Karl Kautsky

Der politische Massenstreik


9. Der Revisionismus


Bernstein hatte den Massenstreik als Mittel betrachtet, für das Proletariat politische Konzessionen zu erringen, und gefunden, auf die Wahl des richtigen Moments komme alles an. Aussicht habe er in Situationen, in denen die Volksmasse aufs höchste erbittert ist, in den oberen Reihen aber Kopflosigkeit und Uneinigkeit herrscht. Parvus untersuchte jetzt den Massenstreik als Mittel der Abwehr von Versuchen, das Proletariat zu vergewaltigen. Er legte das Hauptgewicht auf die Organisation, die Disziplin, aber auch auf die Geldmittel der streikenden Proletariermassen. Die nötige Entschlossenheit und Erbitterung in der Volksmasse durfte er in der von ihm untersuchten Situation als selbstverständlich voraussetzen, ebenso aber auch eine gewisse Unsicherheit in den herrschenden Kreisen. Der politische Massenstreik war ihm ein Duell zwischen proletarischer und staatlicher Organisation, bei dem jener Teil siegt, dessen Organisation den stärkeren Zusammenhalt aufweist. Außerdem aber hielt er, solange wir eine Minorität sind, die Möglichkeit eines erfolgreichen Massenstreiks nur in Fällen gegeben, wo wir nicht bloß besondere Proletarierinteressen, sondern allgemeine Interessen der breiten Volksschichten verfechten.

Das waren wichtige neue Gesichtspunkte, die aber zunächst keine Wirkung übten, weil die ökonomische und politische Situation die Frage des Staatsstreichs und des Massenstreiks durch ganz andere Probleme verdrängte, die Probleme des Revisionismus und Ministerialismus.

In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre schwand die Grundlage jener revolutionären Hoffnungen, die wir während der Zeit des Sozialistengesetzes und in den nächsten Jahren nach ihm gehegt hatten.

Während der Anfänge der neueren sozialistischen Bewegung, in den sechziger Jahren, hatten wir unsere revolutionären Hoffnungen auf die bürgerliche Revolution gesetzt. Die Arbeiterklasse allein war zu schwach, das bestehende Regime zu stürzen. Aber das Kleinbürgertum, ja ein großer Teil der Bourgeoisie, litten auch unter ihm. Das Erstarken der bürgerlichen Elemente durch das Anwachsen der Industrie mußte, so nahm man an, eine bürgerliche Revolution herbeiführen, die jedoch nur der Schrittmacher für eine proletarische sein konnte. Diese Erwartungen mußten seit dem deutsch-französischen Kriege für begraben gelten. Seitdem hatte die industrielle Bourgeoisie diesseits wie jenseits des Rheins alles erreicht, was sie brauchte. Die Pariser Kommune war die letzte revolutionäre Erhebung, bei deren Ausbruch das Kleinbürgertum noch eine Rolle spielte. Gerade die Kommune bezeugte aber schon in ihrem Verlauf die Kraft und Gefährlichkeit des Proletariats und machte damit dem letzten Rest revolutionärer Anwandlungen in der bürgerlichen Welt eine Ende. Trotzdem konnte sich selbst ein Engels lange nicht von der Idee losmachen, ein Sieg der bürgerlichen Demokratie werde dem proletarischen Kampf um die politische Macht die Wege ebnen.

In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre erstanden jedoch zwei Faktoren, die dem Proletariat, das noch zu schwach war, aus eigener Kraft den Sieg zu erringen, rascher vorwärts zu helfen versprachen, als die altersschwache bürgerliche Demokratie; zwei ökonomische Faktoren: die überseeische Lebensmittelkonkurrenz und die chronische Ueberproduktion. Die erstere versprach, die Bauern zur Verzweiflung zu treiben und rebellisch zu machen; die zweite ließ in der ganzen industriellen und kommerziellen Bevölkerung. Nicht nur in der Lohnarbeiterschaft, sondern auch im Kleinbürgertum und bei den kleinen Kapitalisten die gleichen Wirkungen erwarten. Ihnen allen sollte der Sozialismus als der einzige Retter in der Not erscheinen. Wesentlich auf diesen Erwägungen beruhten unter anderem die Erwartungen, denen Bebel und Engels Ausdruck gegeben hatten, es werde schon am Ende der achtziger Jahre oder in den neunziger Jahren zu einem Zusammenbruch des kapitalistischen Regimes kommen. Erwartungen, die Auer 1899 auf dem Parteitag von Hannover so bitter verhöhnte.

In der Tat hatten zur Zeit jenes Parteitages die beiden Faktoren schon zu wirken aufgehört. Die überseeische Lebensmittelkonkurrenz hatte ihre Schärfe verloren und die Krise der Landwirtschaft nahm ein Ende. Und gleichzeitig hatte der industrielle Kapitalismus der am Ende seines Lateins zu sein schien, durch die Erschließung zahlreicher großer Gebiete mit vorwiegend landwirtschaftlicher Bevölkerung noch einmal die Möglichkeit neuen machtvollen Aufschwunges gewonnen.

Unter diesen Umständen wurden die alten Revolutionserwartungen hinfällig.

Gleichzeitig bot sich den Gewerkschaften nun die Gelegenheit, machtvoll einzugreifen und eine Aera starken Aufschwungs weiter Arbeiterkreise herbeizuführen. In der neuen Prosperität milderten sich aber auch die sozialen Gegensätze wie sie es schon einmal in England während des Aufschwungs getan hatten, der der Einführung des Freihandels folgte.

In dieser Situation erstand der Revisionismus, der vollständig recht gehabt hätte, wem er sich auf die Konstatierung dieser Tatsachen und das Scheitern unserer alten revolutionären Erwartungen beschränkte. Aber wie so oft bei einer starken Schwenkung schossen auch hier die Verkünder der neuen Lehre übers Ziel hinaus. Weil unsere bisherigen revolutionären Erwartungen nicht in Erfüllung gegangen waren, gaben sie den Gedanken der Revolution, der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat überhaupt den Laufpaß. Und weil diejenigen, die auf den Zusammenbruch des Kapitalismus infolge der überseeischen Lebensmittelkonkurrenz und der chronischen Ueberproduktion gerechnet hatten, aus der Marxschen Schule hervorgegangen waren und ihre ökonomischen Auffassungen auf das Kapital stützten, sollten nun auch dessen Theorien verfehlt seien, obwohl im Kapital weder von der Lebensmittelkonkurrenz noch von chronischer Krise oder einem Zusammenbruch des Kapitalismus etwas zu finden ist.

Wenn aber von diesen beiden Faktoren für die Revolutionierung von Bauern und Kleinbürgern nichts mehr zu erwarten war, woher sollte dann die Kraft kommen, deren das Proletariat zu seiner Befreiung bedurfte? Wer nicht die Geduld hatte, zu warten, bis das Proletariat stark genug wurde, sich allem zu befreien, mußte wieder nach einem Bundesgenossen Umschau halten, und da tauchte noch einmal die alte bürgerliche Demokratie, die uns schon so oft getäuscht und betrogen hatte, aus der Versenkung auf.

Der Revisionismus machte alten Illusionen ein Ende, um neue au ihre Stelle zu setzen. Abermals sollte die bürgerliche Demokratie dem Proletariat den Weg bereiten, aber freilich jetzt in andrer Weise, als noch Marx und Engels erwartet hatten. Nicht dadurch, daß die bürgerliche Demokratie für die Bourgeoisie den Sieg erfocht, eine demokratische Verfassung einführte und damit die Grundlage lieferte, auf der das Proletariat im Gegensatz zu dieser Demokratie erstarken konnte, um ihr Totengräber zu werden. Nein, die bürgerliche Demokratie sollte jetzt durch das Proletariat erst wieder die Kraft erhalten, um ihr Programm durchzuführen. Die Sozialdemokratie sollte nicht an der Konkurrenz der bankerotten Firma auftreten, sondern am ihr Kompagnon, der sie über Wasser hielt. Dabei sollten die beiden in ein so zärtliches Verhältnis miteinander treten, daß aller Gegensatz zwischen ihnen verschwand und sie gemeinsam die Völker erlösten, was um so leichter wurde, als ja die neue Prosperität zu der politischen Illusion die ökonomische hinzufügte, daß die Klassengegensätze sich immer mehr milderten.

Die nächste praktische Folge dieser Wandlung der Situationen und Anschauungen war der Ministerialismus. Er tauchte zuerst infolge eigenartiger Verhältnisse in Frankreich auf, fand aber bald begeisterte Zustimmung in weiten Parteikreisen auch anderer Länder. Auf dem Pariser Konggreß von 1900 erklärte Auer:

„Gewiß, ein Fall Millerand hat bei uns (in Deutschland) noch nicht gespielt. So weit sind wir noch nicht. Aber ich hoffe, daß wir möglichst bald auch so weit sein werden.“

Die Gefährlichkeit aller dieser Illusionen beruhte darin, daß sie in tatsächlichen Verhältnissen begründet waren und einer sehr realistischen Denkweise entsprangen. Dadurch konnten sie weite Verbreitung gewinnen und das kämpfende Proletariat auf Wege führten, die sie schließlich doch als Umwege und Abwege erweisen mußten. Ihr Irrtum bestand in ihrer Deutung wirklicher Ereignisse. Sie betrachten viele Tatsachen als Beginn einer dauernden und immer mehr sich verstärkenden Entwickelung: Tatsachen, die in Wirklichkeit nur rasch vorübergehende ausnahmsweise Zustände darstellten.

Der Kampf gegen diese Tendenzen, die als revisionistische oder reformistische bezeichnet wurden, beschäftigte seit 1897 die Partei vollständig für mehrere Jahre. Und praktisch ging daneben ein rasches Erstarken der Gewerkschaften vor sich, die zu dieser Zeit in ununterbrochenem Siegeszug einen Erfolg nach dem anderen für die Arbeiterschaft errangen. In dieser Situation trat die Idee des Massenstreiks völlig in den Hintergrund.

Nur die Idee des syndikalistischen Generalstreiks lebte damals, wenigstens in Frankreich, weiter, und merkwürdigerweise sympathisierten mit ihr manche Reformisten um so mehr, je mehr sie von den Marxisten bekämpft wurde.

Dem internationalen Kongreß in London 1896 legte die Mehrheit der Kommission zur Beratung der Wirtschaftspolitik der Arbeiterklasse durch ihren Berichterstatter Molkenbuhr eine Resolution vor, in der vom Generalstreik bloß gesagt wurde:

„Der Kongreß hält den Streik und Boykott für ein notwendiges Mittel zur Erreichung der Aufgaben der Gewerkschaften, sieht aber die Möglichkeit für einen internationalen Generalstreik nicht gegeben.“

Im Namen der Kommissionsminderheit protestierte Guérard-Paris, Vertreter deer Eisenbahnarbeiter dagegen, daß die Kommission die Frage des Generalstreiks nicht einmal diskutiert habe, obwohl ihr die französischen Arbeiter die größte Wichtigkeit beilegen. Aber auch das Plenum diskutierte nicht weiter darüber und es nahm die Resolution mit allen Stimmen gegen die einiger – nicht aller – französischer Delegierten an.

Nicht viel mehr diskutierte der Pariser internationale Kongreß von 1900 darüber. Der „Generalstreik“ stand dort als letzter Punkt auf der Tagesordnung. Zwei Resolutionen lagen vor, eine der Kommissionsmehrheit und eine der Minderheit, die aus Franzosen und Italienern bestand.

Legien berichtete für die Mehrheit, daß man in der Kommission nicht lange debattiert habe, „da sehr viele Gewerkschaftler darin saßen“:

„Wir haben den nicht gerade formvollendeten Londoner Beschluß wiederholt, um zu dokumentieren, daß wir unsere Anschauungen über den Generalstreik niet geändert haben ... So lange keine starken Organisationen vorhanden sind, ist der Generalstreik für uns nicht diskutierbar. Mögen unsere französischen und italienischen Genossen für starke Organisationen sorgen, dann stehen wir ihnen zur Seite.“

Er empfahl folgende Resolution:

„Der Kongreß wiederholt im Anschluß an die Beschlüsse der internationalen Kongresse in Paris und Zürich [1] den auf dem Internationalen Kongreß in London 1896 über den Generalstreik gefaßten Beschluß, welcher lautet: Der Kongreß hält Streiks und Boykotts für notwendige Mittel zur Erreichung der Aufgaben der Arbeiterklasse [2], sieht aber die Möglichkeit für einen internationalen Generalstreik nicht gegeben. Das nächste Erfordernis ist die gewerkschaftliche Organisation der Arbeitermassen, weil von dem Umfang der Organisation die Frage der Ausdehnung der Streiks auf ganze Industrien und Länder abhängt!“

Für die Minderheit sprach Briand, seit 1892 ein Verfechter des Generalstreiks. Er sagte unter anderem:

„Auf allen nationalen und internationalen Kongressen seien die Franzosen fast einstimmig für den Generalstreik gewesen ... Für mich ist der Generalstreik ein Mittel zur Revolution, aber einer Revolution, die mehr Garantien bietet, als jene der Vergangenheit; einer Revolution, die nicht mehr einzelne die Früchte des Sieges pflücken läßt, sondern die es dem Proletariat ermöglicht, Hand an die Produktionsmittel der Gesellschaft zu legen, um sie zu behalten.“

Also die Produktionsmittel sollten nicht durch die vom Proletariat eroberte Staatsgewalt in den Besitz der Gesamtheit übergeführt werden, sondern die streikenden Arbeiter sollten sich der Produktionsmittel einfach bemächtigen, um sie für sich anzuwenden. Eine ganz anarchistische Idee.

Die Resolution, die Briand einbrachte, trug unter anderen die Unterschriften von Aleman und Jaurès. Sie lautete:

„In Erwägung, daß der Generalstreik als die revolutionäre Aktionsform erscheint, die am besten den Kampfesbedingungen angepaßt ist, welche der Arbeiterklasse durch die kapitalistische Gesellschaft aufgezwungen werden, macht es der Kongreß dem Proletariat zur dringenden Pflicht, keinen Kampfesboden zu verlassen und kein Mittel zur Emanzipation zu vernachlässigen, dessen Anwendung möglich ist, und fordert gleichzeitig die Arbeiter der ganzen Welt auf, sich für den Generalstreik zu organisieren, sei es, daß diese Organisation in ihren Händen ein einfaches Mittel, ein Hebel sein soll, auf die kapitalistische Gesellschaft jenen Druck auszuüben, der zur Herbeiführung der notwendigen politischen und wirtschaftlichen Reformen unerläßlich ist, sei es, daß die Umstände sich so günstig gestalten, daß der Generalstreik in den Dienst der sozialen Revolution gestellt werden kann.“

Bei der Abstimmung wurde die von Legien befürwortete Resolution mit allen Stimmeu gegen die Hälfte der Franzosen, Italiener, Russen (Sozialrevolutionäre) und ganz Argentinien angenommen.


Fußnoten

1. In Zürich wurde vom Plenum kein Beschluß gefaßt, wie schon oben erwähnt. – K.K.

2. In London hieß es „der Gewerkschaften“, nicht der Arbeiterklasse.K.K.


Zuletzt aktualisiert am: 10.9.2011