Karl Kautsky

Der politische Massenstreik


11. Mehring gegen Parvus


Wegen des Fehlers, ohne gründliche Prüfung der eigenen Bedingungen gleich das belgische Beispiel ohne weiteres anwenden zu wollen, war es schon 1894 in Oesterreich, wie wir gesehen, zu Meinungsverschiedenheiten über die Anwendung des Massenstreiks unter Genossen, die einander nahe standen, gekommen. Jetzt, ein Jahrzehnt später, tauchten auch solche in Deutschland innerhalb der „Radikalen“ oder „Marxisten“ auf. Es gab nicht nur Differenzen zwischen solchen, die den Massenstreik unter allen Umständen ablehnten, und solchen, die ihn „gelegentlich“ abwendbar fanden sondern auch Differenzen zwischen der, wie die Genossin Roland-Holst es nannte, „absolut-metaphysischen“ Auffassung, die für bestimmte Gelegenheiten unter allen Umständen den Massenstreik forderte, und denen, die erkannten, daß er auch für solche Gelegenheiten nur unter besonderen Bedingungen möglich und angebracht sei. Aber auch unter den letzteren wurden Meinungsverschiedenheiten möglich, sobald die wichtigste und kitzlichste Frage auftauchte: ob in einer bestimmten Situation die Bedingungen eines erfolgreichen Massenstreiks gegeben seien.

So finden wir schon im Beginn des Jahres 1903 in Deutschland zwischen zwei Mitgliedern der äußersten Linken unserer Partei eine Diskussion über seine Anwendung.

Der Kampf um den Zolltarif hatte im Winter 1902 auf 1903 die schärfsten Kriegsszenen im Reichstag hervorgerufen, eine Vergewaltigung der Minorität, die befürchten ließ, es werde auch noch zu einer Vergewaltigung der Wähler kommen, wenn diese in dem nahenden Wahlkampf zu sehr für uns entschieden. Die alte Frage von 1895 und 1896, was man zur Abwehr eines Staatsstreiches tun könne, wurde wieder aktuell. Und wieder war es Parvus, der den Massenstreik empfahl, aber diesmal nicht nur als Möglichkeit, sondern mehr in „absolut-metaphysischem“ Sinne. Und damit fand er ein lebhaftes Echo in manchen Parteiorganen. Das rief Mehring gegen Parvus und den Massenstreik auf den Plan. In einem Artikel, betitelt Was nun, datiert vom 7. Januar 1903 führte er in der Neuen Zeit aus:

„Erfüllen sich die Hoffnungen, die wir auf die nächsten Reichstagswahlen setzen, dann ist es zweifellos, daß die Tage des allgemeinen Wahlrechts gezählt sind ... Hierüber darf, kann und wird sich niemand täuschen, der sich je über den historischen Charakter des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat klar geworden ist ...

Jedoch glaubt Genosse Parvus die Frage „Was nun“ für eine fernere Zukunft beantworten zu sollen, indem er in seiner Weltpolitischen Korrespondenz empfiehlt, der etwaigen Aufhebung des allgemeinen Wahlrechts mit eine politischen Generalstreik zu begegnen. Da der Aufsatz in einem Teil unserer Parteipresse nachgedruckt worden ist, so wollen wir mit unserer abweichenden Meinung nicht zurückhalten. Es liegt von vornherein auf der Hand und braucht an dieser Stelle nicht ausführlich dargelegt zu werden, daß ein Generalstreik bei der heutigen Lage der Industrie nur beginnen könnte, um sofort zusammenzubrechen. Das sieht auch Parvus ein, aber er meint:‚Es handelt sich gewiß nicht darum, die Reaktionäre oder gar die Bourgeoisie auszuhungern – nichts davon! Es soll nur die größte Machtentfaltung des Proletariats sein – sie soll der Reaktion vorgeführt werden, damit ihr klar werde, welche Gewalten, welche Gefahren sie heraufbeschwört! Und wenn der Streich auch nur wenige Tage dauert, die Hauptsache ist, daß er möglichst große Massen erfaßt.‘ Lassen wir nun alles beiseite, was sich sonst gegen diesen Vorschlag einwenden läßt, so springt in die Augen, daß er das allgemeine Wahlrecht nicht schützen, sondern vielmehr erst recht gefährden wird. Legt einmal die Reaktion die Hand an dies Recht, so tut sie es nur, weil sie sich k1ar darüber geworden ist, welche Gewalten uud Gefahren ihr in der modernen Arbeiterbewegung drohen. Wird ihr diese Klarheit durch eine möglicherweise sehr imposante, aber in jedem Falle für sie ganz ungefährliche Demonstration noch bestätigt, so wird sie dem allgemeinen Wahlrecht noch gründlicher den Garaus machen. Um dieses problematischen Gewinns wegen empfiehlt sich schwerlich das, wie Parvus selbst sagt,‚furchtbare Wagnis‘ eines Generalstreiks, ein Wagnis, das im Falle des Mißlingens die Arbeiterbewegung ebenso zerrütten würde, wie es im Falle des Gelingens den Gegner noch kein Haar krümmte.

Ueberhaupt ist es eine ganz verkehrte Taktik, im voraus bestimmte Abwehrmittel gegen Gefahren zu richten, die einmal eintreten können. Moltke, der etwas vom Kriegführen verstand, sagte einmal: „Es ist eine Täuschung, wenn man glaubt, einen Feldzugsplan auf weit hinaus feststellen und bis zu Ende durchführen zu können. Der erste Zusammenstoß mit der feindl1chen Heeresmacht schafft je nach seinem Ausfall eine neue Sachlage. Vieles wird unausführbar, was man beabsichtigt haben mochte, manches möglich, was vorher nicht zu erwarten stand. Die geänderten Verhältnisse richtig aufzufassen, daraufhin für eine absehbare Zeit das Zweckmäßigste anordnen und entschlossen durchführen, ist alles, was die Heeresleitung zu tun vermag.‘

Das gilt für die politische wie für die militärische Kriegführung.

Die Aufgaben, die uns der „erste Zusammeustoß mit der feindlichen Heeresmacht gestellt hat, sind so dringend wie unverkennbar; sie erfordern für „absehbare Zeit“ die ganze Kraft der Partei. Je vollkommener wir sie lösen, desto besser werden wir gerüstet sein für die Aufgaben, die uns die Zukunft stellen wird und die wir praktisch noch gar nicht lösen können.“

Als diese nächsten und dringendsten Anfgaben der Partei hatte nehring schon früher in dem Artikel die Wahlen zum Reichstag bezeichnet:

„Es ist alle Aussicht vorhanden – und die Gegner zweifeln am wenigsten daran –, daß die nächsten Wahlen gründliche Abrechnung mit den Brotwucherern halten werden. Auf dieses Ziel muß zunächst mit aller Kraft hingearbeitet werden; damit sind die praktischen Aufgaben der Partei für die nächste Zukunft erschöpft.“

Diese ablehnende Haltung wurde von der großen Mehrheit der deutschen Genossen geteilt. Sie hatte mit Revisionismus und „Nichtsalsparlamentarismus“ nichts zu tun. Niemand wird den Mehring von 1903 zu einem Vorkämpfer des Revisionismus und „Nichtsalsparlamentarismus“ stempeln wollen.


Zuletzt aktualisiert am: 10.9.2011