Karl Kautsky

Der Weg zur Macht


9. Ein neues Zeltalter der Revolutionen

Wir haben gesehen, wie in der Schweiz die Kosten des Militarismus rasch steigen. Das ist aber nur ein schwacher Abglanz dessen, was die großen Militärstaaten leisten. Sehen wir nur das Deutsche Reich an. Dort verausgabte man (nach dem Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich) Millionen Mark für

  1873   1880–81   1891–92   1900       1908    
Landheer 308 370    488    666    856
Marine   26   40      85    152    350
Kolonialverwaltung      21      21
Pensionsfonds    21    18      41      68    110
Zinsen der
Staatsschuld
    9      54      78    156
Zusammen 355 437    668    985 1.493
    |   |   |   |  
Jährliche Zunahme 12 21 35 64
Gesamtausgaben
des Reichs
404   550   1.118   2.056   2.785
    |   |   | bzw.
      1.640 [1]
|  
Jährliche Zunahme 21 52 58   91

Wir sehen, die Ausgaben steigen ununterbrochen, aber in stets wachsendem Tempo: innerhalb des ersten Jahrzehnts des Reiches um 21 Millionen, schließlich, innerhalb des letzten Jahrzehnts um 91 Millionen im Jahr. In den letzten Jahren erreichte die jährliche Steigerung gar 200 Millionen. (1905: 2.195; 1906: 2.392; 1907: 2.597; 1908: 2.785 Millionen).

Die Hauptzunahme trifft auf die Kosten der Kriegsrüstungen. Und darunter wieder mehr noch auf die Flotte als das Landheer. Während die Bevölkerung des Reichs von 1891 bis 1908 von 50 Millionen auf 63 Millionen, also um ein Viertel wuchs, haben sich die Kosten des Landheeres inzwischen fast verdoppelt, des Pensionsfonds und der Verzinsung der Staatsschuld fast verdreifacht, die der Marine vervierfacht. Und in diesem tollen Wachstum gibt es kein Einhalten, so lange nicht das bestehende Regime von Grund aus geändert wird. Die stete Umwälzung der Technik, die das kapitalistische Maschinenwesen und die Einführung der Naturwissenschaft in die Produktion mit sich bringt, bemächtigt sich auch des Kriegswesens, schafft auch da einen beständigen Konkurrenzkampf neuer Erfindungen, eine beständige Entwertung des Bestehenden, eine beständige Ausdehnung der Machtmittel, aber nicht, wie in der Produktionsweise, zu steter Vermehrung der Produktivität der Arbeit, sondern zu steter Vergrößerung der Verheerungen des Krieges und zu steter Vermehrung der unproduktiven Verschwendung des Friedens.

Neben der Umwälzung durch die Technik ist es aber auch die stete Erweiterung des Herrschafts- oder wenigstens Einflußgebiets eines jeden Großstaats durch die Weltpolitik, die es immer notwendiger macht, dass er seine Machtmittel erweitert. So lange die Weltpolitik dauert, muss der Wahnsinn des Wettrüstens bis zur völligen Erschöpfung zunehmen: Der Imperialismus aber, das haben wir gesehen, ist die einzige Hoffnung, die einzige Idee, für die Zukunft, die der bestehenden Gesellschaft noch winkt. Außer ihr gibt es nur noch eine Alternative: den Sozialismus. Und so wird sich dieser Wahnsinn steigern, bis das Proletariat die Kraft gewinnt, die Politik des Staates zu bestimmen, die Politik des Imperialismus zu überwinden und durch die des Sozialismus zu ersetzen. Je länger das Wettrüsten dauert, desto schwerer die Lasten, die es jedem Volke auferlegt. Desto mehr sucht sie aber auch jede Klasse den anderen zuzuschieben, desto mehr verschärft das Wettrüsten die Klassengegensätze.

Im Deutschen Reiche sind es natürlich die Arbeiter, denen die Hauptlast zugeschoben wird. Das war schon schlimm genug in der Zeit des geschäftlichen Aufschwungs, der niedrigen Lebensmittelpreise, des Vordringens der Gewerkschaften. Es wird unerträglich in der Zeit der Krise, der Teuerung, der Übermacht der Unternehmerverbände.

Aber durch die wachsende Steuerlast wird nicht bloß das Einkommen des Arbeiters verringert, die Kaufkraft seines Lohnes herabgesetzt, es wird auch der industrielle Fortschritt selbst, der angeblich durch die Weltpolitik gefördert werden soll, aufs äußerste bedroht.

Die Vereinigten Staaten sind der gefährlichste Konkurrent der deutschen Industrie. Diese ist jenen gegenüber benachteiligt durch das deutsche Schutzzollsystem. Wohl hat Amerika noch höhere Schutzzölle, aber nur industrielle, keine agrarischen. Es verfügt über die billigsten Lebensmittel und produziert fast alle Rohstoffe selbst. Dabei hat es den Vorteil, keine nennenswerte Landmacht zum Nachbar zu haben. Es braucht nicht eine halbe Million Menschen jahraus jahrein durch öde Soldatenspielerei der Produktion zu entziehen.

Je mehr der Militarismus in Europa steigt, desto gewaltiger wächst die industrielle Überlegenheit der Vereinigten Staaten, desto mehr wird der wirtschaftliche Fortschritt Europas verlangsamt. Desto ungünstiger auch die ökonomische Lage der europäischen Arbeiterschaft. Und um diesen Prozess noch zu fördern, werden ihr die schwersten Opfer zugemutet.

Wohl sind auch die Vereinigten Staaten in die Bahn des Imperialismus eingetreten und damit in die der vermehrten Rüstungen. Seit dem Krieg mit Spanien wachsen auch ihre Ausgaben für Heer und Flotte. Immerhin werden sie dadurch weniger geschädigt als die europäischen Großmächte, weil sie nicht gleich diesen ein großes stehendes Landheer in der Heimat zu erhalten haben. In den ganzen Vereinigten Staaten befinden sich bloß 60 000 Mann. Wie auf dem Gebiet der industriellen Konkurrenz können auch auf dem des Wettrüstens die Vereinigten Staaten am längsten mittun, ohne dass ihnen der Atem ausgeht.

Es betrug in den Vereinigten Staaten

Jahr   Bevölkerung
in Millionen
Köpfen
  Staatsschuld
in Millionen
Dollars
  Ausgaben
für Landheer
in Millionen
Dollars
  Ausgaben
für Flotte
in Millionen
Dollars
  Wert des Exports von
Lebens-
mitteln
  Roh-
stoffen
  Fabri-
katen
Proz. des Gesamtexports
1880 50 1,919   38 14 56   29   15
1890 63    890   45 22 42 36 21
1900 76 1,101 135 56 40 24 35
1907 86    879 123 97 28 32 40

Man sieht, die Staatsschuld nimmt ab. 1900 wuchs sie allerdings, ebenso wie die Ausgaben für das Heer, infolge des Krieges mit Spanien. Aber seitdem konnte sie wieder verringert werden, trotz steigender Ausgaben für Flotte und Heer. Die Kosten des Landheeres wurden für 1908 auf 190 Millionen Dollars berechnet, 800 Millionen Mark, fast so viel wie in Deutschland, freilich bei einer Bevölkerung von 86 Millionen Köpfen.

Die Tabelle des Exports zeigt aber, wie rasch der Export von Fabrikaten aus Amerika wächst, wie sehr es immer mehr als Industriestaat, nicht als Agrarstaat, auf dem Weltmarkt auftritt.

Von der deutschen Gesamtausfuhr von Waren im Wert von 7500 Millionen Mark waren 1907 5000 Millionen Fabrikate. In den Vereinigten Staaten waren von einer Gesamtausfuhr im Wert von 8000 Millionen Mark (1.853 Millionen Dollars) heimischer Erzeugnisse über 3.000 Millionen (740 Millionen Dollars) Fabrikate. 1890 betrug der Wert der deutschen Ausfuhr an Fabrikaten 2147 Millionen Mark, der der amerikanischen nur rund 800 Millionen Mark (179 Millionen Dollars). Die erstere hat sich also im gleichen Zeitraum um 150 Proz. vermehrt, die letztere um 300 Proz.

Man sieht, die Vereinigten Staaten sind uns als Industriestaat schon bedenklich an den Leib gerückt.

Und in dieser Situation, während die Vereinigten Staaten von 1900 bis 1907 ihre Staatsschuld um 230 Millionen Dollars (1 Milliarde Mark) verringern, vermehrt Deutschland seine Schuldenlast in dem gleichen Zeitraum um 1½ Milliarden. Und eben jetzt, wo dies geschrieben wird, werden wieder neue kolossale Erhöhungen der Ausgaben und eine Steuererhöhung von einer halben Milliarde geplant.

Wird die Arbeiterklasse durch solche Lasten am stärksten getroffen und niedergedrückt, so beschweren sie auch die Industrie, erschweren deren Konkurrenzkampf, was aber auch wieder am Arbeiter ausgeht, auf dessen Rücken dieser Kampf ausgekämpft wird. Indessen findet die Belastung des Arbeiters ihre Grenzen, über die sie nicht Hinausgetrieben werden kann, und so muss das Wettrüsten schließlich auch den industriellen Fortschritt selbst lähmen.

Gleichzeitig verschärft es aber immer mehr die nationalen Gegensätze und schürt es die Kriegsgefahr, wo es doch der Erhaltung des Friedens dienen soll. Jeder Regierung werden die fortgesetzten, sich überstürzenden Rüstungen immer unerträglicher, aber keine der herrschenden Klassen sucht die Schuld daran in der Weltpolitik, die sie treiben. Sie dürfen sie dort nicht sehen, weil dort die letzte Zuflucht des Kapitalismus liegt. So sucht jeder die Schuld nur beim andern, die Deutschen bei den Engländern, die Engländer bei den Deutschen. Alle werden dadurch nervöser und argwöhnischer, was aber nur eine neue Anstachlung bildet, die Rüstungen mit vermehrter Hast fortzusetzen, bis es schließlich heißt: Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.

Schon längst hätte diese Situation zum Kriege geführt, als der einzigen Alternative neben der Revolution, aus diesem tollen Zustand gegenseitiger Hinaufschraubung der Staatslasten herauszukommen, wenn nicht eben diese Alternative der Revolution hinter dem Kriege noch näher stände als hinter dem bewaffneten Frieden. Es ist die steigende Kraft des Proletariats, die seit drei Jahrzehnten jeden europäischen Krieg verhindert, die auch jetzt jede Regierung vor einem solchen zurückschaudern lässt. Aber die Mächte treiben einem Zustand entgegen, in dem schließlich die Gewehre von selbst losgehen.

In der gleichen Richtung wirkt eine andere Erscheinung, die mehr noch als das Wettrüsten berufen ist, die Weltpolitik ad absurdum zu führen, und damit der bestehenden Produktionsweise ihre letzte Entwicklungsmöglichkeit abzuschneiden.

Die Kolonialpolitik oder der Imperialismus beruht auf der Annahme, dass nur die Völker der europäischen Zivilisation einer selbständigen Entwicklung fähig seien. Die Menschen anderer Rassen gelten als Kinder, Idioten oder Lasttiere, je nachdem man sie mit mehr oder weniger Unfreundlichkeit behandelt, auf jeden Fall als tiefer stehende Wesen, die man nach Belieben dirigieren kann. Selbst Sozialisten gehen von dieser Anschauung aus, sobald sie Kolonialpolitik – natürlich ethische – treiben wollen. Aber die Wirklichkeit lehrt sie bald, dass unser Parteigrundsatz von der Gleichheit aller Menschen keine bloße Redensart, sondern eine sehr reelle Kraft ist.

Wohl standen die Völker, die sich außerhalb der europäischen Zivilisation befanden, dieser Jahrhunderte hindurch meist so gut wie widerstandslos, stets zu dauerndem Widerstand unfähig gegenüber; aber das beruhte nicht darauf, dass sie von Natur aus tiefer gestellt waren, wie es der protzige Dünkel der europäischen Bourgeoisie meint, der seinen wissenschaftlichen Ausdruck in den Phantasien unserer Rassentheoretiker findet. Jene Völker wurden einfach erdrückt durch die Überlegenheit europäischer Technik, freilich auch europäischen Geistes, dessen Überlegenheit aber in letzter Linie auch auf der der Technik beruht. Die Völker außereuropäischer Zivilisation sind – wenige ganz rückständige Stämme mit ein paar Tausend Menschen vielleicht ausgenommen – sehr Wohl fähig, deren geistiges Leben aufzunehmen, aber es fehlten ihnen bisher die materiellen Bedingungen dazu.

Die Ausdehnung des Kapitalismus hat an diesem Zustand lange nur wenig geändert. Die kapitalistischen Exporteure brachten in die Gegenden, die außer der europäischen Zivilisation lagen (zu der heute natürlich auch Amerika und Australien gehören), zunächst nur kapitalistische Produkte, nicht kapitalistische Produktion. Und sie beschränkten sich dabei vornehmlich auf die Wasserwege, die Küsten der Meere und einiger großen Ströme. Darin trat ein gewaltiger Umschwung während des letzten Menschenalters und namentlich der letzten zwei Jahrzehnte ein. Sie brachten nicht nur eine neue Ära der überseeischen Eroberungspolitik, die Ausfuhr aus den Industriestaaten nach den barbarischen Ländern wurde nun aus einer bloßen Ausfuhr von Produkten auch eine von Produktions- und Transportmitteln des modernen Industrialismus.

Wir haben oben gesehen, in welchem Maße das Eisenbahnwesen während dieses Zeitalters namentlich im Orient (Russland hier einbegriffen) rapide Fortschritte machte. Aber auch die kapitalistische Industrie entwickelte sich dort rasch, die Textilindustrie, Eisenindustrie, Bergbau. Der letztere revolutionierte auch das südliche Afrika.

Auf diesem Export von Produktionsmitteln beruhte die neue Blüte der kapitalistischen Industrie seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Sie schien in der ersten Hälfte der achtziger Jahre schon am Ende ihrer Aufschwungsfähigkeit zu sein und war es, was den Export von Fabrikaten anbelangt. Aber der Export von Produktionsmitteln, der ihr dann wieder jenen unerwarteten, glänzenden Aufschwung verlieh, er war nur möglich dadurch, dass er eine kapitalistische Produktionsweise in den Ländern der außereuropäischen Zivilisation großzog und dort die überkommenen wirtschaftlichen Verhältnisse rasch über den Haufen warf. Damit wurde aber auch die Fortsetzung der alten Denkweisen im Orient unmöglich. Mit der neuen, aus Europa stammenden Produktionsweise entwickelten sich plötzlich die geistigen Fähigkeiten der bis dahin barbarischen Völker zu europäischer Höhe. Jedoch atmete der neue Geist nicht Liebe zu Europa. Die neuen Länder wurden zu Konkurrenten der alten. Konkurrenten sind aber Feinde. Das Erstehen des europäischen Geistes in den Ländern des Orients machte diese nicht zu Freunden, sondern nur zu ebenbürtigen Feinden Europas. Das trat nicht sofort zutage. Wir haben oben gesehen, welche Rolle das Kraftbewusstsein im gesellschaftlichen Leben spielt, und wie lange eine neuaufkommende Klasse oder Nation in dienender Stellung bleiben kann, die schon die Kraft zur Selbständigkeit besitzt, sich aber noch nicht deren bewusst geworden ist. Das zeigte sich auch jetzt. Die Völker des Orients waren zu oft von den Europäern besiegt worden, als dass sie nicht jeden Widerstand gegen diese für vergeblich gehalten hätten. Die Europäer waren der gleichen Ansicht. Darauf beruhte ihre Kolonialpolitik, bei der sie über die fremden Völker verfügten, sie vertauschten und verhandelten, als wären es Stücke Vieh.

Aber sobald die Japaner das Eis gebrochen hatten, wirkte das sofort auf den ganzen Orient zurück. Ganz Ostasien ebenso wie die ganze mohammedanische Welt erhoben sich zu selbständiger Politik, zum Widerstand gegen jegliche Herrschaft von außen.

Damit ist der Imperialismus zum Stillstand gebracht. Er kann nicht mehr recht vom Fleck. Und doch muss er stetig weiter geführt werden, wie der Kapitalismus sich stetig weiter ausdehnt und ausdehnen muss, soll seine Ausbeutung nicht völlig unerträglich werden.

Als einziges Ausdehnungsgebiet bleibt jetzt das äquatoriale Afrika, wo das Klima der beste Verbündete der Eingeborenen ist, wo europäische Krieger nicht verwendbar sind, wo die Europäer Eingeborene als Söldner anwerben, bewaffnen und in den Waffen üben müssen – die Zeit vorbereitend, wo sich ihre Soldtruppen gegen die eigenen Herren wenden werden.

Überall in Asien und Afrika verbreitet sich der Geist der Rebellion, verbreitet sich aber auch der Gebrauch europäischer Bewaffnung, wächst der Widerstand gegen die europäische Ausbeutung. Man kann nicht in ein Land die kapitalistische Ausbeutung verpflanzen, ohne auch den Samen der Auflehnung gegen diese Ausbeutung dort zu säen.

Zunächst äußert sich das in einer steten Erschwerung der Kolonialpolitik, in einem Wachsen ihrer Kosten. Unsere Kolonialschwärmer trösten uns über die Lasten, die uns die Kolonien jetzt auflegen mit dem Hinweis auf deren reiche Erträgnisse, die uns die Zukunft bringt. In Wirklichkeit müssen die Kriegskosten von jetzt an stets zunehmen, die von uns die Behauptung der Kolonien fordert – doch wird es dabei nicht bleiben. Die Länder Asiens und Afrikas gehen in ihrer Mehrzahl einem Zustand entgegen, in dem die zeitweilige Empörung zur offenen, dauernden wird und schließlich zur Abschüttelung des fremden Joches führt. Am nächsten dazu sind die britischen Besitzungen in Ostindien: ihr Verlust käme einem Bankrott des englischen Staates gleich.

Wir haben schon bemerkt, dass sich seit dem japanisch-russischen Kriege Ostasien und die mohammedanische Welt zur Abwehr des europäischen Kapitalismus erhoben. Sie bekämpfen damit denselben Feind, den das europäische Proletariat bekämpft. Freilich dürfen wir nicht vergessen, dass sie Wohl denselben Feind bekämpfen, aber keineswegs zu demselben Zweck. Nicht um das Proletariat zum Sieg über das Kapital zu führen, sondern um dem auswärtigen Kapitalismus einen inneren, nationalen entgegenzusetzen, erheben sie sich. Wir dürfen uns darüber keinen Illusionen hingeben. So wie die Buren arge Leuteschinder, sind die Beherrscher Japans die schlimmsten Sozialistenverfolger, haben sich die Jungtürken auch schon gedrängt gefühlt, gegen streikende Arbeiter einzuschreiten. Wir dürfen also den Gegnern des europäischen Kapitalismus außerhalb Europas nicht kritiklos gegenüberstehen.

Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass durch sie der europäische Kapitalismus und dessen Regierungen geschwächt werden und ein Element politischer Unruhe in die ganze Welt getragen wird.

Wir haben gesehen, wie in Europa eine Zeit steter Unruhe von 1789 bis 1871 dauerte, bis die industrielle Bourgeoisie sich dort allenthalben die ihre rasche Entwicklung ermöglichenden politischen Bedingungen erobert hatte. Eine ähnliche Zeit steter politischer Unruhe ist seit dem russisch-japanischen Krieg, seit 1905, für den Orient eingetreten. Es sind die Völker Ostasiens und der mohammedanischen Welt, ebenso wie die Russlands, die jetzt in eine Position eintreten, in vielem ähnlich der der westeuropäischen Bourgeoisie ums Ende des 18. und den Beginn des 19. Jahrhunderts. Natürlich sind die Verhältnisse nicht ganz die gleichen. Schon das macht sie verschieden, dass die Welt seitdem um ein Jahrhundert älter geworden ist. Die politische Entwicklung eines Landes hängt nicht bloß von seinen eigenen sozialen Verhältnissen ab, sondern auch von den Verhältnissen der gesamten Umwelt, die auf das Land einwirkt. Die verschiedenen Klassen Russlands, Japans, Indiens, Chinas, der Türkei, Ägyptens usw. mögen in einem ähnlichen Verhältnis zueinander stehen, wie die Klassen Frankreichs vor der großen Revolution. Aber sie werden beeinflusst durch die Erfahrungen der Klassenkämpfe, die England, Frankreich, Deutschland seitdem durchgemacht haben. Andererseits ist ihr Kampf für günstige Bedingungen einer nationalen kapitalistischen Produktionsweise gleichzeitig ein Kampf gegen das ausländische Kapital und dessen Fremdherrschaft, ein Kampf, den die Völker Westeuropas in dem revolutionären Zeitalter 1789-1871 nicht zu führen hatten.

Aber so sehr diese Verschiedenheiten auch dahin wirken, dass sich jetzt im Osten nicht einfach die Ereignisse wiederholen, die der Westen vor einem Jahrhundert durchmachte, die Ähnlichkeit der Situation ist groß genug, dass für den Osten nun ein revolutionäres Zeitalter ähnlicher Art beginnt, ein Zeitalter von Verschwörungen, Staatsstreichen, Insurrektionen, Reaktionen und erneuten Insurrektionen, steten Umwälzungen, das so lange dauert, bis die Bedingungen einer ruhigen Entwicklung und gesicherter nationaler Unabhängigkeit für jene Welt erreicht sind.

Dank der Weltpolitik ist aber der Orient – dieses Wort im weitesten Sinne genommen – politisch und ökonomisch so eng mit dem Abendlande verknüpft, dass die politische Unruhe des Ostens auch die des Westens nach sich zieht. Das so mühsam erreichte politische Gleichgewicht der Staaten kommt jetzt durch unerwartete Veränderungen, auf die sie keinen Einfluss haben, ins Wanken; Probleme, deren friedliche Lösung unmöglich schien, und die man deshalb auf die lange Bank schob, wie das Verhältnis zu den Balkanstaaten, erstehen plötzlich und heischen ihre Lösung. Unruhe, Misstrauen, Unsicherheit überall, die durch das Wettrüsten schon gesteigerte Nervosität wird auf den Gipfel getrieben. Der Weltkrieg wird nun in bedrohlichste Nähe gerückt; der Krieg bedeutet aber auch die Revolution. Im Jahre 1891 meinte Engels noch, es wäre ein großes Pech für uns, wenn ein Krieg ausbräche, der die Revolution nach sich zöge und uns ans Ruder brächte, da dies vorzeitig geschähe. Eine Weile könnte das Proletariat durch Ausnutzung des gegebenen staatlichen Bodens noch sicherer vorwärts kommen, als durch das Risiko einer durch einen Krieg herbeigeführten Revolution.

Seitdem hat sich die Situation sehr geändert: Das Proletariat ist heute so erstarkt, dass es einem Kriege mit mehr Ruhe entgegensehen darf. Und es kann nicht mehr von einer vorzeitigen Revolution reden, wenn es aus dem gegebenen staatlichen Boden so viel Kraft gesogen hat, als ihm zu entnehmen war, wenn eine Umgestaltung dieses Bodens zu einer Bedingung seines weiteren Aufstiegs geworden ist.

Das Proletariat hasst den Krieg mit aller Macht, es wird alles aufbieten, keine Kriegsstimmung aufkommen zu lassen. Sollte es trotzdem zum Ausbruch eines Krieges kommen, so ist das Proletariat heute diejenige Klasse, die seinem Ausgang am zuversichtlichsten entgegensehen darf.

Es ist seit 1891 nicht nur an Zahl ungemein gewachsen, nicht nur organisatorisch gefestigt, es hat auch an moralischer Überlegenheit ungeheuer gewonnen. Vor zwei Jahrzehnten stand in Deutschland der Sozialdemokratie noch das große Prestige gegenüber, das die Beherrscher des Reichs in den Kämpfen um dessen Gründung gewonnen hatten. Heute ist dies Prestige in alle Winde zerstoben.

Je mehr anderseits die Idee des Imperialismus bankrott macht, desto mehr wird die Sozialdemokratie die einzige Partei, die eine große Idee, ein großes Ziel verficht, die alle die Tatkraft und Hingebung zu entfesseln vermag, die aus einem solchen Ziele entströmen.

In den Reihen der Gegner dagegen wird Kleinmut und Apathie gesät durch das Bewusstsein, dass Korruption und Unfähigkeit ihre Leiter degradieren. Sie glauben nicht mehr an ihre Sache und nicht mehr an ihre Führer, die gerade jetzt, in einer Situation, deren Schwierigkeiten von Tag zu Tag sich häufen, immer mehr versagen und versagen müssen, immer mehr ihre vollendete Nichtigkeit enthüllen.

Auch das ist kein Zufall und keine Verschuldung einzelner Personen, sondern in den Verhältnissen begründet.

Die Ursachen sind mannigfachster Art. Sobald eine Klasse oder ein Staatswesen aus dem revolutionären in das konservative Stadium geraten, sobald sie nicht mehr um ihre Existenz oder um ihr Aufkommen zu kämpfen haben, sich mit dem Bestehenden abfinden und nur noch in Kleinigkeiten daran zu bessern suchen, muss das verengend auf den geistigen Horizont ihrer Wortführer und Lenker wirken. Ihr Interesse für große Fragen erlischt, aber auch ihre Kühnheit wird nicht mehr angestachelt, kühne Denker und Kämpfer werden vielmehr als unbequem empfunden und zurückgeschoben. Kleinliches Intrigantentum und feige Charakterlosigkeit treten in den Vordergrund.

In gleicher Richtung wirkt die Tatsache, dass für Staatsmänner und Denker von Klassen und Staaten, die nicht mehr um Großes zu ringen haben, das selbstlose Interesse für die Gesamtinteressen der Klasse, des Gemeinwesens, der Gesellschaft durch das Interesse für die eigene Person verdrängt wird. Die nach Macht strebenden Personen werden nicht mehr beseelt von dem Drange, Großes, Neues für die Gemeinschaft zu schaffen, sondern nur noch von dem, Reichtum und Macht für sich zu erwerben. Ihr skrupelloses Strebertum findet seine Ergänzung in dem Streben der Machthaber, nicht solche Kräfte heranzuziehen, die am fähigsten sind, dem Gemeinwesen zu dienen, sondern solche, die sich den persönlichen Bedürfnissen und Neigungen der Machthaber am schmiegsamsten oder amüsantesten anzupassen wissen.

Zu diesen allgemeinen Ursachen des moralischen und intellektuellen Niedergangs alles Machthabertums in einem konservativen Stadium gesellen sich jetzt noch besondere, die der Eigenart des Kapitalismus entspringen.

Ehedem waren die ausbeutenden Klassen auch die regierenden. Wenigstens die Spitzen des staatlichen Apparats reservierten sie für sich. Die Kapitalistenklasse dagegen ist so von der Geschäftsmacherei erfüllt, dass sie die Politik andern überlässt, die freilich im Grunde nichts anderes sind, als ihre Kommis – in demokratischen Ländern Geschäftspolitikern, Parlamentariern und Journalisten, in absolutistischen der Hofgesellschaft, in Ländern mit einer Zwischenstellung einem bunten Gemisch dieser Elemente, wobei bald das eine, bald das andere überwiegt.

Solange die kapitalistische Ausbeutung gering ist, heißt die Losung des Kapitals: Sparen, und es sucht sie auch der Staatsverwaltung beizubringen. Das Kleinbürgertum bleibt dieser Losung nolens volens getreu, das Großkapital entwickelt dagegen, je mehr der Grad der Ausbeutung steigt, die es übt, eine Prunksucht und Verschwendung, die schließlich ein ebenso tolles Tempo einschlägt, wie das Wettrüsten und ebenso wahnwitzige Formen annimmt.

Ehedem waren es die Herren des Staates, die an Reichtum und Prunk alle Untertanen hinter sich ließen. Jetzt werden die Politiker und Staatsmänner bis in die höchsten Regionen hinauf immer mehr ausgestochen von den Beherrschern der hohen Finanz. Die regulären Einnahmen der regierenden Staatsmänner ans dem Staatssäckel zu steigern, geht aber schwer, namentlich in parlamentarischen Staaten, wo man Rücksichten ans die Wähler und Steuerzahler zu nehmen hat, die nach Sparsamkeit schreien. Es geht um so schwerer, je mehr die Kriegsrüstungen das ganze Wachstum der Staatseinnahmen aufsaugen.

Wollen Politiker und Staatsmänner die steigende Lebenshaltung der großen Ausbeuter mitmachen, dann bleibt ihnen nichts übrig, als sich neben den legitimen Einnahmequellen illegitime zu eröffnen, durch Ausnutzung und Prostituierung ihres staatlichen Einflusses. Sie benutzen ihre Kenntnis der Staatsgeheimnisse und ihren Einfluss auf die Staatspolitik zu Börsenspekulationen: sie beuten die Gastfreiheit der großen Ausbeuter in parasitischster Weise aus; sie lassen sich von ihnen ihre Schulden bezahlen, ja nehmen schließlich in den schlimmsten Fällen direkte Bestechungen an, um dafür ihre politische Macht zu verkaufen.

Das Übel ist allgemein, in allen kapitalistischen Staaten mit großen Ausbeutern zu finden. Es ergreift stets die politisch einflussreichsten Organe am ehesten, in demokratischen Staaten die Parlamentarier und Journalisten, in absolutistischen die Hofgesellschaft. Überall züchtet es eine tiefgehende Korruption, die um so rascher um sich frisst, je mehr die kapitalistische Ausbeutung und Verschwendung und damit die Bedürfnisse, auch der Politiker und Staatsmänner wachsen, je mehr die Kraft und die wirtschaftlichen Funktionen der Staatsgewalt steigen.

Wohl darf man nicht glauben, dass die von der Korruption Betroffenen ihrer stets bewusst oder dass alle Politiker und Staatsmänner der herrschenden Klassen korrupt sind. Das wäre übertrieben. Aber die Verführung zur Korruption steigt immer mehr in diesen Kreisen, es erfordert eine immer größere Charakterstärke, ihr nicht zu erliegen, und man erliegt ihr um so leichter, je verbreiteter die Atmosphäre der Korruption, je entwickelter und einschmeichelnder ihre Praxis, die den von der Korruption Ergriffenen seinen eigenen Niedergang gar nicht fühlen lässt.

So sehen wir, dass in demselben Maße, in dem sich die Probleme der Politik immer mehr komplizieren, in dem sie immer größere Anforderungen an Wissen, Gewissenhaftigkeit, weiten Blick und Entschlossenheit der Staatsmänner stellen, dass in demselben Maße in den herrschenden Klassen immer ehr seichte Schwätzerei an Stelle wissenschaftlichen Ernstes tritt, Leichtfertigkeit an Stelle der Gewissenhaftigkeit, persönliches Streber- und beschränktes Intrigantentum an Stelle konsequenter Verfolgung weiter Ziele, haltloses Schwanken zwischen herausfordernder Brutalität und feigem Zurückweichen an Stelle ruhiger, entschlossener Festigkeit. Und gleichzeitig tiefgehende Begehrlichkeit und Korruption, die hier in einem Panamaskandal zutage tritt, dort in einem Bündnis zwischen Gouverneuren und Gaunern, fast überall in Betrügereien der Lieferanten von Kriegsmaterial, die hier mürbe Panzerplatten liefern, dort unbrauchbare Geschütze, an anderer Stelle wieder dem Vaterland das Doppelte dessen anrechnen, was sie vom Ausland nehmen. Seit jeher bildeten die Kriegslieferungen ein Mittel der Bereicherung vieler Kapitalisten, aber noch nie standen die Lieferanten von Kriegsmaterial den Regierungen so nahe wie jetzt, hatten sie so viel Einfluss auf die Politik, die über Krieg und Frieden entscheidet.

Und diese selben Lieferanten sind heute die größten Industriellen, die größten Ausbeuter des Proletariats. Sie haben das größte Interesse an brutalem Krieg gegen den inneren wie gegen den äußeren Feind und den größten Einfluss auf die Regierungen, die immer mehr aus haltlosen Individuen bestehen.

Da muss jeder Staat von seinen Nachbarn, muss die Arbeiterklasse eines jeden Staats von ihren Beherrschern jeden Moment auf eine Provokation, auf einen Überfall gefasst sein, die unabsehbares Unheil nach sich ziehen können. Alles das kann im Kleinbürgertum eine neue Wandlung hervorrufen.

Natürlich vollzieht sich der moralische Niedergang der herrschenden Klassen in Regionen, die der Volksmasse unzugänglich sind. Es erfordert eine Katastrophe, wie z. B. den russisch-japanischen Krieg, um die ganze Fäulnis des Systems bloßzulegen. In gewöhnlichen Zeiten wird zunächst nur hier und da durch besondere Ungeschicklichkeit ein Zipfelchen des Mantels gelüftet, der sonst alles schamhaft verhüllt. Die klassenbewussten Proletarier werden durch solche Enthüllungen nur wenig berührt. Sie stehen den herrschenden Klassen seit jeher feindlich gegenüber und täuschen sich nicht über deren sittlichen Qualitäten.

Anders das Kleinbürgertum. Je mehr es seiner demokratischen Vergangenheit untreu wird, je mehr es sich hinter die Regierungen verkriecht und von ihnen Hilfe erwartet, je größer sein Vertrauen zu ihnen und ihrer Unerschütterlichkeit, um so größer sein Entsetzen, wenn ihm ihr Tiefstand offenkundig wird und ihr Prestige zum Teufel geht.

Und gleichzeitig wächst seine Bedrängung durch die großen Kapitalistenringe und durch die Anforderungen des Staates an seinen Geldbeutel. Das verbessert nicht sein Vertrauen zu den herrschenden Klassen.

Vollends aus dem Hänschen müsste es aber kommen, wenn Unfähigkeit, Leichtsinn, Korruption der Regierenden frivolerweise eine Katastrophe heraufbeschwören sollten, einen Krieg oder einen Staatsstreich, der das Land den schlimmsten Bedrängnissen aussetzte. Da wird sich um so leichter und wilder die blinde Wut des Kleinbürgertums mit einem Male gegen die zu solcher Zeit Regierenden wenden, je mehr es früher von ihnen erwartet, je gewaltiger es sich ihre Einsicht und Hoheit übertrieben halte.

Das letzte Jahrzehnt hat sicher im Kleinbürgertum ein steigender Hass gegen das Proletariat entwickelt. Dieses muss seine Politik darauf einrichten, die kommenden Kämpfe allein auszufechten. Aber schon Marx hat darauf hingewiesen, dass der Kleinbürger als Mittelding zwischen Kapitalist und Proletarier zwischen beiden hin und her schwankt, der Mann des einerseits und andererseits ist. Wir dürfen auf ihn nicht rechnen, er wird stets ein unsicherer Kantonist sein – als Masse; vereinzelte können vorzügliche Parteigenossen sein –; seine Feindschaft gegen uns kann noch wachsen. Aber das schließt nicht aus, dass er eines Tages, unter der Wirkung unerträglichen Steuerdrucks und eines plötzlichen moralischen Zusammenbruchs der Herrschenden in Masse zu uns abschwenkt und vielleicht dadurch unsere Gegner hinwegfegt, unseren Sieg entscheidet. Und wahrlich, er könnte keinen klügeren Streich tun. denn das siegreiche Proletariat hat allen jenen, die nicht Ausbeuter sind, allen Unterdrückten und Ausgebeuteten, auch solchen, die heute als Kleinbürger oder Kleinbauern vegetieren, eine gewaltige Verbesserung ihrer Lebenslage zu bieten.

So feindlich das Kleinbürgertum uns momentan gegenüberstehen mag, es ist weit entfernt, eine feste Stütze des Bestehenden zu bilden. Auch es wankt und kracht in allen Fugen, wie alle anderen Stützen der Gesellschaft.

Die Sicherheit des Bestehenden hört im Volksbewusstsein ebenso wie in der Wirklichkeit immer mehr auf, man fühlt, dass wir in eine Periode allgemeiner Unsicherheit geraten sind, dass es so nicht mehr weitergehen kann, wie es ein Menschenalter lang voranging, dass die heutigen Zustände, die rapid immer unhaltbarer werden, kein Menschenalter mehr überleben können.

In dieser allgemeinen Unsicherheit sind aber die nächsten Aufgaben des Proletariats klar gegeben. Wir haben sie bereits entwickelt. Es kommt nicht mehr vorwärts ohne Änderung der staatlichen Grundlagen, auf denen es seinen Kampf führt. Die Demokratie im Reich, aber auch in den Einzelstaaten, namentlich in Preußen und Sachsen, aufs energischste anzustreben, das ist seine nächste Aufgabe in Deutschland: seine nächste internationale Aufgabe der Kampf gegen Weltpolitik und Militarismus.

Ebenso klar wie diese Aufgaben, liegen auch die Mittel zutage, die uns zu ihrer Lösung zu Gebote stehen. Zu den bisher schon angewandten ist noch der Massenstreik getreten, den wir theoretisch bereits anfangs der neunziger Jahre akzeptierten, dessen Anwendbarkeit unter günstigen Umständen seitdem wiederholt erprobt wurde. Wenn er seit den glorreichen Tagen von 1905 etwas in den Hintergrund getreten ist, so beweist das nur, dass er nicht in jeder Situation wirksam ist, dass es töricht wäre, ihn unter allen Umständen anwenden zu wollen.

Soweit ist die Situation klar. Aber nicht das Proletariat allein kommt bei den bevorstehenden Kämpfen in Betracht, zahlreiche andere Faktoren werden dabei mitwirken, die völlig unberechenbar sind.

Unberechenbar sind unsere Staatsmänner, ihre Personen wechseln rasch und ebenso rasch ihre Stimmungen. Von einer konsequenten, zielbewussten Politik ist bei ihnen nicht mehr zu reden.

Unberechenbar sind auch die kleinbürgerlichen Massen, die bald hierhin, bald dorthin ihr Schwergewicht in die Wagschale werfen und sie unstet auf und niederzucken lassen.

Noch unberechenbarer sind weiter die Wirrnisse der auswärtigen Politik, an der so viele unstete Staaten beteiligt sind, so dass die Unberechenbarkeit der inneren Politik eines jeden Staates in der auswärtigen noch vervielfacht in Erscheinung tritt.

Völlig unberechenbar endlich sind die Wandlungen der Staaten des Orients, bei denen so viele völlig neue Faktoren in Wirkung treten, über die noch gar keine Erfahrungen vorliegen.

Alle diese Faktoren sind jetzt in innigste und ununterbrochene Wechselwirkung getreten, sie werden dafür sorgen, dass wir aus den Überraschungen nicht herauskommen.

In diesem allgemeinen Schwanken wird sich aber die Sozialdemokratie um so mehr behaupten, je weniger sie selbst schwankt, je fester sie sich selbst treu bleibt. Gegenüber der haltlosen Stimmungspolitik wird sie das Kraftbewusstsein der arbeitenden Massen um so mehr steigern, je mehr ihre Theorie ihr eine konsequente, zielsichere Praxis ermöglicht. Je mehr sich inmitten der Erschütterungen jeglicher Autorität die Sozialdemokratie als unerschütterliche Macht bewährt, desto

höher wird ihre Autorität steigen. Und je mehr sie in unversöhnlicher Opposition gegen die Korruption der herrschenden Klassen verharrt, desto lebhafter das Vertrauen, das ihr die großen Volksmassen inmitten der allgemeinen Fäulnis entgegenbringen, die heute auch schon die bürgerliche Demokratie erfasst hat, welche ihre Grundsätze völlig preisgibt, bloß um Regierungsgunst zu gewinnen.

Je unerschütterlicher, konsequenter, unversöhnlicher die Sozialdemokratie bleibt, um so eher wird sie ihre Gegner meistern.

Es heißt der Sozialdemokratie politischen Selbstmord zumuten, wenn man von ihr gerade jetzt die Teilnahme an einer Koalitions-, einer Blockpolitik verlangt, wo das Wort von der „reaktionären Masse“ zur Wahrheit geworden ist. Es heißt, von der Sozialdemokratie moralischen Selbstmord verlangen, wenn man will, sie solle sich durch eine Blockpolitik mit bürgerlichen Parteien verbinden, eben jetzt, wo diese sich prostituiert und aufs tiefste kompromittiert haben; sie solle sich mit ihnen verbinden zur Förderung gerade jener Prostitution.

Besorgte Freunde befürchten für die Sozialdemokratie ein vorzeitiges Gelangen zur Staatsmacht durch eine Revolution. Aber wenn es für uns ein vorzeitiges Gelangen zur Staatsmacht gibt, so ist es die Gewinnung eines Anscheins von Staatsmacht vor der Revolution, das heißt, ehe das Proletariat die wirkliche politische Macht errungen hat. Solange dies nicht gelungen, kann die Sozialdemokratie zu einem Anteil an der Staatsmacht nur dadurch gelangen, dass sie einer bürgerlichen Regierung ihre politische Kraft verkauft. Das Proletariat als Klasse kann dabei nie gewinnen, sondern im besten Falle nur die Parlamentarier, die das Verkaufsgeschäft abschließen.

Wem die Sozialdemokratie das Mittel ist, das Proletariat zu befreien, der muss sich derartiger Teilnahme seiner Partei an der herrschenden Korruption auf das entschiedenste widersetzen. Wenn es ein Mittel gibt, uns das Vertrauen aller ehrlichen Elemente in den Massen zu rauben, uns Missachtung aller kampffähigen und kampflustigen Proletarierschichten zuzuziehen, unseren Aufstieg zu hemmen, dann besteht es in der Teilnahme der Sozialdemokratie an einer Blockpolitik.

Gedeihen würden dabei nur jene Elemente, denen unsere Partei nichts ist als die Leiter, um persönlich höher zu kommen, die Streber und Ämterjäger. Je weniger solcher Elemente wir an uns ziehen, je mehr wir davon abstoßen, desto besser für unseren Kampf.

Wie sich dieser im einzelnen gestalten wird, darüber ist freilich über das hier Angedeutete hinaus kaum etwas Bestimmtes zu sagen. Niemals war es schwieriger wie jetzt, Formen und Tempo der kommenden Entwicklung vorauszusagen, wo alle in Betracht kommenden Faktoren, das Proletariat ausgenommen, so unbestimmt und unberechenbar sind.

Sicher ist nur die allgemeine Unsicherheit. Sicher, dass wir in eine Periode allgemeiner Unruhe, steter Machtverschiebungen eingetreten sind, die, wie immer ihre Formen und ihre Dauer auch sein mögen, nicht eher mehr in einem Zustande länger dauernder Ruhe enden kann, als bis das Proletariat die Kraft erlangt hat, die Kapitalistenklasse politisch und ökonomisch zu expropriieren und damit eine neue Ära der Weltgeschichte zu inaugurieren.

Ob diese revolutionäre Periode ebenso lange dauern wird, wie die der Bourgeoisie, die 1789 begann und bis 1871 währte, ist natürlich unabsehbar. Wohl vollzieht sich heute alle Entwicklung weit rapider als ehedem, aber andererseits ist auch das Kampffeld ungeheuer gewachsen. Als Marx und Engels das „Kommunistische Manifest“ schrieben, sahen sie als das Kampffeld der proletarischen Revolution nur Westeuropa vor sich. Heute ist es die ganze Welt geworden. Heute werden die Schlachten im Befreiungskampfe der arbeitenden und ausgebeuteten Menschheit nicht nur an der Spree und der Seine geschlagen, sondern auch am Hudson und Mississippi, an der Newa und den Dardanellen, am Ganges und Hoangho.

Und ungeheuer, wie das Kampffeld ist auch die Aufgabe, die ihm schließlich entsprießt: die gesellschaftliche Organisation der Weltwirtschaft.

Aber das Proletariat wird aus der revolutionären Ära, die anhebt und vielleicht ein Menschenalter lang dauert, auch anders hervorgehen, als es in sie hineingeht.

Bildet heute schon seine Elite die stärkste, weitestblickende, selbstloseste, kühnste, in den größten freien Organisationen vereinigte Schicht der Nationen europäischer Kultur, so wird es im Kampf und durch den Kampf die selbstlosen und weitblickenden Elemente aller Klassen in sich aufnehmen, in seinem eigenen Schoße selbst seine zurückgebliebensten Elemente organisieren und bilden, mit Hoffnungsfreudigkeit und Einsicht erfüllen; wird es seine Elite an die Spitze der Kultur erheben und fähig machen, jene ungeheure ökonomische Umwandlung zu leiten, die allem aus Knechtschaft, Ausbeutung, Unwissenheit entstehenden Elend schließlich auf dem ganzen Erdenrund ein Ende bereiten wird.

Glücklich jeder, der berufen ist, an diesem erhabenen Kampfe und herrlichen Siege teilzunehmen!


Anmerkung des Verfassers

1. Von 1900 an erscheinen die Ausgaben für Post, Reichsbahnen und Reichsdruckerei im Ausgabenetat, wo sie bis dahin nicht aufgeführt wurden. Sie betrugen 1900 416 Millionen.


Zuletzt aktualisiert am: 7.1.2012