eine Reihe einschneidender Reformen im Sinne des „aufgeklärten Despotismus“ durchgeführt. Er räumte auf mit den ständischen Vertretungskörpern und unterwarf die Privilegierten ebenso seiner Bureaukratie wie den „gemeinen Mann“, was man damals die Herstellung der „Gleichheit vor dem Gesetze“ nannte, wobei freilich das Gesetz nichts war, als der Wille des Autokraten. Der Adel verlor seine Steuerfreiheit und seine unbeschränkte Verfügung über die Bauern, der Klerus zahlreiche Klöster, der auf Kauf der Stellen beruhende Beamtenadel, der namentlich in Belgien (damals einem habsburgischen Besitztum) sehr stark war, seine Sporteln. Darob gewaltige Entrüstung unter den Privilegierten, ein Murren und Widerstreben, daß in Ungarn und Belgien schließlich im Laufe des Jahres 1789 zum bewaffneten Aufstand sich steigerte, den die preußische Regierung schürte, wie sie nur konnte, um Österreich zu schwächen. „Der preußische Gesandte in Wien, Jacobi, stand in enger Beziehung zu den Führeru der Opposition und ermunterte sie zu jedem Schritt, welcher zum offenen Aufstand gegen den Kaiser führen konnte.“ So schreibt der gewiß nicht gehässige Herr v. Sybel (Geschichte der Revolutionszeit, I, 108).

Die Widerspenstigkeit des ungarischen Adels ist erklärlich; der besaß noch Kraft genug, selbst seine Interessen zu wahren, und bedurfte dazu nicht der Monarchie. Den Bauernaufstand von 1784 und 1785 hatte er, nicht die Regierung, niedergeschlagen. Anders stand es in Belgien. Dort war der Feudaladel ebenso kraftlos, seine Stellung ebenso unterminiert wie im benachbarten Frankreich, und doch ließ er sich dessen Beispiel nicht zur Warnung dienen. Ohne Bedenken nahm er unmittelbar nach dem Bastillesturm und dem 4. August die Mitwirkung der Demokraten zum Aufstand an und erklärte Belgien für eine unabhängige Republik; am 7. Januar 1790 konstituierten sich die Stände der verschiedenen belgischen Provinzen als die „Vereinigten Staaten von Belgien“, freilich nicht nach amerikanischem, sondern nach altfeudalem Muster.

Aber augenblicklich nach errungener „Freiheit“ brach der Zwiespalt zwischen den Privilegierten und den Vertretern der Volksrechte aus, die Frankreichs Beispiel nachahmen wollten. Überdies ließ Preußen seine Verbündeten im Stich. Statt an Österreich den Krieg zu erklären, wie es einen Augenblick den Anschein hatte, einigte es sich mit der habsburgischen Monarchie und bereitete eine Allianz mit ihr vor im Vertrag von Reichenbach (27. Juni 1790).

Da Josef II. inzwischen gestorben war und sein Nachfolger Leopold II. sich zu Konzessionen bereit zeigte, nachdem schon Josef vielfach nachgegeben, wurde Ungarn rasch beruhigt und die isolierte, haltlose Insurrektion der Belgier leicht versprengt (1791/92).

Indessen hatte die Revolutionsepisode das belgische Volk aufgerüttelt. Belgien war nicht mehr zu beruhigend eine neue, wirklich revolutionäre Bewegung bereitete sich vor, und als die Franzosen ins Land rückten (1792), fiel es ihnen mühelos zu. Ein ruhiges Belgien wäre ein fester Stützpunkt für die Operationen der Gegenrevolution gegen Frankreich gewesen und hätte die Revolution daselbst sehr gefährdet. Die kurzsichtige Habsucht von Aristokratie, Klerus und Beamtenadel verwandelte es statt dessen zu einem Ausfallstor Frankreichs.

Fast noch ungebärdiger als in Ungarn und Belgien zeigten sich die Adeligen in Schweden. Gustav III. hatte ihnen durch eine Reihe von Staatsstreichen verschiedene ihrer Vorrechte geraubt, bis er schließlich 1789 tatsächlich die unumschränkte Herrschaft erlangt hatte. Er benutzte jedoch die Macht und die Einkünfte, die ihm aus der Niederwerfung des Adels zuflossen, nicht zur Hebung des Landes, sondern zu kindischen, aber kostspieligen Abenteuern. Ein Theaterheld, auf dramatische Effekte bedacht, dabei von einem lächerlichen Größenwahn erfüllt, wollte er sich auf den Vorkämpfer der monarchischen Interessen in Europa hinausspielen, auf den Herkules, der die Hydra der Revolution erwürgte. Er predigte den Kreuzzug gegen Frankreich, wollte auf einer Flotte die Seine hinauf nach Paris vordringen und diesen Herd der Revolution vernichten. 1791 reiste er nach Aachen, um sich mit den ausgewanderten französischen Adeligen zur Wiederherstellung der Monarchie zu verschwören. Indessen reifte gegen ihn eine Verschwörung der schwedischen Adeligen heran die zur Überzeugung gelangt waren, sie könnten ihre Vorrechte nur wieder gewinnen, wenn sie den König beiseite schafften; am 17. März 1792 streckte den Heißsporn der Gegenrevolution die Kugel des Verschworenen Ankarström nieder, fast ein Jahr, bevor die Republikaner Frankreichs gegen Ludwig XVI. nach dem Kriegsrecht verfuhren (21. Januar 1793), weil dieser während des Krieges mit dem Landesfeind konspiriert hatte. Der Adel hat in der Revolutionszeit den Sansculotten das Beispiel der Königstötung gegeben.

Noch kurzsichtiger und noch mehr durch beschränkteste Habgier verblendet als der Adel, zeigten sich die damaligen Staatslenker. Deren Koalierung gegenüber der Revolution erscheint in der Regel als eine sprechende Illustrierung des Satzes von der „reaktionären Masse“. Bei Lichte besehen zeigen sich aber auch in dieser „Masse“ die größten Gegensätze, die tiefste Zerklüftung.

Die französische Revolution fand bei ihrem Beginn Europa am Rande eines Weltkriegs. Katharina II. von Rußland hatte es verstanden, den Kaiser Josef zu einem gemeinsamen Kriege gegen die Türkei zu bereden, um dies Reich zu teilen. Der Krieg begann 1787 seitens der Russen. 1788 seitens Österreichs. Preußen konnte dem nicht untätig zusehen. Seit Friedrich II. ging seine Politik dahin, keine einseitige Vergrößerung Österreichs zu dulden. Nahm diese tüirkische Provinzen, so sollte es dafür auch zur Vergrößerung Preußens beitragen, in der Weise, daß es Galizien an Polen zurückgab, und dieses Land dafür einige Gebiete mit den Städten Thorn und Danzig an Preußen abtrat. Daß Österreich einer solchen Abtretung freiwillig nicht zustimmen werde, durfte man wohl annehmen, und so rüstete Preußen zum Kriege und sah sich nach Bundesgenossen um: die nächstliegendkn waren diejenigen, denen wieder ein Stück Landes genommen werden sollte, die Polen.

Herr v. Sybel, dessen Werk über die Revolutionszeit [1] den Einfluß der zweiten und dritten Teilung Polens auf die französische Revolution unseres Wissens am eingehendsten und zum Teil auf schwer zugängliches archivalisches Material gestützt, freilich sehr tendenziös, behandelt, sieht in der Katastrophe, die sich über Polen vorbereitete, die Folge einer „großen und tiefen Verschuldung“ (1. Bd., S. 167), und entwirft ein erschütterndes Gemälde der Verkommenheit des polnischen Adels, der Unterdrückung und Ausbeutung des polnischen Volkes durch ihn. Daß Herr v. Sybel sich auf den Weltrichter hinausspielt, der berufen ist, über Schuld und Unschuld historischer Faktoren vom Standpunkt der „ewigen“, für alle Zeiten und Völker geltenden Moral eines preußischen Professors zu richten, wollen wir ihm nicht allzu übel nehmen; das ist einmal bei Historikern der Brauch; es wirft

nur unseres Erachtens ein schlechtes Licht auf die „ewige Gerechtigkeit“ des „Weltrichters“, daß sie bloß Polen „die Folgen der großen und tiefen Verschuldung“ seines Adels fühlen ließ, und nicht auch die Teilung Preußens, Rußlands, Österreichs, aller Staaten des Kontinents dekretierte, da deren Adel überall im wesentlichen die gleichen moralischen Qualitäten aufwies, den Nichtgebrauch von Schnupftüchern etwa ausgenommen, der Herrn v. Sybel auch als ein Moment der „Verschuldung“ erscheint (II. Bd., S. 178). Der Unterschied zwischen Polen und seinen Nachbarn bestand bloß darin, daß es nicht dazu kam, jene Faktoren zu entwickeln, die anderswo ein Gegengewicht gegen den Adel bildeten, namentlich eine feste, zentralisierte Staatsverwaltung und eine kräftige Bourgeoisie, daß also die ökonomische und politische Entwicklung, die ja Polen nicht unberührt ließ, sich dort bloß in der Zersetzung, im Verkommen des Feudalismus äußerte, nicht in dem Erwachsen der Organe einer neuen Produktionsweise und eines dieser entsprechenden Staates. Daß dem aber so war, das dankte Polen seinen übermächtigen Nachbarn, vor allem Rußland, die den „Elementen der Unordnung“ in Polen systematisch mit Rat und Tat zur Seite standen und jeden Versuch einer ökonomischen oder politischen Kräftigung im Keime erstickten, wenn es sein mußte mit Waffengewalt. Polen hatte aufgehört, ein selbständiges Reich zu sein, ehe es noch von der Landkarte verschwand. Nur die gegenseitige Eifersucht der europäischen Großmächte schob seinen Untergang hinaus.

1772 war es bereits dazu gekommen, daß Preußen, Rußland und Österreich infolge gegenseitiger Verständigung große Gebiete Polens untereinander teilten. Dem Rest wurde 1775 von den Mächten, die später die heilige Allianz bilden sollten, eine „republikanische“ Verfassung aufgedrungen, die jede geordnete Staatsverwaltung unmöglich machte und die Anarchie zum Prinzip erhob. Rußland herrschte seitdem dort fast unumschränkt, teils durch Erkaufung der Häupter des Adels, die man durch diese Verfassung allmächtig gemacht, teils durch den Schrecken. Als jedoch Katharinas Truppen in der Türkei beschäftigt waren, glaubten die polnischen Patrioten den Moment gekommen , Rußlands Joch abzuschütteln, und sie begannen, sich eine neue Verfassung zu geben, die die Feudalanarchie wenigstens in etwas beseitigen sollte. Preußen, dem österreichischen Rivalen n schaden, ermutigte sie zu energischem Vorgehen, eröffnete ihnen Aussichten auf Galizien, natürlich ohne von den eigenen Absichten auf Thorn und Danzig etwas zu sagen, und schloß endlich am 29. März 1790 sogar ein förmliches Bündnis mit Polen, in welchem beide Teile sich zu gegenseitiger Hilfeleistung im Falle eines Angriffes von außen verpflichteten.

Gleichzeitig damit verbündete sich Preußen, wie wir gesehen, mit den Rebellen in Ungarn und Belgien.

England war mit Preußen im Bunde, denn es sah damals schon in Rußland eine Macht, deren Vergrößerung seinen Handel schädigen mußte, in der Ostsee sowohl wie im Orient. Die einzige Macht, die noch gegen Preußen hätte auftreten können, war die französische Monarchie, die mit Österreich alliiert und verschwägert war. Welche Wonne daher am preußischen Hof, als die Revolution diese Macht für den Moment kampfunfähig machte. So wenig verstand er deren Bedeutung, so blind machte ihn die Gier nach Vergrößerungen, daß er die Schwächung des französischen Königtums als willkommenes Ereignis begrüßte, weil damit das letzte Hindernis seiner polnische Pläne schwand. [2] Die preußische Regierung freute sich nicht bloß über die Revolution sie trat mit ihr in Verbindung. Der preußische Gesandte in Paris, Graf Goltz, knüpfte mit der demokratischen Partei in der Nationalversammlung einen höchst vertraulichen Verkehr an. Pétion, ein Abgeordneter der äußersten Linken, wurde einmal vom König von Preußen wegen einer demokratischen Rede beglückwünscht; dieser nahm den lebhaftesten Anteil daran, daß die Entscheidung über Krieg und Frieden dem Könige genommen werde – in Frankreich nämlich –, weil dadurch Preußen bis auf weiteres vor jedem Angriff Frankreichs sichergestellt wurde. Um nicht Goltz allzusehr zu kompromittieren, wurde ihm zur Erledigung von delikaten Aufträgen der Jude Ephraim zur Seite gegeben (September 1790), wohl derselbe, der bei den Aufständischen in Belgien in preußischem Interesse tätig gewesen.

Die Situation war 1790 für Preußen höchst günstig: das Königtum in Frankreich unfähig, einen Krieg aus diplomatischen Erwägungen zu führen, in Belgien der Aufstand siegreich, die Ungarn schwierig, durch die Polen (und Schweden) der Rücken gegen Rußland gedeckt, dieses und Österreich vollauf mit den Türken beschäftigt, die eine überraschende Widerstandskraft an den Tag legten; in dieser Situation schien Österreich wehrlos Preußen preisgegeben, das mit dem reichen England verbündet war, und Friedrich Wilhelm II. drängte denn auch zum Kriege.

Aber in Österreich war inzwischen der ungestüme, gewaltsame Josef gestorben und an seine Stelle der bedächtige Leopold getreten (20. Februar 1790), der gerne sicher ging. Durch Nachgiebigkeit entwaffnete er seine Feinde, beruhigte die Ungarn, entzweite die Aufständischen in Belgien, brach den Krieg mit den Türken ab und kam zu einem Übereinkommen mit Preußen in Reichenbach (27. Juli 1790), dem jeder Vorwand zum Kriege durch Annahme seiner Vorschläge genommen ward.

Inzwischen war die Revolution in Frankreich so weit gediehen und hatte ihre der absoluten Monarchie feindlichen Tendenzen so deutlich gezeigt, daß sie auch dem beschränktesten monarchischen Staatsmann im Ausland Bedenken einflößen mußte. In der Tat lag die Gefahr nahe, daß die revolutionären Tendenzen, wenn in Frankreich siegreich, auch die benachbarten Länder, Deutschland, Belgien, Piemont, erfaßten; ihre Niederschlagung ober mindestens Eindämmung erschien immer deutlicher als die Aufgabe aller europäischen Monarchen. Und diese gaben dem auch offenkundig genug Ausdruck. So in Leopolds Erklärung von Mantua, in dessen Zirkularnote von Padua, so endlich in dem Manifest Österreichs und Preußens, das diese Mächte nach Abschluß eines förmlichen Vertrags zu Pillnitz (27. August 1791) in höchst drohender Sprache gegen Frankreich erließen. Auch duldete der Kaiser die Rüstungen der Emigranten, die dicht an der französischen Grenze ein förmliches Heer zum Einfall in Frankreich sammelten. In Frankreich bestand kein Zweifel darüber, daß Preußen und Österreich einen Krieg gegen die Revolution planten, und doch geschah in Wirklichkeit von Seite der Verbündeten nichts, um dieser Absicht Nachdruck zu verleihen. Herr v. Säbel hat die damaligen Verhandlungen zwischen den Mächten mit großer Ausführlichkeit behandelt und glaubt aus ihnen schließen zu dürfen, daß bei den Monarchen allseitig die größte Friedensliebe herrschte und der Krieg von Frankreich provoziert wurde. Wir haben einen anderen Eindruck gewonnen. Es ist wahr, in Frankreich drängten sowohl die Girondisten wie der Hof und seine Anhänger zum Kriege; letztere, weil sie hofften, er werde die Österreicher und Preußen nach Frankreich und mit ihnen die Restauration der alten Monarchie bringen; die Girondisten, weil sie den Krieg für unvermeidlich hielten und darauf drangen, loszuschlagen, ehe der Gegner völlig gerüstet sei. Auf der anderen Seite wurde dagegen der Krieg immer weiter hinausgeschoben; jedoch nicht aus Friedensliebe, sondern weil keine der beteiligten Mächte der anderen traute. Rußland trachtete, den Türkenkrieg zu beenden, den es seit dem Rücktritt Österreichs von demselben allein führte, und sein Heer frei zu machen, um es gegen Polen zu verwenden, das gewagt hatte, sich auf eigene Füße zu stellen. Preußen wußte, daß eine Entscheidung in Polen bevorstehe; es hatte seine Absichten auf Gebietserweiterung daselbst nicht aufgegeben und hoffte jetzt im Bunde mit Rußland gegen die Polen zu erreichen, was es eben im Bunde mit den Polen gegen Rußlaud versucht. Österreich war beiden bei dieser Gelegenheit ein unbequemer Nachbar, beide suchten daher Leopold in einen Kampf mit Frankreich zu verwickeln, um in Polen freie Hand zu bekommen. Dieser aber roch den Braten und weigerte sich, vorzugehen, ehe die polnische Frage entschieden sei.

Willigere als Leopold zeigte sich der Kaiser Franz II., der ihm am 1. März 192 folgte, ein junger, unbedeutender Mensch, dessen Regierung durch ihre lächerichen Forderungen einer Wiederherstellung des alten Zustandes und ihre barschen Drohungen die Kriegserklärung Frankreichs provozierte (20. April 1792). Nun mußte gekämpft werden, ehe die polnische Beute verteilt war. Auch Preußen konnte sich dem Kampfe, der dem Deutschen Reiche und dem Verbündeten von Pillnitz galt, nicht gut entziehen. Aber man ging nicht entschieden vor; man unterschätzte den Feind, meinte, auf die Berichte der Emigranten und Polizeispione gestützt, ganz Frankreich sei königstreu und erwarte nichts sehnlicher, als vom „Joche“ einer terroristischen Minderheit erlöst zu werden, eine Ansicht, deren völlige Grundlosigkeit die preußische Armee bald bitter empfinden sollte, die aber ins den Köpfen und Werken „gesinnungstüchtiger“ Historiker heute noch fortspukt; man rechnete auch auf die geheime Mitwirkung Ludwigs XVI., der die kriegerischen Operationen auf französischer Seite lähmen werde, eine Rechnung, durch die der Sturm des Volkes auf die Tuilerien vom 10. August einen Strich machte; einer der wichtigsten Gründe aber, warum die Rüstungen Österreichs und Preußens langsam vorwärtsschritten und unzureichend waren, bestand darin, daß die „Verbündeten“ sich über die polnische Teilung immer noch nicht einigen konnten, indes bereit die Truppen der russischen Katharina in Polen einmarschierten, und Preußen, das bis zum Mai 1792 die Rolle eines Verbündeten der Polen gespielt, die Maske abwarf und eine neue Teilung Polens „zur Wiederherstellung der Ruhe und Ordnung“ in Aufsicht stellte. Während die russischen Truppen die von ihrem Verbündeten im Stich gelassenen Polen niederwarfen, wurde der Krieg gegen Frankreich von Preußen und Österreich nur mit halbem Herzen geführt, da jeder der beiden Teile gleichzeitig nach der polnischen Beute schielte. Kein Wunder, daß der Feldzug für die verbündeten Monarchen kläglich ausging.

Gefährlicher war die Lage für Frankreich im folgenden Jahre. Österreich rüstete energisch, die Schlappe wieder auszuwetzen. Eine Reihe von Staaten trat dem Bündnis gegen die Revolution bei: England und Holland, die die Besetzung Belgiens durch Frankreich aufgerüttet hatte, und, durch England veranlaßt, Sardinien, Portugal, Spanien und Neapel. Im Innern Frankreichs empörte sich eine Reihe von Landschaften, eine Reihe wichtiger Städte. Die alte Armee war tatsächlich aufgelöst, ein neues revolutionäres Heerwesen erst im Werden. Die frühere aristokratischen Offiziere waren beseitigt oder entflohen, neue nicht genügend vorhanden. Die alten Linientruppen hatte zum Teil der vorigjährige Feldzug weggerafft, die Mehrheit der Armee bestand aus Rekruten. Und dabei zeigten sich die Generäle vielfach verräterisch und unzuverlässig. Hätte nicht die Schreckensherrschaft mit eiserner Faust Frankreich ganze Kraft dem Kriege dienstbar gemacht und dem Feinde allenthalben eine Überzahl von Soldaten entgegengestellt, die, was ihnen an Übung und an Disziplin abging, durch Enthusiasmus zu ersehen suchten, die junge Republik wäre viel leicht dem Ansturm Europas erlegen. Trotz aller Anstrengungen war die Lage für sie verzweifelt genug.

Zu ihrem Glück war die Habgier ihrer Gegner ebenso groß wie ihr Haß gegen die Revolution. Jeder der Verbündeten wollte deren Bekämpfung zu einer guten Geschäft machen; keiner traute dem anderen, jeder ging auf eigene Faust vor, und anstatt entscheidende Schläge zu führen, beeilte sich jeder, denjenigen Teil der Beute in Besitz zu uehmeu, den er für sich beanspruchte.

Sardinien verlangte von Österreich eine Verstärkung; dies verweigerte sie, wenn Sardinien nicht bei einer Vergrößerung auf Kosten Frankreichs das Novarese an Österreich abtreten wolle. Darüber große Entrüstung in Sardinien, kostbare Zeit ging verloren, der Entsatz des insurgierten Lyon wurde vereitelt und der Angriff auf Frankreich von italienischer Seite kam ins Stocken.

Die englischen Truppen in Belgien hatten wieder nichts Eiligeres zu tun, als sich bei der Belageunng Dünkirchens festzubeißen, eines wichtigen Hafenplatzes, nach dessen Besitz England lüstern war; die Holländer wurden des Krieges bald müde, da sich für sie eine Entschädigung nicht finden wollte. Am verhängnisvollsten aber wurde die wachsende Gegnerschaft zwischen Österreich und Preußen.

Rußland und Preußen hatten sich nämlich im Winter 1792/93 verständigt und die zweite Teilung Polens vollzogen. Österreich bekam als Entschädigung die Aussicht auf ein Stück von Frankreich Preußen drohte, augenblicklich vom Kriege gegen Frankreich zurückzutreten, wenn England und Österreich der Teilung Polens nicht zustimmten. Die freundschaftlichen Gefühl, namentlich des letzteren, für Preußen wurden dadurch nicht verstärkt. Die ganze österreichische Kriegsführung hatte nun einzig die Aufgabe im Auge, alle diejenigen Teile Frankreichs zu besetzen, auf die es Anspruch machte, das Elsaß und einen Streifen Nordfrankreichs. Preußen aber, vollauf in Polen beschäftigt, zeigte keine Lust, sich energisch an einem Unternehmen zu beteiligen, das aus einem Kriege gegen die Revolution ein Eroberungskrieg des Rivalen Österreich geworden war. Das preußische Heer vergeudete viel Zeit mit der Belagerung von Mainz und sah dann fast untätig zu, wie die Franzosen und Österreicher sich im Elsaß herumschlugen. [3] Als aber nun gar Österreich eine Annäherung au Rußland vollzog, so daß Preußen fürchtet, von seinen beiden „Verbündeten“ betrogen zu werden, da, im September 1793, brach es den Krieg gegen Frankreich fast völlig ab und sandte die Mehrzahl seiner Truppen vom Rhein an die polnische Grenze, sich seinen Anteil au der Beute dort zu sichern.

Noch schlimmer stand es mit der Koalition 1794; zwischen England und Spanien entstand ein Zwiespalt, und in Polen brach im Frühjahr eine Erhebung aus, die solche Dimensionen annahm, daß die Russen ihrer nicht Herr wurden und die Preußen ihnen zu Hilfe eilen mußten. Jetzt war an deren Teilnahme am französischen Kriege nicht mehr zu denken und auch Österreich konnte diesem nicht mehr seine volle Kraft zuwenden. Polens letzte Stunde war gekommen, und Österreich mußte erhebliche Truppen an der polnischen Grenze aufstellen, damit es nicht bei der dritten Teilung ebenso beiseite geschoben werde wie bei der zweiten. Hätte nicht England alles aufgeboten, die Koalition zusammenzuhalten, sie wäre damals schon aus dem Leime gegangen.

Inzwischen aber war die neue, revolutionäre Armee Frankreichs erstarkt, sie hatte eine neue, ihr eigentümliche Taktik entwickelt, die sie den alten Armeen überlegen machte, und aus dem neuen Offizierskorps erstanden bereits die Generäle, die diese neue Armee zum Schrecken des feudalen Europa machen sollten, die Hoche, Kleber, Moreau, Bonaparte usw. Indes die Häupter der feudalen Monarchie über die Teilung der noch unerlegten Beute zankten, hatten sie der revolutionären Armee Zeit gegeben, zu gewaltiger Kraft zu gelangen. Selbst beim größten Waffenglück wäre es den verbündeten Monarchen wohl unmöglich geworden, die Revolution zu unterdrücken und, wenn auch nur vorübergehend, den Zustand wiederherzustellen, der vor 1789 geherrscht. Daß aber die französische Republik von 1794 au zum Angriff übergehen und die Feudalität in ganz Europa aufs tiefste erschüttern, in ihren Grenzländern beseitigen konnte, das war nicht zum mindesten die Frucht jener kleinlichen und beschränkten Habgier ihrer Gegner, die wir eben zu zeichnen versucht haben.

Die Gegner der Revolution lieben es in neuerer Zeit, auf diesen Punkt hinzuweisen, um, wie sie meinen, den ,,Ruhm“ der Revolution zu schmälern. Nicht durch ihre innere Kraft hat sie gesiegt, so rufen sie triumphierend, sondern infolge diplomatischer Fehler ihrer Feinde. Zur Erhöhung des Ruhmes der Revolution trägt das freilich nichts bei; aber, so will es uns bedünken, noch weniger zur Erhöhung des Ruhmes ihrer Gegner.

Indes, wie immer der Ruhm der Revolution und ihrer Gegner dabei fahren mag, wir sind gern bereit, zuzugeben, daß es nicht die Kraft der revolutionären Elemente allein war, die ihnen zum Siege verhalf, sondern ebensosehr die „Fehler“ ihrer Geguer. Eines jedoch möchten wir bestreiten, daß diese Fehler zufällige, der Sieg der Revolution ein Zufall war.

Die Entzweiung der Höfe untereinander, wie die Entzweiung des Adels mit dem bureaukratischen Königtum , wodurch die Revolution so mächtig gefördert worden, waren tief in den Verhältnissen begründet. Diese Entzweiungen sind nicht vereinzelte zufällige Vorkommnisse, sondern typische Erscheinungen, die sich unter wechselnden Formen immer wiederholten und durch diese Geschichte der Völker verfolgen lasse, solange es Klassengegensätze gibt.

Allerdings sollte man meinen, daß der Anblick der Gefahr die feudalen Mächte zum Vergessen ihrer Sonderinteressen und zum Bewußtsein ihrer gemeinsamen Interessen hätte bringen sollen; daß er sie anspornte, augenblickliche Opfer zu bringen, um dauernde Vorteile zu erkämpfen. So nahe dieser Gedankengang liegt, es fehlten die historischen Voraussetzungen, daß er bei den Privilegierten sich zur Tat umsetzte. Dieselbe Entwicklung, die zur Revolution trieb, nahm diesen auch die moralischen und intellektuellen Eigenschaften, die sie instand gesetzt hätten, der Revolution energisch und geschlossen entgegenzutreten. Indem die feudalen Elemente ihre gesellschaftlichen Funktionen verloren, wurden sie nicht bloß überflüssig und schädlich, sie gingen auch jener moralischen Eigenschaften verlustig, die die Arbeit verleiht. Genußsüchtig, träge, verweichlicht, verlernten sie es, ihre Ziele zu erkämpfen und zu deren Erlangung Opfer zu bringen. Aber nicht bloß moralisch, auch intellektuell mußten sie immer mehr verkommen. Die Einsicht in die tatsächlich bestehenden Verhältnisse zeigte immer deutlicher die Überflüssigkeit und Schädlichkeit der feudalen Elemente. Deren Interessen zwangen sie immer mehr, nicht bloß der Verbreitung dieser Einsicht im Volk entgegenzutreten, sondern auch sich selbst ihr zu verschließen, sich selbst immer mehr zu belügen und in Illusionen zu wiegen. Gerade das Nahen der Revolution trieb sie zur Rückkehr zu den Gedankenformen einer Zeit, in der sie noch für notwendig und nützlich gegolten hatten, die sie aber jetzt selbst nicht mehr verstanden und daher „ideal“ wiedergaben, trieb sie zum Mystizismus, zum Geistersehen, zur „Romantik“, zur Wiederbelebung von Gedankenformen, die zu ihrer Zeit vernünftig gewesen sein mochten, jetzt aber, unverstanden wiedergegeben und in völligem Widerspruch zu den Forderungen der Zeit, ganz unvernünftig waren und zu völliger Verdummung führen mußten.

Die Mächte der feudalen Gesellschaft waren moralisch und intellektuell bereits bankerott, als der politische und ökonomische Bankerott über sie hereinbrach. Unfähig zu dem geringsten augenblicklichen Opfer, unfähig zu einem großen Entschluß, unfähig, ihre Lage zu begreifen, fehlte es ihnen an allem, was sie zu einer wirklichen „reaktionären Masse“ hätte zusammenschweißen können. Wohl waren die verschiedenen feudalen Elemente aufs innigste miteinander verbunden, aber wie ein Rattenkönig, eine Masse von Ratten, deren Schwänze verwachsen sind, die nur mühsam vom Fleck kommen und unfähig sind, sich selbst Futter zu suchen, so daß sie in ihrer unersättlichen Gier schließlich sich untereinander zerfleischen müsse.

Die Uneinigkeit und Borniertheit der feudalen Elemente war kein Zufall; sie war ebenso unvermeidlich wie die Klassenkämpfe innerhalb des dritten Standes. Die einen wie die anderen sind Faktoren geworden, die die Revolution mächtig beeinflußten.

Wir sehen da deutlich, da die gesellschaftliche Entwicklung ein Resultat ist der Kämpfe nicht bloß zwischen den aufstrebenden und den untergehenden Klassen, zwischen denen, die an der Ehaltung des Bestehenden ein Interesse haben, und denen, für die das Bestehende immer unerträglicher wird, sondern auch von Kämpfen innerhalb der einen wie der anderen Gruppe. Jeder dieser Kämpfe, welches immer die Absicht der Kämpfenden gewesen, hat die Revolution gefördert; so sonderbar es erscheinen mag, so ist es doch unleugbar, nicht bloß die Uneinigkeit unter den Herrschenden, auch die Uneinigkeit unter den Beherrschten war ein Hebel der Revolution, Die Interessengegensätze zwischen Kapitalisten und Kleinbürgern, zwischen Stadt und Land wirkte kaum jemals hemmend, oft anfeuernd; sie vermehrten die Energie, welche die Revolution entfaltete, und steckten den revolutionären Massen immer weitere Ziele, trieben sie immer weiter vorwärts.

Die Interessengegensätze innerhalb der herrschenden Klassen dagegen führten zur Erschlaffung ihrer Anstrengungen, führten dazu, daß ihre Aufgaben sich immer mehr einengten, daß sie, statt die Revolution geschlossen und energisch zu bekämpfen, immer mehr sich darauf beschränkten, aus der Erschütterung des Bestehenden Augenblicksvorteile erhaschen zu wollen. Statt den Brand im eigenen Hause zu löschen, suchten sie die allgemeine Verwirrung dazu zu benützen, beim Nachbar zu plündern, bis der krachende Zusammensturz sie samt ihrer Beute unter seinen Trümmern begrub.


Fußnoten

1. Geschichte der Revolutionszeit, Düsseldorf 1877.

2. „Man begreift, mit welcher Herzenserquickung er (der preußische Minister Hertzberg) die Kunde von den ersten Regungen der revolutionären Anarchie in Frankreich empfing. Frohen Herzens berichtete er dem König am 5. Juli: In Frankreich ist das königliche Ansehen vernichtet, die Truppen haben nicht handeln wollen, Ludwig hat dem Volke erklärt, daß er die königliche Sitzung als nicht geschehen betrachte; das kündigt fast eine Szene Karls I. an, das ist eine Gelegenheit, von welcher die guten Regierungen Vorteil ziehen müssen.“ (Sybel, 1. Bd., S. 161)

3. „Man (nämlich Preußen) durfte nicht vollständig siegen, man hatte nur noch die Aufgabe, zwischen einem feindseligen Genossen (Österreich) und einem günstig gesinnten Feind (Frankreich) das Gleichgewicht zu halten.“ (Sybel, 2. Bd., S. 258)


Zuletzt aktualisiert am 03.08.2010