Karl Kautsky

Der Weg zur Macht


5. Weder Revolution noch Gesetzlichkeit um jeden Preis

Auf der einen Seite wird uns Marxisten vorgeworfen, dass wir den Willen aus der Politik ausschalten, diese zu einem automatischen Vorgang gestalten. Auf der anderen Seite aber behaupten dieselben Kritiker das gerade Gegenteil, dass unser Wollen uns höher steht, als die Erkenntnis der Wirklichkeit. Diese müsse uns die Unmöglichkeit jeglicher Revolution lehren, wir aber hielten aus bloßem gefühlsmäßigem Fanatismus an der Idee der Revolution fest und berauschten uns daran. Wir strebten die politische Revolution um jeden Preis, um ihrer selbst willen, an, auch wenn wir auf den gegebenen gesetzlichen Grundlagen eher vorwärts kämen.

Unter anderem versucht man, mich in Gegensatz zu Friedrich Engels zu bringen, der, wie man sagt, wohl ehedem ebenfalls sehr revolutionär empfand, aber kurz vor seinem Tode vernünftig wurde, die Unhaltbarkeit seines revolutionären Standpunktes erkannte und auch anerkannte.

Nun ist es richtig, dass Engels 1895 in seiner bekannten Vorrede zu den Marxschen Klassenkämpfen in Frankreich darauf hinwies, wie sehr sich die Bedingungen des revolutionären Kampfes gegen 1848 geändert hätten. Wir müssten, um zu siegen, große Massen hinter uns haben, „die verstehen, was zu tun ist“, und wir, die „Revolutionäre“, die „Umstürzler“, gediehen weit besser bei den gesetzlichen Mitteln, als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz. Aber man vergesse nicht, er meinte das nur für die damalige Situation. Wer wissen will, wie die Engelsschen Sätze aufzufassen sind, muss sie mit Engelsschen Briefen vergleichen, auf die ich kürzlich in der Neuen Zeit (XXVII, 1, S. 7) hinwies. Aus diesen ersieht man, dass er sich energisch gegen den Schein verwahrte, als sei er „ein friedfertiger Anbeter der Gesetzlichkeit um jeden Preis“. Ich schrieb an jener Stelle der Neuen Zeit:

„Die Einleitung zu den Marxschen Klassenkämpfen ist datiert vom 6. März 1895. Wenige Wochen darauf erschien das Buch in der Öffentlichkeit. Ich hatte Engels gebeten, mir den Abdruck der Einleitung vor ihrem Erscheinen in der Neuen Zeit zu gestatten.

Darauf antwortete er mir am 25. März:

„Dein Telegramm sofort beantwortet: „Mit Vergnügen.“ Per Streifband folgt der Text in Korrekturabzug mit Titel: Einleitung zum Neudruck von Marx’ Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848/50 von F. E. Dass der Inhalt im Abdruck der alten Artikel aus der Revue der N. Rh. Z. (Neuen Rheinischen Zeitung) besteht, ist im Text gesagt. Mein Text hat einiges gelitten unter umsturzvorlagenfurchtsamlichen Bedenken unserer Berliner Freunde, denen ich unter den Umständen Wohl Rechnung tragen musste.“

Um das zu verstehen, muss man sich erinnern, dass die sogenannte Umsturzvorlage, die zur Erschwerung der sozialistischen Propaganda erhebliche Verschärfungen bestehender Gesetze beantragte, am 5. Dezember 1894 dem deutschen Reichstag vorgelegt wurde, der sie am 14. Januar einer Kommission überwies, wo über drei Monate lang (bis 25. April) darüber beraten wurde. Gerade in dieser Zeit wurde die Engelssche Einleitung verfasst.

Wie ernst Engels die Situation auffasste, erhellt aus einer späteren Stelle desselben Briefes, wo er schrieb:

„Eine Wahlreform, die uns ins Parlament bringt, halte ich in Österreich für absolut sicher, es sei denn, eine plötzliche allgemeine Reaktionsperiode bräche herein. Auf eine solche scheint man in Berlin gewaltsam hinzuarbeiten, aber leider weiß man dort selbst von heute auf morgen nicht, was man will.“

Schon früher, am 3. Januar, unmittelbar ehe er sich an die Abfassung der Einleitung machte, hatte Engels mir geschrieben:

„Ihr bekommt, wie es scheint, ein recht lebhaftes Jahr in Deutschland. Wenn der Herr v. Kuller so fortfährt, ist nichts unmöglich: Konflikt, Auflösung, Staatsstreich. Natürlich wird man auch mit weniger vorlieb nehmen. Die Junker wären mit verstärkten Liebesgaben schon zufrieden, aber um diese zu erhalten, wird man an gewisse Gelüste persönlicher Herrschbegier appellieren, diesen bis zu einem gewissen Grade nachgeben müssen, wo dann auch die Faktoren des Widerstands mit ins Spiel kommen, und da tritt der Zufall, das heißt das Nichtgewollte, Nichtberechenbare, ins Spiel. Um die Liebesgaben zu sichern, muss man mit dem Konflikt drohen – ist man einen Schritt weiter gegangen, dann wird der ursprüngliche Zweck, die Liebesgabe, Nebensache, dann steht Krone gegen Reichstag, Biegen oder Brechen, dann kann⁏s luftig werden. Ich lese gerade Gardiners Personal Government of Charles I. (Das persönliche Regiment Karls I.), die Dinge stimmen oft bis zur Lächerlichkeit mit dem heutigen Deutschland. So die Argumente wegen der Immunität der im Parlament begangenen Handlungen. Wäre Deutschland ein romanisches Land, so wäre der revolutionäre Konflikt unvermeidlich, so aber – nix Gewisses weiß man nicht, wie Jollymeier (Schorlemmer) sagt.“

So ernst und konfliktreich fasste Engels die Situation zu jener Zeit auf, wo ihn die Revisionisten verkünden lassen, die Ära unbedingter gesetzlicher und friedlicher Entwicklung sei herangebrochen und für immer gesichert, die Ära der Revolutionen liege hinter uns.

Es ist klar, dass Engels bei einer solchen Auffassung der Situation alles vermied, was gegen die Partei von den Gegnern hätte ausgenutzt werden können, dass er in der Sache natürlich unbeugsam blieb, aber sich so zurückhaltend als möglich ausdrückte.

Als aber der Vorwärts, wohl um die Kommissionsberatungen der Umsturzvorlage günstig zu beeinflussen, einige Stücke der Einleitung in einer Weise zusammenstellte und veröffentlichte, dass sie für sich allein jenen Eindruck hervorriefen, der nach den späteren Behauptungen der Revisionisten von Engels beabsichtigt war, da entbrannte dieser in hellem Zorn. In einem Brief vom 1. April schrieb er:

„Zu meinem Erstaunen sehe ich heute im „Vorwärts“ einen Auszug aus meiner Einleitung ohne mein Vorwissen abgedruckt und derartig zurechtgestutzt, dass ich als friedfertiger Anbeter der Gesetzlichkeit quand même (um jeden Preis) dastehe. Um so lieber ist es mir, dass das Ganze jetzt in der Neuen Zeit erscheint, damit dieser schmähliche Eindruck verwischt wird. Ich werde Liebknecht sehr bestimmt darüber meine Meinung sagen und auch denjenigen, die, wer sie auch seien, ihm diese Gelegenheit gegeben haben, meine Meinung zu entstellen.“

Er ahnte nicht, dass bald nachher vertraute Freunde, die in erster Linie berufen waren, seine Meinungen vor Entstellungen zu schützen, zur Ansicht kommen sollten, diese entstellte Meinung sei seine wirkliche gewesen, und was ihm schmachvoll erschien, bedeute die herrlichste Großtat seines Lebens: der revolutionäre Kämpfer habe als „friedfertiger Anbeter der Gesetzlichkeit um jeden Preis“ geendet.“

Sollten diese Ausführungen nicht ausreichen, den Engelsschen Standpunkt gegenüber der Revolution zu kennzeichnen, dann sei noch auf einen Artikel verwiesen, den er wenige Jahre vor der Einleitung zu den Marxschen Klassenkämpfen, 1892 in der Neuen Zeit über den Sozialismus in Deutschland veröffentlichte. Dort schrieb er:

„Wie oft haben die Bourgeois uns nicht zugemutet, wir sollten unter allen Umständen auf den Gebrauch revolutionärer Mittel verzichten und innerhalb gesetzlicher Grenzen bleiben, jetzt, da das Ausnahmegesetz gefallen, das gemeine Recht wieder hergestellt ist für alle, auch für die Sozialisten! Leider sind wir nicht in der Lage, den Herren Bourgeois diesen Gefallen zu tun. Was aber nicht verhindert, dass in diesem Augenblick nicht wir es sind, die „die Gesetzlichkeit kaputt macht“. Im Gegenteil, sie arbeitet vortrefflich für uns, so dass wir Narren wären, verletzten wir sie, solange es so vorangeht. Viel näher liegt die Frage, ob es nicht gerade die Bourgeois und ihre Regierung sind, die Gesetz und Recht verletzen werden, um uns durch die Gewalt zu zermalmen? Wir werden das abwarten. Inzwischen: „schießen Sie gefälligst zuerst, meine Herren“ Bourgeois.

„Kein Zweifel, sie werden zuerst schießen. Eines schönen Morgens werden die deutschen Bourgeois und ihre Regierung müde werden, der alles überströmenden Springflut des Sozialismus mit verschränkten Armen zuzuschauen; sie werden Zuflucht suchen bei der Ungesetzlichkeit, der Gewalttat. Was wird’s nützen? Die Gewalt kann eine kleine Sekte auf einem beschränkten Gebiet erdrücken; aber die Macht soll noch entdeckt werden, die eine, über ein großes Reich ausgebreitete Partei von über zwei oder drei Millionen Menschen auszurotten imstande ist. Die konterrevolutionäre, momentane Übermacht kann den Triumph des Sozialismus vielleicht um einige Jahre verzögern, aber nur, damit er dann um so vollständiger und endgültiger wird.“ (X, 1, S. 583)

Diese Stelle ebenso wie die betreffenden Briefe muss jeder berücksichtigen, der die Ausführungen der Engelsschen Einleitung über die Gesetzlichkeit, bei der wir gedeihen, richtig verstehen will. Sie bedeuten nichts weniger als eine Absage an die Idee der Revolution.

Freilich bezeichnen sie die entschiedene Ablehnung jener Anschauung, als hätten wir alles auf die Karte der kommenden Revolution zu setzen, und als werde diese sich einfach nach dem Muster von 1830 und 1848 wiederholen. Aber wer deshalb glaubt, mein Standpunkt stehe hier im Gegensatz zum Engelsschen, der irrt sich. In Wirklichkeit habe ich, noch vor der Engelsschen Einleitung, in anderem Zusammenhang und anderer Form den gleichen Gedankengang entwickelt, den wir dort finden.

Im 12. Jahrgang der Neuen Zeit veröffentlichte ich im Dezember 1893 einen Artikel über einen „sozialdemokratischen Katechismus“, in dem ich auch ausführlich die Frage der Revolution erörterte. Da heißt es:

„Wir sind Revolutionäre, und zwar nicht bloß in dem Sinne, in dem die Dampfmaschine ein Revolutionär ist. Die soziale Umwälzung, die wir anstreben, kann nur erreicht werden mittels einer politischen Revolution, mittels der Eroberung der politischen Macht durch das kämpfende Proletariat. Und die bestimmte Staatsform, in der allein der Sozialismus verwirklicht werden kann, ist die Republik, und zwar im landläufigsten Sinne des Wortes, nämlich die demokratische Republik.

Die Sozialdemokratie ist eine revolutionäre, nicht aber eine Revolutionen machende Partei. Wir wissen, dass unsere Ziele nur durch eine Revolution erreicht werden können, wir wissen aber auch, dass es ebensowenig in unserer Macht steht, diese Revolution zu machen, als in der unserer Gegner, sie zu verhindern. Es fällt uns daher auch gar nicht ein, eine Revolution anstiften oder vorbereiten zu wollen. Und da die Revolution nicht von uns willkürlich gemacht werden kann, können wir auch nicht das Mindeste darüber sagen, wann, unter welchen Bedingungen und in welchen Formen sie eintreten wird. Wir wissen, dass der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat nicht enden wird, ehe nicht das letztere in den vollen Besitz der politischen Macht gelangt ist, die es dazu benützen wird, die sozialistische Gesellschaft einzuführen. Wir wissen, dass dieser Klassenkampf immer ausgedehnter und intensiver werden muss; dass das Proletariat an Zahl und moralischer und ökonomischer Kraft immer mehr wächst, dass daher sein Sieg und die Niederlage des Kapitalismus unausbleiblich ist, aber wir können nur höchst vage Vermutungen darüber haben, wann und wie die letzten entscheidenden Schlachten in diesem sozialen Krieg geschlagen werden. Das alles ist nichts Neues…

Da wir über die Entscheidungsschlachten des sozialen Krieges nichts wissen, können wir natürlich ebensowenig sagen, ob sie blutige sein werden, ob die physische Gewalt eine bedeutende Rolle, in ihnen spielen oder ob man sie ausschließlich mit den Mitteln ökonomischer, legislativer und moralischer Pression ausfechten wird. Man kann aber Wohl sagen, es sei alle Wahrscheinlichkeit vorhanden, dass in den revolutionären Kämpfen des Proletariats die Mittel letzterer Art über die der physischen, das heißt militärischen Gewalt mehr überwiegen werden, als dies in den revolutionären Kämpfen der Bourgeoisie der Fall war.

Der eine Grund, warum die kommenden revolutionären Kämpfe seltener durch militärische Mittel ausgesuchten werden dürften, liegt, und das ist schon des öfteren ausgeführt worden, in der kolossalen Überlegenheit der Bewaffnung der heutigen staatlichen Armeen über die Waffen, die dem „Zivil“ zu Gebote stehen und die jeden Widerstand des letzteren in der Regel von vornherein aussichtslos machen.

Dagegen stehen heute den revolutionären Schichten bessere Waffen des ökonomischen, politischen und moralischen Widerstandes zu Gebote, als denen des achtzehnten Jahrhunderts. Nur Russland macht davon eine Ausnahme.

Die Koalitionsfreiheit, die Pressfreiheit und das allgemeine Wahlrecht (unter Umständen auch die allgemeine Wehrpflicht) stellen aber nicht bloß Waffen dar, die das Proletariat der modernen Staaten vor den Klassen voraus hat, welche die revolutionären Kämpfe der Bourgeoisie ausfochten; diese Einrichtungen verbreiten auch über die Machtverhältnisse der einzelnen Parteien und Klassen und über den Geist, der sie beseelt, ein Licht, welches zur Zeit des Absolutismus fehlte.

Damals tappten die herrschenden Klassen ebenso wie die revolutionären im Dunkeln herum. Da jede Äußerung einer Opposition unmöglich gemacht war, konnten weder die Regierungen noch die Revolutionäre ihre Kräfte kennen. Jede der beiden Parteien war ebenso der Gefahr ausgesetzt, sich zu überschätzen, solange sie sich nicht im Kampfe mit dem Gegner gemessen hatte, wie sich zu unterschätzen, sobald sie eine einzige Niederlage erlitten hatte, und dann die Flinte ins Korn zu werfen. Dies ist wohl einer der wichtigsten Gründe, warum in die Zeit der revolutionären Bourgeoisie so viel Putsche fallen, die mit einem Schlag niedergeworfen, so viele Regierungen, die mit einem Schlag gestürzt wurden, daher die Aufeinanderfolge von Revolution und Konter-Revolution.

Ganz anders heute, wenigstens in Ländern mit einigermaßen demokratischen Institutionen. Man hat diese Institutionen das Sicherheitsventil der Gesellschaft genannt. Wenn man damit sagen will, dass das Proletariat in einer Demokratie aufhört, revolutionär zu sein, dass es sich damit zufrieden gibt, seiner Entrüstung und seinen Leiden öffentlich Ausdruck zu geben, und dass es auf die politische und soziale Revolution verzichtet, dann ist diese Benennung falsch. Die Demokratie kann die Klassengegensätze der kapitalistischen Gesellschaft nicht beseitigen, und deren notwendiges Endergebnis, den Umsturz dieser Gesellschaft, nicht aufhalten. Aber eins kann sie: sie kann nicht die Revolution, aber sie kann manchen verfrühten, aussichtslosen Revolutionsversuch verhüten und manche revolutionäre Erhebung überflüssig machen. Sie verschafft Klarheit über die Kräfteverhältnisse der verschiedenen Parteien und Klassen; sie beseitigt nicht deren Gegensätze und verschiebt nicht deren Endziele, aber sie wirkt dahin, die aufstrebenden Klassen zu hindern, dass sie sich jeweilen an die Lösung von Aufgaben machen, denen sie noch nicht gewachsen sind, und sie wirkt auch dahin, die herrschenden Klassen davon abzuhalten, Konzessionen zu verweigern, zu deren Verweigerung sie nicht mehr die Kraft haben. Die Richtung der Entwicklung wird dadurch nicht geändert, aber ihr Gang wird steter, ruhiger. Das Vordringen des Proletariats in den Staaten mit einigermaßen demokratischen Institutionen wird nicht durch so auffallende Siege bezeichnet, wie das der Bourgeoisie in ihrer revolutionären Zeit, aber auch nicht durch so große Niederlagen. Seit dem Erwachen der modernen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in den sechziger Jahren hat das europäische Proletariat nur eine große Niederlage erlebt, in der Pariser Kommune 1871. Damals litt Frankreich noch an den Folgen des Kaiserreichs, das dem Volke wahrhaft demokratische Institutionen vorenthalten hatte, das französische Proletariat war erst zum geringsten Teil zum Selbstbewusstsein gelangt, und der Aufstand war ihm aufgezwungen worden.

Die demokratisch-proletarische Methode des Kampfes mag langweiliger erscheinen als die der Revolutionszeit der Bourgeoisie; sie ist sicher weniger dramatisch und effektvoll, aber sie erfordert auch weit weniger Opfer. Das mag einem schöngeistigen Literatentum sehr gleichgültig sein, das in Sozialismus macht, um einen interessanten Sport und interessante Stoffe zu finden, nicht aber jenen, die den Kampf wirklich zu führen haben. [1]

Diese sogenannte friedliche Methode des Klassenkampfes, die sich auf die unmilitärischen Mittel, Parlamentarismus, Streiks, Demonstrationen, Presse und ähnliche Pressionsmittel beschränkt, hat in jedem Lande um so mehr Aussicht, beibehalten zu werden, je wirksamer dort die demokratischen Institutionen sind, je größer die politische und ökonomische Einsicht und die Selbstbeherrschung der Bevölkerung.

Von zwei Gegnern wird jedoch unter sonst gleichen Umständen derjenige am ehesten kaltes Blut bewahren, der sich dem anderen überlegen fühlt. Wer dagegen an sich und seine Sache nicht glaubt, verliert nur zu leicht die Ruhe und die Selbstbeherrschung.

In allen Ländern der modernen Kultur ist aber das Proletariat diejenige Klasse, die am meisten an sich und an ihre Sache glaubt. Dazu braucht sie sich gar keinen Illusionen hinzugeben; sie braucht nur die Geschickte des letzten Menschenalters zu betrachten, um zu sehen, wie sie überall in ununterbrochenem Fortschreiten begriffen ist; und sie braucht nur die heutige Entwicklung zu verfolgen, um daraus die Gewissheit zu schöpfen, dass ihr Sieg unabwendbar ist. Es ist daher nicht zu erwarten, dass das Proletariat in einem der Länder, in denen es höher entwickelt ist, seine Ruhe und seine Selbstbeherrschung so leicht verlieren und eine Politik der Abenteurer inaugurieren wird. Um so weniger wird das zu erwarten sein, je größer gleichzeitig die Bildung, die Einsicht der Arbeiterklasse ist und je demokratischer der Staat.

Nicht dieselbe Zuversicht kann man dagegen den herrschenden Klassen entgegenbringen. Sie fühlen und sehen, dass sie von Tag zu Tag schwächer werden, sie werden immer nervöser und ängstlicher und daher auch unberechenbarer. Immer mehr und mehr geraten sie in eine Stimmung, in der man darauf gefasst sein muss, dass sie plötzlich ein Anfall von Tollwut erfasst, in dem sie voll blinder Raserei sich auf den Gegner stürzen, um ihn niederzuschlagen, unbekümmert um alle die Wunden, die sie dadurch der ganzen Gesellschaft und sich selbst zuziehen, und um alle die heillosen Verwüstungen, die sie anrichten.

Die politische Situation des Proletariats lässt erwarten, dass es so lange als möglich versuchen wird, mit der Anwendung der eben erwähnten „gesetzlichen“ Methoden allein auszukommen. Die Gefahr, dass dies Streben durchkreuzt wird, liegt vornehmlich in der nervösen Stimmung der herrschenden Klassen.

Die Staatsmänner der herrschenden Klassen wünschen zumeist, dass ein derartiger Tobsuchtsanfall, womöglich nicht bloß der herrschenden Klassen allein, sondern auch der gesamten indifferenten Massen, sich baldigst einstelle, ehe noch die Sozialdemokratie stark genug ist, ihm Widerstand zu leisten. Das bietet ihnen noch die einzige Aussicht, den Sieg der letzteren wenigstens um einige Jahre hinauszuschieben. Wohl spielen sie in diesem Fall va banque, denn wenn es der Bourgeoisie nicht gelingt, in diesem Wutanfall das Proletariat niederzuwerfen, dann bricht sie nur um so schneller erschöpft zusammen und die Sozialdemokratie triumphiert um so früher. Aber die Politiker der herrschenden Klassen sind eben zum großen Teil schon in einer Stimmung, in der sie glauben, es bleibe ihnen nicht mehr übrig, als alles auf eine Karte zu setzen. Sie wollen den Bürgerkrieg provozieren aus Angst vor der Revolution.

Die Sozialdemokratie dagegen hat nicht nur keine Ursache, sich zu einer solchen Politik der Verzweiflung zu bekennen, sie hat vielmehr alle Ursache, dafür zu sorgen, dass der Tobsuchtsanfall der Herrschenden, wenn er schon unvermeidlich sein sollte, wenigstens so weit als möglich hinausgeschoben wird, damit er erst eintritt, wenn das Proletariat kraftvoll genug geworden ist, den Rasenden ohne weiteres niederzuschlagen und zu bändigen, so dass dieser Anfall der letzte ist, und die Verheerungen, die er anrichtet, die Opfer, die er kostet, möglichst gering sind.

Sie muss daher alles vermeiden, ja bekämpfen, was eine zwecklose Provokation der herrschenden Klassen wäre, was deren Staatsmännern einen Anhaltspunkt gäbe, um die Bourgeoisie und deren Anhang in sozialistenfresserische Tollhäuslerei zu treiben. Wenn wir erklären, man könne Revolutionen nicht machen, wenn wir es für unsinnig, ja verderblich halten, eine Revolution anstiften zu wollen, und wenn wir dementsprechend handeln, so geschieht dies nicht den deutschen Staatsanwälten zuliebe, sondern im Interesse des kämpfenden Proletariats. Und die deutsche Sozialdemokratie ist darin einig mit allen ihren Bruderparteien. Dank dieser Haltung ist es den Staatsmännern der herrschenden Klassen bisher nicht möglich geworden, gegen das kämpfende Proletariat so vorzugehen, wie sie gerne möchten.

So gering der politische Einfluss der Sozialdemokratie verhältnismäßig noch ist, so ist sie doch schon in den modernen Staaten zu mächtig, als dass die bürgerlichen Politiker ganz nach Belieben mit ihr Verfahren könnten. Kleine Maßregeln und Maßregelungen helfen ihnen nichts; sie erbittern bloß die Betroffenen, ohne sie abzuschrecken oder ihre Kampffähigkeit zu verringern. Jeder Versuch aber, so einschneidende Maßregeln durchzuführen, dass das Proletariat dadurch kampfunfähig würde, beschwört die Gefahr eines Bürgerkrieges herauf, der, wie immer sein Ausgang sein mag, aus jeden Fall ungeheure Verheerungen mit sich bringt. Das weiß heute jeder einigermaßen Einsichtige. Und wie sehr auch die bürgerlichen Politiker Ursache haben mögen, zu wünschen, dass die Sozialdemokratie möglichst bald auf eine Kraftprobe gestellt werde, der sie heute vielleicht noch nicht gewachsen ist, die bürgerlichen Geschäftsleute wollen von einem Experimente, das jeden von ihnen ruinieren kann, nichts wissen, wenigstens so lange nicht, so lange sie nüchtern sind, so lange sie nicht der oben erwähnte Tobsuchtsanfall gepackt hat. Dann freilich ist der Bourgeois zu allem zu haben, und je größer seine Angst, desto wilder wird er nach Blut schreien.

Die Interessen des Proletariats verlangen es heute gebieterischer als je, dass alles vermieden werde, was geeignet wäre, die herrschenden Klassen zu einer Gewaltspolitik zwecklos zu provozieren. Dementsprechend handelt auch die Sozialdemokratie.

Es gibt aber eine Richtung, die sich eine proletarische und sozialrevolutionäre nennt und die sich als ihre vornehmste Aufgabe neben der Bekämpfung der Sozialdemokratie die Provozierung einer Gewaltspolitik stellt. Das, was die Staatsmänner der herrschenden Klassen ersehnen und was allein noch geeignet sein könnte, den Siegeslauf des Proletariats aufzuhalten, das ist das Hauptgeschäft dieser Richtung, die sich denn auch der entschiedensten Gunst der Puttkamer und Konsorten erfreut. Die Anhänger dieser Richtung suchen nicht die Bourgeoisie zu schwächen, sondern sie rasend zu machen.

Die Niederlage der Pariser Kommune 1871 ist, wie schon erwähnt, die letzte große Niederlage des Proletariats gewesen. Seitdem ist es in den meisten Ländern stetig vorwärts geschritten, dank seiner oben beschriebenen Methode, langsamer als wir wünschen, aber sicherer, als je eine der früheren revolutionären Bewegungen vorwärts geschritten ist.

Nur in einigen Fällen seit 1871 hat die proletarische Bewegung größere Rückschläge zu erleiden gehabt, und jedesmal war die Schuld daran das Eingreifen einzelner Personen mit Mitteln, die man nach dem heutigen Sprachgebrauch als anarchistische bezeichnen kann, die der von der weitaus größten Mehrzahl der jetzigen Anarchisten gepredigten Taktik „der Propaganda der Tat“ entsprechen. Auf den Schaden, den die Anarchisten der „Internationale“ und der revolutionären Erhebung in Spanien 1873 zufügten, sei nur beiläufig hingewiesen. Fünf Jahre nach dieser Erhebung ereignete sich der Anfall von allgemeiner Tollwut, den die Attentate von Hödel und Nobiling hervorriefen; ohne diese wäre es Bismarck kaum gelungen, das Sozialistengesetz durchzudrücken. Auf keinen Fall hätte es so rigoros gehandhabt werden können, wie es in den ersten Jahren seines Bestehens gehandhabt wurde, dem deutschen Proletariat wären riesige Opfer erspart geblieben, sein Siegeslauf wäre nicht für einen Moment gehemmt worden.

Der nächste Rückschlag, den die Arbeiterbewegung erlitt, trat in Österreich 1884 ein, infolge der Gaunereien und Bestialitäten der Kammerer, Stellmacher und Konsorten. Die mächtig aufstrebende sozialistische Bewegung wurde dort mit einem Schlage niedergeworfen ohne auch nur eine Spur von Widerstand, erdrückt nicht von den Behörden, sondern von der allgemeinen Wut der Bevölkerung, welche die Schuld an den Taten der genannten Anarchisten dem Sozialismus in die Schuhe schob.

Ein weiterer Rückschlag trat in Amerika ein im Jahre 1886. Dort hatte sich die Arbeiterbewegung damals rasch und mächtig entwickelt. Mit Riesenschritten ging sie vorwärts, so schnell, dass einige Beobachter es bereits für möglich hielten, sie werde binnen kurzem die europäischen Bewegungen überflügeln und an deren Spitze treten. Im Frühjahr 1886 nahm die Arbeiterklasse der Union einen gewaltigen Anlauf, den Achtstundentag zu erobern. Die Arbeiterorganisationen schwollen zu kolossalem Umfange an, Streik folgte auf Streik, jubelnde Begeisterung herrschte in den Reihen der Arbeiter, und die Sozialisten, überall die ersten und eifrigsten, begannen die Führerschaft der Bewegung zu erlangen.

Da erfolgte in einem der zahlreichen Zusammenstöße zwischen Polizei und Arbeitern, die damals stattfanden, am 4. Mai in Chicago der bekannte Bombenwurf. Heute noch ist es nicht festgestellt, wer der Täter war. Die am 11. November wegen dieser Tat Hingerichteten Anarchisten und ihre zu langen Kerkerstrafen verurteilten Genossen sind das Opfer eines Justizmordes geworden. Aber die Tat hatte der Taktik entsprochen, welche die Anarchisten stets gepredigt hatten, sie entfachte die Wut der gesamten Bourgeoisie Amerikas, verwirrte die Arbeiter und diskreditierte die Sozialdemokraten, welche man von den Anarchisten nicht zu unterscheiden wusste, vielfach auch nicht unterscheiden wollte. Der Kampf um den Achtstundentag endete mit einer Niederlage der Arbeiter, die Arbeiterbewegung brach zusammen und die Sozialdemokratie wurde zur Unbedeutendheit herabgedrückt. Nur langsam beginnt sie jetzt wieder in den Vereinigten Staaten emporzusteigen.

Die einzigen größeren Schädigungen, welche die Arbeiterbewegung seit zwanzig Jahren erfahren hat, sind durch Taten veranlasst worden, die von Anarchisten begangen wurden oder mindestens der von ihnen gepredigten Taktik entsprachen. Das Sozialistengesetz in Deutschland, die Ausnahmezustände in Österreich, der Justizmord in Chicago mit seinen Folgen, sie wurden nur dadurch ermöglicht ...

Die Aussichten, dass der Anarchismus wieder einmal irgendwo die Massen ergreift, sind heute jedoch geringer als je.

Die zwei wichtigsten Ursachen, welche sie für den Anarchismus empfänglich machten, waren der Mangel an Einsicht und die Hoffnungslosigkeit, namentlich die anscheinende Unmöglichkeit, auf politischem Wege auch nur die geringste Besserung zu erzielen.

In der ersten Hälfte der achtziger Jahre, als sich die Arbeiter Österreichs und der Vereinigten Staaten massenhaft von anarchistischen Schlagworten gefangen nehmen ließen, finden wir hier wie dort ein ungemein rasches Anwachsen der Arbeiterbewegung, – indes gleichzeitig fast alle Führer mangeln. Die Arbeiterbataillone bestanden fast nur aus ungeschulten Rekruten ohne Wissen, ohne Erfahrung und ohne Offiziere. Und dazu kam noch die anscheinende Unmöglichkeit, durch politischen Kampf die Herrschaft des Kapitals zu erschüttern. In Österreich fehlte den Arbeitern das Wahlrecht und jede Hoffnung, es in absehbarer Zeit auf gesetzlichem Wege zu erlangen. In Amerika fehlte den Arbeitern die Hoffnung, mit der staatlichen Korruption auf politischem Wege fertig zu werden. [2]

Aber nicht nur in diesen beiden Ländern, auch sonst ging in den Anfängen der achtziger Jahre ein pessimistischer Zug durch die Arbeiterbewegung.

Das ist heute überall anders und besser geworden.

In Österreich aber war es noch ein Umstand, der das Aufkommen des Anarchismus begünstigte: das Zutrauen zur Sozialdemokratie war den Massen abhanden gekommen. Als die politischen und ökonomischen Kampfesmittel – Organisationen und Presse – des deutschen Proletariats dem Sozialistengesetz erlagen, da wusste das damals auftauchende Anarchistentum den Arbeitern Österreichs weiß zu machen, die mundtot gemachte Partei habe die Flinte ins Korn geworfen und ihre revolutionären Grundsätze abgeschworen. Die österreichischen Sozialdemokraten, welche ihre deutschen Genossen verteidigten, erreichten damit nicht deren Rehabilitierung in den Augen der Mehrheit der österreichischen Arbeiter, sondern nur die eigene Diskreditierung. Ein Staatsanwalt, Graf Lamezan, leistete den Anarchisten Vorschub, die ihm natürlich lieber waren, und erklärte verächtlich, die Sozialdemokraten seien nur „Revolutionäre im Schlafrock“.

Auch heute ist es das eifrigste Bemühen der Anarchisten, den Arbeitern nachzuweisen, die Sozialdemokraten seien Revolutionäre im Schlafrock. Bisher haben sie keinen Erfolg damit gehabt. Aber wenn es je möglich wäre, dass in Deutschland eine anarchistische Bewegung von Belang aufkäme, dann könnte sie erzeugt werden nicht durch die Agitationen der „Unabhängigen“, sondern nur entweder durch ein Vorgehen der herrschenden Klassen, welches in den arbeitenden Massen Hoffnungslosigkeit erzeugt und die Verbreitung von Einsicht unter ihnen aufs äußerste beeinträchtigt, oder aber durch Äußerungen aus unserer Mitte, die den Anschein erweckten, als wollten wir unsere revolutionären Grundsätze verleugnen. Je „gemäßigter“ wir würden, desto mehr würden wir Wasser auf die Mühle der Anarchisten leiten und so gerade jener Bewegung Vorschub leisten, die am meisten dahin wirkt, dass an Stelle der zivilisierten Formen des Kampfes dessen brutalste Formen treten. Man kann sagen, dass heute nur ein Moment die Massen des Proletariats veranlassen könnte, freiwillig von den oben auseinandergesetzten „friedlichen“ Methoden des Kampfes abzugehen: das Schwinden des Glaubens an den revolutionären Charakter unserer Partei. Wir könnten die friedliche Entwicklung nur gefährden durch allzu große Friedlichkeit.

Wir brauchen nicht erst auszuführen, welches Unheil auch sonst jegliches Abwiegeln hervorrufen würde.

Die Gegnerschaft der Besitzenden würde dadurch nicht vermindert, und verlässliche Freunde würden dadurch auch nicht gewonnen. In unsere eigenen Reihen aber würde Verwirrung getragen, die Lauen würden noch lauer gemacht und die Tatkräftigen abgestoßen werden.

Der große Hebel unserer Erfolge ist der revolutionäre Enthusiasmus. Wir werden ihn in der Zukunft mehr brauchen als je, denn das Schwerste liegt noch vor uns, nicht hinter uns. Um so schlimmer würde alles wirken, was geeignet wäre, diesen Hebel zu lähmen.

Die heutige Situation bringt aber die Gefahr mit sich, dass wir leicht „gemäßigter“ aussehen, als wir sind. Je stärker wir werden, desto mehr treten die praktischen Aufgaben in den Vordergrund, desto mehr müssen wir unsere Agitation über den Kreis des industriellen Lohnproletariats hinaus erstrecken, desto mehr müssen wir uns vor unnützen Provozierungen oder gar leeren Drohungen hüten. Es ist sehr schwer, dabei das richtige Maß zu halten, der Gegenwart ihr volles Recht werden zu lassen, ohne die Zukunft aus den Augen zu verlieren, auf den Gedankengang der Bauern und Kleinbürger einzugehen, ohne den proletarischen Standpunkt aufzugeben, jede Herausforderung möglichst zu vermeiden und doch es allgemein zum Bewusstsein zu bringen, dass wir eine Partei des Kampfes, des unversöhnlichen Kampfes gegen die ganze bestehende Gesellschaftsordnung sind.“

So weit der Artikel von 1893. Auch hier finden wir wieder eine Prophezeiung, die in Erfüllung gegangen ist. Was ich 1893 befürchtete, trat wenige Jahre später ein. In Frankreich wurde ein Teil unserer Parteigenossen zeitweilig zur Regierungspartei. Die Massen erhielten den Eindruck, die Sozialdemokratie habe ihren revolutionären Grundsätzen abgeschworen, sie verloren ihr Zutrauen zur Partei – und so verfielen sie zu nicht geringem Teil der jüngsten Spielart der Anarchisterei, dem Syndikalismus, der ebenso wie der alte Anarchismus der Propaganda der Tat weniger danach trachtet, das Proletariat zu stärken, als vielmehr die Bourgeoisie unnötig zu erschrecken, sie zur Tollwut zu reizen und unzeitig Kraftproben zu provozieren, denen das Proletariat unter den gegebenen Verhältnissen nicht gewachsen ist.

Gerade die revolutionären Marxisten sind unter den Sozialisten Frankreichs diejenigen, die diesem Treiben am entschiedensten entgegentreten. Sie bekämpfen den Syndikalismus ebenso energisch wie den Ministerialismus, halten den einen für ebenso schädlich wie den anderen.

Die revolutionären Marxisten stehen heute noch auf dem Standpunkt, der von Engels und mir in den oben zitierten Artikeln aus den Jahren 1892–1895 entwickelt wurde.

Wir sind weder Männer der Gesetzlichkeit um jeden Preis, noch auch Revolutionäre um jeden Preis. Wir wissen, dass wir die historischen Situationen nicht nach Belieben schaffen können, dass unsere Taktik ihnen angepasst sein muss.

Anfangs der neunziger Jahre habe ich anerkannt, dass eine ruhige Weiterentwicklung der proletarischen Organisationen und des proletarischen Klassenkampfes auf den gegebenen staatlichen Grundlagen das Proletariat in der Situation jener Zeit am weitesten vorwärts bringe. Man wird mir also nicht vorwerfen können, es sei das Bedürfnis, mich in Rrrevolution und Rrradikalismus zu berauschen, wenn mich die Beobachtung der heutigen Situation zu der Anschauung führt, dass die Verhältnisse seit dem Anfang der neunziger Jahre gründlich geändert sind, dass wir alle Ursache haben, anzunehmen, wir seien jetzt in eine Periode von Kämpfen um die Staatseinrichtungen und die Staatsmacht eingetreten, Kämpfen, die sich unter mannigfachen Wechselfällen durch Jahrzehnte hinziehen können, deren Formen und Dauer vorläufig noch unabsehbar sind, die aber höchst wahrscheinlich bereits in absehbarer Zeit erhebliche Machtverschiebungen zugunsten des Proletariats, wenn nicht schon seine Alleinherrschaft in Westeuropa herbeizuführen.

Die Gründe für diese Anschauung seien in folgendem kurz angedeutet.


Anmerkungen des Verfassers

1. „Bürgerliche Revolutionen, wie die des achtzehnten Jahrhunderts, stürmen rascher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatischen Effekte überbieten sich, Menschen und Dinge scheinen in Feuer-brillanten gefasst, die Ekstase ist der Geist jedes Tages; aber sie sind kurzlebig, bald haben sie ihren Höhepunkt erreicht und ein langer Katzenjammer erfasst die Gesellschaft, ehe sie die Resultate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern sich aneignen lernt. Proletarische Revolutionen dagegen ... kritisieren beständig sich selbst“ usw. (Marx, Der 18. Brumaire, S. 4.) Bei der Vergleichung der bürgerlichen mit der proletarischen Revolution hat Marx 1852 natürlich den Einfluss der demokratischen Institutionen auf diese noch nicht in Betracht ziehen können.

2. In einer der jüngsten Nummern unseres amerikanischen Bruderorgans Vorwärts finden wir einen Bericht aus einer Rede des kürzlich aus dem Gefängnis befreiten Michael Schwab, eines der Opfer der Bombenaffäre von 1886. Er erkannte an, dass die anarchistische Taktik verkehrt und töricht sei. Aber er erklärte auch, wieso der Anarchismus in den achtziger Jahren in Chicago sich hatte ausbreiten können: „Es kann gar nicht oft genug wiederholt werden, dass diese (die anarchistische) Taktik in Chicago erst Boden gewann, nachdem ein Richter entschieden hatte, dass Kommunisten gegenüber das Fälschen von Stimmzetteln erlaubt sei. Die meisten von Ihnen erinnern sich der Wahl, welche Herrn Frank Stauber zum zweiten Male in den Stadtrat berief. Das Resultat der Wahl wurde aufs frechste von zwei Wahlrichtern gefälscht. Das wurde nachgewiesen durch die Eide von Polizisten und anderen Zeugen, sowie in der Schlussverhandlung, die man so lange wie möglich hinausgeschoben hatte, durch das trockene Eingeständnis der Angeklagten. Und der Richter sprach die Fälscher frei! Die Entrüstung unter den Arbeitern war allgemein und sie wollten nichts mehr von den Methoden wissen, die sie früher befolgt hatten. Seitdem haben viele von uns gelernt, dass man in der Politik sich nicht von bloßen Gefühlsaufwallungen leiten lassen darf.“


Zuletzt aktualisiert am: 7.1.2012