Karl Kautsky

Der politische Massenstreik


2. Der anarchistische Generalstreik


Die Erfahrungen der großen französischen Revolution hatten deutlich gezeigt, wie eine politische zu einer sozialen Revolution werden kann, wie die Staatsgewalt, von einer aufsteigenden Klasse erobert, das machtvollste Mittel werden kann, die Gesellschaft ihren Bedürfnissen anzupassen, wenn diese Bedürfnisse mit denen der allgemeinen ökonomischen Entwickelung zusammenfallen. Der Mechanismus, der es in einem modernen Großstaat den unteren Klassen ermöglicht, zur Beherrschung von Gesetzgebung und Regierung zu gelingen, ist der des Repräsentativsystems bei allgemeinem, gleichem und geheimem Wahlrecht.

Neben dem Streik bildet also das allgemeine Wahlrecht ein wichtiges Kampfmittel des Proletariats. Das letztere ist aber ihm nicht eigentümlich. Es ist ein Kampfmittel aller Klassen die über größere Massen verfügen, also des Kleinbürgertums und der Bauernschaft nicht minder als des Proletariats.

Schon das bewirkt, daß das allgemeine Wahlrecht dort, wo jene anderen Klassen überwiegen, nicht notwendigerweise im proletarischen Interesse wirken muß. Es kann unter Umständen auch arbeiterfeindliche Resultate liefern.

Dazu kommt, daß der Parlamentarismus am meisten die Bourgeoisie begünstigt, aus Gründen, die hier zu entwickeln, zu weit abschweifen hieße. Ich habe sie in meiner Schrift über die Volksgesetzgebung dargetan. Wo die Bourgeoisie die Nation geistig beherrscht, wird sie auch das Parlament beherrschen, die unteren Klassen sich dadurch dienstbar machen, das allgemeine Wahlrecht in ein Mittel, sie zu täuschen und bei der Nase herumführen, verwandeln. Nicht Kleinbürgertum und Bauernschaft, sondern nur das Proletariat vermag sich zu geistiger und politischer Unabhängigkeit von der bürgerlichen Führung zu erheben, aber auch das setzt eine längere Schulung und Reifung voraus.

Lange ehe es noch eine bewußte Klassenbewegung besaß, trat das Proletariat in den Kampf um allgemeines Wahlrecht und Parlamentarismus unter dem Einflusse der bürgerlichen Demokratie ein, deren Illusionen es übernahm, als genüge bereits der Besitz demokratischer Rechte, das Volk zum Herrn im Staate zu machen und damit das Glück der Volksmasse zu begründen.

Die Revolution von 1848 führte in Frankreich zur Republik des allgemeinen Stimmrechts. Aber das Resultat war nicht das größte Glück der größten Zahl, sondern der schroffste Klassenkampf, der zur Junischlächterei führte.

Das bewirkte in weiten Kreisen des Proletariats, namentlich Frankreichs und der von ihm beeinflußten Länder, nicht bloß ein Verschwinden der demokratischen Illusionen über Parlament und Wahlrecht, sondern in begreiflicher Reaktion darüber hinaus eine gänzliche Verkennung dessen, was Wahlrecht und Parlament für ein kraftvolles selbständiges Proletariat werden könnten, ja eine förmliche Feindschaft gegen Parlamentarismus und Wahlrecht.

Das wurde nicht gebessert dadurch, daß nach 1850 in Frankreich und später, in den sechziger Jahren in Deutschland und England, bürgerliche, ja reaktionäre Regierungen das allgemeine Wahlrecht sich nutzbar zu machen suchten und zeitweise nutzbar machten, entweder um die politischen Selbständigkeitsgelüste der liberalen Bourgeoisie durch den Appell an die unteren Klassen zu dämpfen, wie dies Napoleon und Bismarck taten, oder um einen Teil des Proletariats als wertvollen Bundesgenossen für eine Fraktion der besitzenden Klassen zu gewinnen wie dies Gladstone und Disraeli versuchten.

So weit die Arbeiterklasse damals das Wahlrecht erhielt, verdankte sie es nicht so sehr ihrer Macht, als politischen Spekulationen ihrer Gegner. Namentlich in Frankreich wirkte das allgemeine Wahlrecht lange ganz reaktionär, dank einmal der Stärke der Bauernschaft und zum anderen dem politischen Druck des Kaiserreichs, der jede Organisation und jede Aufklärung des Proletariats durch die Presse unterband. Das Parlament selbst war machtlos und korrupt. Das Proletariat hatte weder die Möglichkeit, frei seine Wahlkämpfe auszufechten, noch auch die, durch eine Parteiorganisation die gewählten Abgeordneten zu überwachen und seiner Disziplin unterzuordnen.

Alles das bewirkte, daß Frankreich nach 1848 zur Heimat des Antiparlamentarismus wurde. Solange die politische Macht des Kaiserreichs dauerte, fand er seinen besten Ausdruck im friedlichen Anarchismus Proudhons, der durch ganz zahme Mittel die Proletarier zu heben suchte. Als aber die Arbeiterklasse wieder Kraft und Mut zum Kampfe und zur Opposition fand, da reichte der Proudhonismus nicht mehr aus. Allenthalben bemächtigte sich jetzt die Arbeiterklasse der Waffe der gewerkschaftlichen Organisation und des Streiks. In England, wo diese schon eingebürgert waren, erstand neben ihnen, in Deutschland noch vor ihnen eine starke Beteiligung des Proletariats an den Wahlkämpfen und parlamentarischen Kämpfen. In Frankreich wurde eine ähnliche Entwickelung durch eine neue Niederlage des Proletariats, in der Pariser Kommune, unterbrochen. Um so mehr gedieh dort und in den von ihm geistig beherrschten Bewegungen Italiens, Spaniens, Belgiens, der französischen Schweiz, der Gedanke, durch den Streik Wahlkampf und Parlamentarismus überflüssig zu machen. Wohl mußte man zugeben, daß der Streik nicht für alle Zwecke ausreiche und kein unfehlbares Zwangsmittel sei. Aber das sollte nur für den gewöhnlichen Streik gelten. Wenn einmal die Arbeiter insgesamt streikten, dann mußte die Wirkung eine unwiderstehliche sein.

Mit diesen Erwartungen suchten die anarchistischen Generalstreikler die Arbeiterschaft von der Beteiligung an Wahlkämpfen und an parlamentarischer Betätigung abzuhalten. So störten sie überall unsere praktische Arbeit, erschwerten die Sammlung und Erstarkung des Proletariats, und deshalb, nicht etwa wegen ihrer Spekulationen über die Staatslosigkeit der kommenden sozialistischen Gesellschaft, mußten die auftauchenden Arbeiterparteien sie und ihre Generalstreikidee auf das entschiedenste abwehren.


Zuletzt aktualisiert am: 10.9.2011