Karl Kautsky

Der politische Massenstreik


14. Eckstein über den Generalstreik


Nicht ganz der gleichen Meinung war Eckstein. Er zweifelte sehr daran, ob es möglich sei, die Bourgeoisie durch bloße „Aushungerung“ zur Unterwerfung unter den Willen des Proletariats zu zwingen. Hinter dem gesetzlichen Massenstreik lauere stets die Gefahr ungesetzlicher Unruhen, und gerade diese Gefahr sei es, die dem Bourgeois mürbe mache, die aber auch für das Proletariat den Massenstreik zu einem gewaltigen Wagnis gestalte. Dies wurde entwickelt in einem Artikel der Neuen Zeit vom Dezember 1908, dessen entscheidende Stellen folgendermaßen lauten:

„Was gegen den offenbar physischen Kampf einzuwenden ist, das ist seit Engels klassischer Schrift bekannt genug.

Es bleibt also nur der Generalstreik zu näherer Betrachtung übrig, das heißt das friedlich Niederlegen der Arbeit in einem ganzen Staatswesen, so daß alle Produktion und aller Verkehr gehemmt, die Gegner ‚ausgehungert‘ werden.

Unter diesem ‚Aushungern‘ kann nun zweierlei verstanden werden. Entweder wird der Ausdruck wörtlich genommen oder bildlich, das heißt, es wird darunter verstanden, daß durch die Einstellung der Arbeit, daher auch der Mehrarbeit die materiellen Interessen der vom Mehrwert Lebenden getroffen werden. Dies ist nun aber bei einem Generalstreik viel weniger der Fall, als bei einem gewöhnlichen. Ein Generalstreik kann nicht annähernd solange dauern wie ein anderer, schon deshalb, weil hier keine Arbeiterkategorie der anderen mit ihren Hilfsquellen zu Hilfe kommen kann, da jede auf ihre eigenen angewiesen ist. Diese müssen aber, infolge des allgemeinen raschen Steigens der Lebensmittelpreise, welches durch den Streik selbst hervorgerufen wird, rasch erschöpft werden. Bei jedem größeren Streik spielt auch der Kredit eine nicht unbedeutende Rolle, welchen die Arbeiter bei den Kaufleuten und Gewerbetreibenden des Ortes genießen, welche ja auch an ihrem Erfolg interessiert sind. Bei einem Generalstreik fällt diese Ressource weg, nicht nur wegen des politischen Gegensatzes, der vielfach zwischen den Arbeitern und den Kleingewerbetreibenden herrscht, sondern auch, weil diese selbst in der allgemeinen Not gar nicht imstande sind, Kredit zu gewähren. Der Unternehmer kann aber jedenfalls viel länger ohne Mehrwert aushalten, als der Arbeiter ohne Lohn, besonders auch, weil es dem Konkurrenten ja auch nicht anders geht. Aber nur gegen die Unternehmer richtet sich diese Waffe direkt. Der Zins des Geldkapitalisten wird schon wenig oder gar nicht mehr affiziert, die Steuereingänge, also der der Regierung zugeteilte Anteil am Mehrwert, sowie die Grundrente noch weniger.

Nicht wesentlich günstiger steht es mit dem ‚Aushungern‘ im wörtlichen Sinne, das heißt mit der Behinderung der Gegner in der Konsumtion. Die kapitalistische Produktionsweise ist nicht nur dadurch charakterisiert, daß dem Arbeiter die Verfügung über die Produktionsmittel entzogen ist, sondern er hat auch an dem fertigen Produkt kein Recht; dieses befindet sich in der Gewalt seines Anwenders, von dem er es eventuell bei Bedarf erst zurückkaufen muß. Die kapitalistische Gesellschaft lebt aber auch nicht mehr von der Hand in den Mund; fast alle Gebrauchsgüter sind in großen Massen aufgestapelt, bevor sie zum Konsum selbst gelangen. Diese großen Reservoirs sind aber in den Händen der Gegner des Proletariats. Sobald der Generalstreik proklamiert ist, steigt der Preis aller Konsummittel unmittelbar und in hohem Maße. Selbst wenn es also der Arbeiterschaft gelänge, die ganze Produktion plötzlich zum stehen zu bringen, würde der Gegner viel früher in ihren Reihen sich einstellen als in denen ihrer Widersacher. Aber zur Verwirklichung dieser Voraussetzung ist in absehbarer Zeit nur sehr geringe Aussicht; nicht nur weil in keinem Lande der Welt auch nur die industrielle Arbeiterschaft derart organisiert ist, daß ein Generalstreik wirklich allgemein durchgeführt werden könnte. Vielleicht wäre das in einzelnen Fällen möglich, wo es sich offensichtlich um Interessen des gesamten Proletariats handelt. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß auch in den kapitalistisch am meisten fortgeschrittenen Ländern noch eine ziemlich bedeutende Schichte kleiner wirklich oder scheinbar selbständiger Produzenten besteht, die bei einem Generalstreik nicht nur nicht mittun, sondern sogar mit Freuden die günstige Gelegenheit ergreifen würden, um der allgemeinen Teuerung ihren besonderen Nutzen zu ziehen. Und gerade in den Lebensmittelbranchen ist die Zahl der Betriebe, welche zur Not von dem Meister selbst mit Hilfe seiner Familie in Arbeit erhalten werden können, nicht zu unterschätzen.

Es ist aber auch nicht zu erwarten, daß in solcher Zeit die Regierung den Ausgang des Kampfes untätig abwarten würde. Jedenfalls kann sie zunächst die Militärapprovisionierung sowie ihre Eisenbahntruppen in Aktion treten lassen, sie kann aber auch die beim Militär dienenden Professionisten zur Arbeit kommandieren, ja sie kann zu diesem Zwecke die Reserven einberufen und daß das nicht außer dem Bereich der Möglichkeit liegt, hat uns zum Beispiel die Haltung der italienischen Regierung anläßlich des großen Eisenbahnerstreiks bewiesen.

Durch all das wird aber nicht nur der wirtschaftliche Kampf des Proletariats erschwert, ein striktes Einhalten der Gesetzlichkeit erscheint geradezu unmöglich. Unsere Gesetz sind ja zum großen Teile so schlau eingerichtet, daß es der Regierung respektive den Mehrheitsparteien ermöglicht ist, das materielle Recht zu eskamotieren, ohne das formale zu verletzen, während es dem Proletariat oft nur durch eine Verletzung des formalen Rechtes möglich ist, das materielle zu behaupten. So wäre der erste Schritt beim Generalstreik, das plötzliche Niederlegen der Arbeit, schon eine Gesetzesverletzung. Sobald der Streik proklamiert ist, ist aber auch ein Zusammenstoß der Streikenden mit den ‚Arbeitswilligen‘ geradezu unvermeidlich. Ist es doch bei einem gewöhnlichen Streik oft schon schwer genug, derartige Konflikte zu vermeiden, wie dann erst hier, wo die politischen Leidenschaften auf beiden Seiten entflammt sind. Ist es aber einer eisernen Organisation auch gelungen, diese Fährlichkeit glücklich zu vermeiden, so droht erst noch der Konflikt mit den fortarbeitenden Kleinmeistern. Den Arbeitern aber in einer Zeit der größten Aufregung, und während bei ihnen selbst der Hunger einzieht, zuzumuten, ruhig zuzusehen, wie ihre Feinde sich noch auf ihre Kosten und durch die Not bereichern, das erscheint mir doch etwas zu viel. Ferner, was sollen die einberufenen Reservisten tun? Sollen sie gehorchen und so ihren Brüdern in den Rücken fallen, oder sollen sie sich weigern und alle Folgen der Meuterei ruhig auf sich nehmen? Die Voraussetzung, die hier bei der Betrachtung des Generalstreiks gemacht wird, ist die, daß das Proletariat im offenen Straßenkampf dem Gegner nicht erwachsen wäre und es deshalb auf keinen Fall zu einem solchen dürfe kommen lassen. Es ist aber dann umgekehrt im Interesse der Militärgewalt, den Proletarier dahin zu locken, wo die Flinte schießt und der Säbel haut. Wird das Proletariat in der eben geschilderten Verfassung den Provokationen widerstehen können? Und selbst wenn es auch noch diese Kraftprobe seiner Langmut ablegte, wer bürgt für das ruhige Verhalten des Lumpenproletariats? Sobald aber dieses auf der Bildfläche erschienen ist, dann fallen alle Schranken der ‚Gesetzlichkeit‘, die Ordnungsbestie stürzt sich auf ihre Feinde, das Bürgertum gibt seinen Segen; denn jetzt handelt es sich ja nicht mehr um eine Ueberschreitung der gesetzlichen Schranken durch die Exekutive, sondern um den Schutz der heiligsten Güter, der Kultur und des Geldsacks, und es nutzt dann der Nachweis wenig, daß sich die Arbeiterschaft selbst noch gesittet und gesetzmäßig betragen habe.

Ich glaube daher, die Frage nach der Möglichkeit und Wirksamkeit des Generalstreiks ist denn doch nicht so einfach zu lösen, wie das Hilferding in seinem Artikel versucht hat, indem er einfach erklärt [1]: ‚Der Generalstreik muß möglich sein, soll anders der Sozialismus selbst, der Sieg des Proletariats möglich sein.‘ Wenn diese innige Verknüpfung der Möglichkeit des Generalstreiks mit der einer Emanzipation des Proletariats richtig wäre, so würde der Nachweis, daß der Generalstreik eine Illusion ist, allerdings die Fruchtlosigkeit der Sozialdemokratie beweisen, er wäre deshalb aber ebensowenig unmöglich als zum Beispiel der Nachweis der Rotation der Erde, die der biblischen Geschichte der Weltschöpfung widerspricht. Zum Glücke ist aber diese prätendierte Verbindung gar nicht so eng, die Voraussetzung, daß der Generalstreik die einzige Waffe des Proletariats ist, ist falsch. Gerade der Vergleich, den Hilferding mit den Barrikadenkämpfen und Steuerverweigerungen als den Waffen des Bürgertums anstellt, hätte ihn aufmerksam machen sollen, daß es nicht ohne weiteres angeht, den Generalstreik deshalb als die alleinige Waffe: der Arbeiterschaft zuzusehen, weil er aus deren wirtschaftlicher Funktion entspringt und ihr angepaßt ist. Die Bourgeoisie hat ja ihren Forderungen auch nicht dadurch Nachdruck verliehen, daß sie ihre wirtschaftliche Tätigkeit eingestellt hätte. Ja, ich wüßte kein einziges Beispiel aus der Geschichte, abgesehen von vereinzelten kleineren Bauernstreiks, in welchem ein politischer Kampf durch Verweigerung der wirtschaftlichen Funktion von seiten der Opposition geführt worden wäre. Hingegen war alle politischen Kämpfen bisher das eine gemeinsam, daß in letzter Linie die physische Gewalt entscheidend war. Ob diese bei den politischen Kämpfen des Proletariats ganz auszuschalten ist, scheint mir doch mehr als zweifelhaft.

An außerparlamentarischen Waffen hatten wir bisher in unserem Arsenal hauptsächlich die Demonstrationsversammlung und die Straßendemonstration. Worauf beruht nun die Wirkung dieser Mittel? Zunächst bedeuten sie einen Protest gegen die herrschende Gewalt; doch dies ist auch die Abgabe eines oppositionellen Stimmzettels, und tatsächlich verlieren die Argumente der Straße auch an Bedeutung, wenn das Proletariat die Möglichkeit besitzt, zu wählen und im Parlament seine Wünsche vorzubringen. Ueberflüssig sind sie auch dann nicht. Wer zum Beispiel einen sozialdemokratischen Stimmzettel abgibt, zeigt damit nur, daß er mit der Politik dieser Partei im allgemeinen einverstanden ist; ob er aber auch bereit ist, dieser Ueberzeugung irgendwelche Opfer zu bringen, das ist daraus nicht zu ersehen. Bei der Straßendemonstration riskiert doch jeder, arretiert, auch überritten oder verletzt zu werden; er zeigt, daß ihm die Sache ernst ist, es liegt daran schon eine gewisse Drohung. Diese Drohung muß ja nicht die mit einer schlechthin unbesiegbaren Gewalt sein. Aus zum Beispiel in den meisten Städten Oesterreichs gegen die Regierung des Grafen Badeni auf den Straßen demonstriert wurde, da war wohl kaum jemand darüber im Zweifel, daß die Demonstranten mit Waffengewalt vertrieben werden könnten; aber es wäre da zu Straßenkämpfen gekommen und zu Blutvergießen. Hatte sich ja die gewöhnliche Polizeimacht bereits als ungenügend erwiesen. Um dies zu vermeiden, ließ man Badeni fallen; sein Sturz galt einem Blutvergießen auf offener Straße gegenüber als das geringere Uebel.

Der fromme Staatsbürger hat gewöhnlich vor allem ein Bedürfnis, das nach Ruhe. Jede Störung derselben ist ihm verhaßt. Wenn die Gesetzlichkeit verletzt wird, liegt ihm eventuell, das heißt wenn er nicht direkt interessiert ist, nicht gar so viel daran, sofern nur die Ruhe erhalten bleibt. Wenn also das Proletariat gegen eine Verletzung seiner Rechte heftig remonstriert und die Ruhe zu stören droht. Dann ist das dem guten Bürger sehr unsympathisch, er wird plötzlich ein Verteidiger der Gesetzlichkeit, deren Verletzung so peinliche Folgen nach sich zu ziehen droht; ob diese Unruhe und Unordnung durch die Massen selbst oder durch Polizei und Militär verursacht wird, ist ihm dann schon mehr gleichgültig. Besonders aber hat er gegen das Schießen eine starke Aversion, nicht nur wegen der eigenen Sicherheit, sondern auch wegen des Geschäftes, das da immer leidet. Wenn so oft behauptet wird, daß es der Bourgeoisie sehr recht wäre, wenn es einmal zu einem gewaltsamen Zusammenstoß käme zwischen dem Militär und dem Proletariat, damit dieses etwas bescheidener gemacht würde, so halte ich das in dieser Allgemeinheit für unrichtig. Ja, wenn das Proletariat so freundlich wäre, zum Beispiel auf die Lüneburger Heide zu marschieren und dort der bewaffneten Macht eine Schlacht anzubieten, das wäre vielleicht nicht so ohne; aber mitten in der Großstadt, da ist die Geschichte weniger gemütlich. Als zum Beispiel anläßlich der ersten Maifeier in breiten Schichten des Bürgertums in Wien heftige Zusammenstöße der Arbeiter mit dem Militär erwartet wurden, war die vorherrschende Stimmung von Freude sehr weit entfernt.

Auf dieser Angst vor dem Konflikt beruht die Wirkung einer ruhigen, festorganisierten Straßendemonstration, die der bewaffneten Macht nur geringen aktiven, aber um so größeren passiven Widerstand leistet.

Diese Wirkung findet aber ziemlich bald ihre Grenzen, einerseits weil die Angst vor Straßenunruhen auf das in den Städten lebende Bürgertum beschränkt ist, was freilich auch deshalb wichtig ist, weil dieses größtenteils das besorgt, was man gemeinhin die „öffentliche Meinung“ nennt; auf die Bezieher von Grundrente, welche weit vom Schusse sind, wirkt sie schon viel weniger, auf die Militärs aber gar nicht, diese dürften eher vielfach ganz geneigt sein, etwas Abwechslung in die ewige langweilige Soldatenspielerei zu bringen und gegen den ‚inneren Feind‘ zu marschieren; andererseits aber muß diese Wirkung auch dort versagen, wo wirklich wichtige und handgreifliche Interessen der Bourgeoisie in Frage kommen.

Wo es sich um diese handelt oder wo die Interessen der anderen herrschenden Klassen so stark affiziert sind, daß sie sich über die ablehnende Haltung des Bürgertums sowie über die Bedenken wegen Verletzung der Gesetzlichkeit hinwegsetzen, da genügt die oben geschilderte Straßendemonstration auch nicht mehr – wenn nicht hinter ihr der offenbare Wille und die Macht steht, sich auch auf einen ernsten Kampf einzulassen.

Es ist zweifellos richtig, und darüber ist ja heute kein Wort mehr zu verlieren, daß eine moderne Armee dem revoltierenden Volkshaufen stets technisch weit über1egeb ist. Trotzdem werden sich selbst die Militärgewaltigen durchaus nicht danach sehnen, die Probe aufs Exempel zu machen, wenn auch vielleicht mancher aristokratische Hitzkopf gern dabei wäre. Denn nicht nur daß ‚Blut ein ganz besonderer Saft ist‘, besonders das von Mitbürgern, sondern niemand weiß heute, wieweit in einem solchen Falle auf die Truppen Verlaß ist, wieweit dem Befehl, auf Väter und Brüder zu schießen, auch entsprochen würde, besonders in einer Zeit hitziger politischer Kämpfe, die auch vor den Kasernentoren nicht halt machen würden.

Auf der anderen Seite besteht aber allerdings für das Proletariat die fürchterliche Gefahr der Niederlage. Es ist ja richtig, daß der Proletarier als Produzent nicht vernichtet werden kann, ohne die Gesellschaft zu vernichten; aber darum handelt es sich hier nicht, sondern der Sieger wäre vielleicht imstande, die politischen und wirtschaftlichen Rechte der Besiegten in seinem Sinne zu reformieren. Doch auch dies steht nicht ganz bei ihm, dies hängt wesentlich ab von der Entwickelungstendenz der Volkswirtschaft in dem betreffenden Lande. Aller Wahrscheinlichkeit nach aber wäre die proletarische Organisation infolge einer Niederlage auf lange hinaus geschädigt, vielleicht erstickt. So schrecken beide Gegner vor dem Entscheidungskampf zurück, weil auf beiden Seiten Ungeheures auf dem Spiele steht, der Ausgang des Kampfes aber ungewiß ist. Ob es bei ernsten Konflikten eventuell doch zum Kampfe kommt, das hängt von vielen Umständen ab, nicht zuletzt vielleicht auch von den persönlichen Eigenschaften der leitenden Männer. Es hängt die Entscheidung ja ab von einer Abwägung der Uebel, welche einerseits der Kampf, andererseits das kampflose Nachgeben nach sich zögen. Es wird daher zum Beispiel ein alter, von Sorgen gebeugter Mann, der in seiner Jugend selbst die Schrecken einer Revolution mitgemacht, eher zur Nachgiebigkeit geneigt sein, ein junger, hochfahrender, der nichts höher hält an sein Prestige, eher zum Kampfe. Aber so wie wir es als eine utopische Illusion erkennen, wenn die Friedensfreunde, irregeführt durch die aus der allseitigen Angst vor den unabsehbaren Folgen eines modernen Krieges resultierende Waffenruhe in Europa, glauben, den Krieg durch Schiedsgerichte aus der Welt schaffen zu können, ebenso wie wir die Bestrebungen als fruchtlos bezeichnen müssen, die wirtschaftlichen Kämpfe durch Vermittlungsämter überflüssig zu machen, so müssen wir uns auch von dem Wahne fernhalten, als ob die Durchführung politischer Kämpfe je möglich wäre in durchaus gesetzlichen Bahnen, ohne ständigen Hinblick auf die Wurzel aller politischen Rechte, die Gewalt.

Diese selbst ist ja freilich wieder abhängig von der Wirtschaftsverfassung. Aber nicht aus der Unentbehrlichkeit einer Klasse im Wirtschaftsbetriebe schlechthin resultiert ihre politische Macht. Der römische Sklave, der mittelalterliche Fronbauer war wirtschaftlich ebenso notwendig wie der moderne Lohnarbeiter; was die Macht gibt, das ist die Fähigkeit der selbständigen Organisation und damit im Zusammenhang die Möglichkeit, den eventuellen Sieg auch zu behaupten, selbst das nun zur Herrschaft bestimmte Wirtschaftsprinzip durchzusetzen. Diese beide Möglichkeiten fehlten dem antiken Sklaven, dem mittelalterlichen Hörigen, sie sind aber in hohem Maße zu eigen dem modernen Proletarier. Wenn dieser also dem Gegner seine Macht beweisen, wenn er ihm warnend zeigen will, mit welchem Gegner in Kampf zu geraten er im Begriffe ist, dann muß er die Kraft seiner Organisation zeigen, er muß ihm zeigen, daß er imstande ist, die ganze gesellschaftliche Produktion zum Stehen zu bringen und in Betrieb zu setzen, er muß aber zu gleicher Zeit den Zweifel bestehen lassen, daß er bereit ist und fähig, seine Existenz einzusetzen für sein Recht, das heißt er muß in den Generalstreik treten.

Dieser ist also kein selbständiges Kampfmittel, er kann das schon deshalb nicht sein, weil er die Tendenz hat, über sich hinauszuwachsen, er muß entweder mit einem Kampfe enden oder mit dem Rückzug eines der beiden Teile. Jedenfalls aber wird derjenige den anderen eher zum Rückzug zwingen können, der besser gerüstet ist zum Kampfe. Der Generalstreik ist die letzte, die ernsteste Drohung des Proletariats vor dem Sturm, er darf nicht als mehr gelten wollen, aber auch nicht an weniger. Wenn zum Beispiel die belgischen Genossen, bevor sie in den Generalstreik traten, feierlich versicherten, sie würden auf keinen Fall den Boden der Gesetzlichkeit verlassen, hatten sie von vornherein die Chance des Sieges aus der Hand gegeben. Eine Drohung, der man beifügt, man werde sie nicht ausführen, hat wohl noch nie große Wirkung getan.

Daraus geht aber hervor, eine wie zweischneidige Waffe der Generalstreik ist; er ist insofern die ultima ratio als er direkt auf das Aeußerste hinweisen muß. Ob daher ‚hinter dem allgemeinen Wahlrecht stehen muß der Wille zum Generalstreik‘, erscheint mir in dieser Allgemeinheit sehr zweifelhaft (übrigens geht es hierin dem Genossen Hilferding nicht besser, wie seine Anmerkung auf Seite 142 zeigt), aber das erscheint mir als feststehend: ‚Hinter dem Generalstreik muß stehen der Wille zum Entscheidungskampf.‘

Dies wird, dessen bin ich mir wohl bewußt, vielen Genossen geradezu als Häresie erscheinen, die sich gewöhnt haben, die Gesetzlichkeit als einen Talisman zu betrachten, der in allen Fährlichkeiten rein erhalten werden muß. Sie ist aber nur ein Kampfmittel, das gegebenen Falles auch mit einem anderen muß vertauscht werden können, das uns heute fördert, so sehr, daß wir allen Grund haben, daran festzuhalten. Aber eben deshalb müssen wir stets darauf gefaßt sein, daß unsere Gegner sich der heutigen gesetzlichen Schranken des Kampfes gegen uns entledigen. Und schon darum, schon wegen der Möglichkeit eines Staatsstreichs, müssen wir in der Lage sein, gegebenen Falles die gesetzlichen Kampfmittel mit anderen vertauschen zu können. Sonst könnten wir vielleicht einmal, freilich in einem etwas anderen Sinne, die Worte auf uns selbst beziehen: ‚Die Gesetzlichkeit tötet uns!‘“


Fußnote

1. Vergl. Neue Zeit, XXII, 1, S. 142.


Zuletzt aktualisiert am: 10.9.2011