Karl Kautsky

Der politische Massenstreik


25. Politische Ungeduld


Da alles relativ ist in dieser Welt der Erscheinungen und wir nicht „metaphysischen Absolutismus“ treiben, ändern sich mit diesen Umwandlungen auch die Wirkungen der marxistischen Theorie. Sie ändern sich jetzt um so mehr, je mehr die Theorie selbst die gleiche bleibt und je mehr sie diesmal mit der Erwartung von der zunehmenden Verschärfung der Klassengegensätze Recht behält.

Die Klassenlage des Proletariers bringt es mit sich, daß er stets ungeduldig ist, sie zu bessern, sobald er nur einigermaßen die Möglichkeit, solches zu erreichen, vor sich sieht. Seine Lage ist so unerträglich, daß ihm jedes Warten zur Qual wird. Vorwärts, immer vorwärts, ist unter allen Umständen seine Losung.

Doch nicht unter allen Umständen schlägt er denselben Weg ein, um vorwärts zu kommen. Es ist klar, daß es bei der Wahl seines Weges nicht bloß auf sein Wollen ankommt, sondern auch auf sein Können. Dieses selbst hängt wieder von den materiellen Bedingungen ab, die auf der einen Seite die stofflichen Mittel liefern, aus denen die soziale Besserstellung bestritten werden soll, und die andererseits die Macht des Proletariats und die seiner Gegner bestimmen, die Verfügung über diese Mittel zu gewinnen. Das Proletariat mag noch so viel Macht besitzen; wenn die nötigen stofflichen Mittel nicht vorhanden und nicht hervorzubringen sind, deren es zu seinem Wohlstand bedarf, wird es zu diesem Wohlstand auf keinerlei Weise gelangen können. Auf der anderen Seite mögen diese Mittel noch so reichlich vorhanden, oder doch mit den gegebenen Produktivkräften herzustellen sein, das Proletariat wird darben, wenn es schwach ist und seine Gegner stark, und wenn diese es vorziehen, jene reichlichen Mittel sich selbst anzueignen oder an deren Stelle Genußmittel für sich selbst herstellen zu lassen.

Die Produktivkraft der Gesellschaft ist jeden Moment gegeben und unabhängig von den Wünschen im Neigungen des Proletariats. Auch seine Macht kann nicht willkürlich gesteigert werden. Sie ist ebenfalls von den materiellen Bedingungen abhängig, die seine Zahl, seine ökonomische Bedeutung, seine Konzentration an einzelnen Punkten in jedem Moment ganz unabhängig von seinem Wünschen und Wollen feststellen. Insofern hängt auch die Macht des Proletariats nicht von ihm selbst ab, sondern von Bedingungen, die außer ihm liegen, auf die es keinen Einfluß hat, und so scheint es, als könnte es nichts dazu beitragen, die in jedem Moment gegebene Größe seiner Macht zu vernehmen, als sei es dazu verurteilt, fatalistisch ergeben zu warten, bis die ökonomische Entwicklung ohne sein Zutun seine Macht so weit gesteigert hat, daß er imstande ist, seiner Gegner Herr zu werden und sich zu befreien.

So wird oft die materialistische Geschichtsauffassung dargestellt. Aber diese Darstellung ist ganz verkehrt.

Gerade diese Geschichtsauffassung betont die Notwendigkeit, die jeder Proletarier empfindet, stets um seines Lebens Notdurft mit seinem Ausbeuter zu ringen, die Notwendigkeit des Kampfes, der ein Klassenkampf wird, weil in ihm zahlreiche Individuen mit gleichen Interessen den gleichen Kampf um die gleichen Objekte führen.

Damit entsteht neben den schon erwähnten ein neuer Machtfaktor, die Organisation der Klasse, die Zusammenfassung der Gleichstrebenden zu gleichem Handeln. Je mehr diese Zusammenfassung gelingt, und so größer die Macht der Kämpfenden.

Diese Zusammenfassung setzt Gleichheit der Ziele und der Mittel voraus, was nicht um Gleichheit der Interessen und Lebensbedingungen, sondern auch Gleichheit der Erkenntnis erheischt.

Auch der Höhegrad der Erkenntnis einer Klasse hängt in großem Maße von ihren materiellen Bedingungen ab. Aber nicht von ihnen allein. Erkenntnis kann einer Kasse nicht nur von Klassengenossen, sondern auch von Individuen einer anderen Klasse vermittelt werden. Und oft vermag schon ein einzelnes Individuum, die Erkenntnis einer ganzen Klasse mächtig zu steigern. Die höhere Erkenntnis leistet indes noch mehr, als die Organisation zu fördern. Sie beugt auch jedem unzweckmäßigen Aufwand von Kraft vor, lehrt die Kämpfenden, ihre dauernden, gemeinsamen Interessen von den Augenblicks- und Sonderinteressen trennen, hindert die Aufwendung von Kraft für letztere, wenn diese mit dauernden, gemeinsamen Interessen unvereinbar sind, und ebenso die Verschwendung von Kraft auf Ziele, die überhaupt oder doch im gegebenen Moment unerreichbar sind.

Die wissenschaftliche Erkenntnis, die Theorie, ermöglicht somit die Konzentration aller Kräfte, über die das Proletariat verfügt, auf das Mögliche und Notwendige. Sie kann die Kräfte des Proletariats nicht vermehren, die durch die Produktionsweise gegeben sind. Sie kann ihm auch keine Möglichkeiten bieten, die das Maß der gegebenen Produktivkräfte überschreiten, aber sie kann bewirken, daß die gegebenen Kräfte innerhalb der gegebenen Möglichkeiten in jedem Moment die höchste Wirkung entfalten, deren sie fähig sind. Sie kann dadurch die Machtentfaltung des Proletariats steigern und beschleunigen. Die Macht des Proletariats ist jederzeit eine gegebene, jedoch keine starre, sondern eine sehr elastische Größe.

Immerhin findet die Elastizität in den materiellen Bedingungen jederzeit bestimmte Grenzen, über die sie nicht hinauszugehen vermag, Grenzen, an denen die proletarische Ungeduld oft und leicht schmerzhaften oder entrüsteten Anstoß nimmt. Sie sucht immer wieder diese Grenzen zu übersteigen und glaubt, durch taktische Kunststücke die Größe der Macht des Proletariats willkürlich steigern zu können, die durch die sozialen und politischen Bedingungen bestimmt und begrenzt ist. Zwei Wege bieten sich ihr dazu dar: der staatsmännische und der rebellische. Die Vertreter des ersteren erklären: das Proletariat ist zu schwach, allein so schnell vorwärts zu kommen, wie notwendig. Es bedarf dazu dringend einer Bundesgenossenschaft und es findet auch solche in bürgerlichen Parteien, etwa den Liberalen, wenn es seinen Klassenkampf wenigstens in seinem politischen Teile mäßigt und sich auf das Anstreben von Zielen beschränkt, die es mit jenen gemein hat.

Daran ist so viel richtig, daß nicht alle bürgerlichen Parteien den gleichen Interessen dienen, daß die bürgerliche Welt durch Interessengegensätze gespalten ist und manche bürgerliche Partei manches Interesse mit dem Proletariat und seiner Partei gemeinsam hat. Daß wir in Fällen, wo ein derartiges Interesse in Frage kommt, die betreffende bürgerliche Partei unterstützen, ist selbstverständlich, ist eine der Formen, in denen wir heute schon, als Minorität, politische Macht üben können. Aber wir dürfen darüber nicht vergessen, daß es keine bürgerliche Schicht gibt, die nicht durch starke Klasseninteressen in entschiedenen Gegensatz zum Proletariat gebracht würde. Daß daher jedes Zusammenwirken mit ihr nur ein vorübergehendes sein kann, jede dauernde Arbeitsgemeinschaft ihm nur Schaden bringt, seine Kräfte lähmt, statt entwickelt.

Heute kann für uns nur noch eine Arbeitsgemeinschaft mit den Liberalen in Betracht kommen. Sie wird von diesen vielfach gesucht und gewünscht, denn sie haben dabei nur zu gewinnen. Durch eine derartige Arbeitsgemeinschaft erschleicht der Liberalismus, der bei den arbeitenden Klassen schon allen Kredit verloren hat, wieder deren Vertrauen. In demselben Maße aber verliert es die Sozialdemokratie. Die einen Arbeiter glauben nun, der Liberale vertrete seine Interessen ebenso gut wie der Sozialdemokrat, und geben leicht jenem ihre Stimme. Andere, die vom Liberalismus nach wie vor nichts wissen wollen, schließen nun die Sozialdemokratie in die gleiche Verdammnis ein. Sie scheint ihnen nun ebensowenig zu bringen wie der Liberalismus. Die Liberalen gewinnen die einen, die Reaktionäre oder die politische Indifferenz, wenn nicht der Anarchismus, die anderen Arbeiter, das Ende vom Lied ist eine Schwächung der Partei des Proletariats und damit des Proletariats selbst.

Nicht besser steht’s jedoch mit dem anderen Abweg, dem rebellischen. Tatlustige Proletarier oder deren Freunde fragen sich verwundert, wieso es kommt, daß die arbeitende Masse, die doch die Mehrheit im Staate bildet, sich Knechtung und Ausbeutung noch gefallen läßt; ihre Ungeduld sucht nach einem Mittel, diese Masse rasch zu gewinnen und zu Taten aufzurufen, und meint dies durch eine kühne Initiative erreichen zu können, da sie annimmt, bloß Gedankenlosigkeit und Feigheit hinderten die Masse, sich zu empören. Nicht die langsame Arbeit der Organisation und Aufklärung, sondern nur eine große Tat vermöge sie zu erwecken. Diese Tat müsse gewagt werden, immer wieder, bis es ihr gelingt, die Massen fortzureißen zum Sturm.

Daran ist so viel richtig, daß auf die Massen große und kühne Taten weit tieferen Eindruck machen als bloße Theorien oder unscheinbare Kleinarbeit. Aber anfeuernd wirken solche Traten nur dann, wenn sie Erfolg haben. Ihr Mißerfolg wirkt lähmend auf die Proletarier, dagegen anstachelnd auf die Gegner, erzeugt also das gerade Gegenteil dessen, was die Tat bewirken soll.

So hinreißend große und kühne Aktionen wirken können, erfolgreich sind sie nur möglich in Situationen in denen die herrschenden Klassen wanken, das heißt in revolutionären Situationen, deren Eintreten nicht von unserem Belieben abhängt.

So gegensätzlich beide Abwege sind, sie entspringen beide der gleichen psychologischen Wurzel, der Ungeduld und der Mißachtung der materiellen Bedingungen der Bewegung. Beide sind daher in ihrem Grunde antimarxistisch und gehen leicht ineinander über. Wer auf dem einen Wege schlechte Erfahrungen gemacht hat, versucht’s nun mit dem anderen. Am drastischsten zeigt sich das in neuester Zeit bei Gustav Hervé. Er hat zahlreiche Vorgänger und Genossen, auch in unserer Partei.

Ganz hören diese beiden Richtungen nie auf, doch sind sie nicht immer gleich stark. Der Einfluß einer jeden von ihnen hängt auch wieder von den Verhältnissen ab. Zeitweise kann die eine so erstarken, daß sie die andere ganz in den Schatten stellt und das Parteileben beherrscht. Die marxistische Theorie muß beide bekämpfen. Doch wenn die staatsmännische Ungeduld Fortschritte macht, indes die rebellische einschläft, dann natürlich wendet sich unsere Theorie gegen jene allein. Es ist jedoch ein sonderbares Verkennen des Wesens der Wissenschaft, wenn man aus einer solchen Situation den Schluß zieht, unsere Theorie habe die Aufgabe, stets auf der äußersten Linken zu stehen und die Massen zu kühnen Aktionen anzufeuern. Die einzige Aufgabe, die die Wissenschaft hat, ist die Erkenntnis dessen, was ist. Wie die wissenschaftliche Erkenntnis wirkt, ob anfeuernd oder bremsend, das hängt ebenfalls von dem ab, was ist. Nur darf man unter dem, was ist, nicht bloß das verstehen, was augenblicklich in einer bestimmten Lokalität zutage tritt, sondern die Gesamtheit dessen, was unserer Erkenntnis zugänglich ist. Das, was augenblicklich auf einem beschränkten Gebiete ist, wechselt sehr rasch, die Gesamtheit unserer Erfahrungen erweitert sich wohl auch unaufhörlich, unterliegt aber nicht so raschem Wechsel. Das neu Hinzukommende ist stets nur ein Teil des großen Ganzen. So liegt in einer gut fundierten wissenschaftlichen Erkenntnis ein großes Beharrungsvermögen gegenüber den rasch wechselnd den Moden und Stimmungen des Tages – ein Vermögen, das dem impressionablen Stimmungsmenschen als starrer Dogmatismus erscheint und ihn abstößt.

Die Theorie ist sicher nicht ohne Einwirkung auf unser Tun, auf die Praxis. Der proletarische Wille nach Befreiung der arbeitenden Klassen wird stets durch die wissenschaftliche Erkenntnis auf bestimmtes Tun hingelenkt werden, Aber das kann nicht geschehen, ohne daß der proletarische Wille gleichzeitig von anderem unzweckmäßigen Tun abgelenkt wird. Die Theorie wirkt daher stets gleichzeitig in einer Richtung bremsend und in einer anderen anfeuernd. Sie wirkt bremsend dort, wo das, was augenblicklich ist, auf Abwege drängt, die von dem Wege wegführen, den die Gesamterkenntnis vorschreibt.

So haben schon Marx und Engels zeitweise nach rechts, nach der Seite der staatsmännischen Ungeduld, zeitweise aber auch nach links, nach der Seite der rebellischen Ungeduld, oft nach beiden Seiten zugleich auf Grund ihrer wissenschaftlichen Erkenntnis zu bremsen gehabt. Natürlich waren auch sie bloß Menschen, und als leidenschaftliche Verfechter der proletarischen Interessen waren sie ebenfalls von jener Ungeduld erfüllt, die das Merkmal des Proletariers ist. Das verführte sie mitunter, den Weg, den das Proletariat bis zu seiner Befreiung noch zu durchwandern hat, zu kurz einzuschätzen, die Symptome, die auf einen nahen Befreiungskampf schließen ließen, zu überschätzen. Das gleiche gilt von Bebel, und ich muß gestehen, auch im diesem Punkte oft ihr getreuer Schüler gewesen zu sein. Aber mochte die Ungeduld ihre Einschätzung der Distanzen der Zukunft manchmal irreleiten, so hat doch ihre wissenschaftliche Erkenntnis sie stets die Gegenwart und deren Bedürfnisse klarer erkennen lassen als irgendeinen anderen Sozialisten ihrer Zeit, dank ihrem Standpunkt der unsere Aktionen nicht am Wollen und Wünschen, sondern an den materiellen Bedingungen maß.

So haben Marx, Engels., Bebel ebenso oft nach links wie nach rechts gebremst, und stets mit Recht.

Schon im Herbst 1850 sahen sich Marx und Engels in die Notwendigkeit versetzt, im Bund der Kommunisten bremsend aufzutreten, worauf bereits oben in meiner Polemik gegen Stampfer hingewiesen wurde. (S. 141) Zahlreiche Mitglieder des Bundes konnten nicht daran glauben, daß es mit der Revolution zu Ende sei. Sie waren erfüllt von dem Drange, die Volksmassen zu einer neuen revolutionären Erhebung zu erwecken und planten dazu Aktionen einer kühnen Initiative, die alles mit sich fortreißen sollten. Wenn das nicht geschehe, sei die Partei fertig und dein Untergange geweiht.

Gegen diese Richtung wendete sich damals Marx mit den Worten:

„An die Stelle der kritischen Anschauung setzt die Minorität eine dogmatische, an die Stelle der materialistischen eine idealistische. Statt der wirklichen Verhältnisse wird ihr der bloße Wille zum Triebrad der Revolution. Während wir den Arbeitern sagen: Ihr habt 15, 20, 50 Jahre Bürgerkriege und Völkerkämpfe durchzumachen, nicht nur um die Verhältnisse zu ändern, sondern um Euch selbst zu ändern und zur politischen Herrschaft zu befähigen, sagt Ihr im Gegenteil: ‚Wir müssen gleich zur Herrschaft kommen oder wir können uns schlafen legen.‘ Während wir speziell die deutschen Arbeiter auf die unentwickelte Gestalt des deutschen Proletariats hinweisen, schmeichelt Ihr aufs plumpste dem Nationalgefühl und dem Standesvorurteil der deutschen Handwerker, was allerdings populärer ist. Wie von den Demokraten das Wort Volk zu einem heiligen Wesen gemacht wird, so von Euch das Wort Proletariat. Wie die Demokratie schiebt Ihr der revolutionären Entwickelung die Phrase der Revolution unter.“

Es gelang Marx nicht, die Mehrheit der Bundesmitglieder auf seine Seite zu bekommen. In dem inneren Kampf ging der von der Reaktion bedrängte Bund vollends unter.

Ein dutzend Jahre nach seinem Untergang fand er einen größeren Nachfolger in der „Internationale“. In ausgedehnterem Maßstab wiederholte sich hier bald dieselbe Erscheinung in. dem Gegensatz zwischen Marx und Bakunin.

Bei der Rückständigkeit Rußlands war es fair die revolutionäre Ungeduld eines Russen damals eine harte Zumutung, die wirklichen Verhältnisse als Triebrad der Revolution anzuerkennen. Er mußte diese bewegende Kraft im bloßen Willen suchen. War er aber einmal so weit, dann hinderte ihn nichts, die ihm so vertrauten Ideen russischer Revolutionäre als Ideen der revolutionären Propaganda und Aktion überhaupt anzusehen, die „unentwickelte Gestalt“ des russischen Intellektuellen (ein russisches industrielles Proletariat mit Klassenbewußtsein gab es damals noch nicht) zum Vorbild des revolutionären Westeuropa zu erheben, die Parlamentslosigkeit und Organisationslosigkeit der Volksmasse, die Rußland kennzeichnete, für den einzig wirksamen Boden revolutionären Wirkens in der ganzen Welt zu erklären und, wie die Demokraten das Wort Volk, die Kommunisten das Wort Proletariat, jetzt das Wort unorganisierte Masse zum heiligen Wesen zu proklamieren, kurz mit einem Wort, aus der russischen Not eine internationale Tugend zu machen, zu dem Zwecke, wie Engels sagte, die Internationale russisch zu kommandieren. Darob kam es zum Kampf mit Marx, der damals die Eroberung und Ausnutzung des allgemeinen Wahlrechts, die Durchsetzung von Arbeiterschutzgesetzen, die Zusammenfassung des Proletariats in großen, zentralisierten Organisationen mit starker Disziplin für die dringendsten Erfordernisse hielt, aber allerdings auch die Benutzung dieser Organisationen zu energischstem Klassenkampfe auf politischem wie auf ökonomischem Gebiete.

Durch diese letztere Forderung gerieten Marx und seine Anhänger ebenso in Gegensatz zu der staatsmännischen Ungeduld der englischen Gewerkschafter, wie durch die ersteren zu der rebellischen Ungeduld der Nationen ohne erhebliche proletarische Organisationen. Marx mußte nach rechts wie nach links bremsen. Aber englische und romanische Ungednld waren damals noch stärker als die marxistische Erkenntnis. Diese unterlag und damit ging die Internationale zugrunde.

Wenige Jahre darauf kann die marxistische Taktik in das gleiche Dilemma durch das Sozialistengesetz in Deutschland. Bei uns hatte diese Taktik sich frühzeitig eingebürgert, früher noch als die marxistische Theorie. Liebknecht und Bebel, besonders der letztere, hatten sie fast instinktiv entwickelt. Die Nöte des Sozialistengesetzes bedrohten die von ihnen geschaffene Taktik, schufen einen Boden, auf dem staatsmännische wie rebellische Ungeduld gediehen. Aber unsere Partei erwies sich als stärker gefügt wie die erste Internationale, sie wurde mit beiden gleichzeitig fertig, mit den Höchberg, Schramm, Viereck usw. ebenso wie mit den Most, Hasselmann und Peukert. Die chronische Krise, die in den achtziger Jahren die ganze kapitalistische Welt verheerte, stachelte überall die rebellische Ungeduld an. Sie erzeugte auch bei uns Marxisten revolutionäre Erwartungen, aber der Marxismus schützte doch das deutsche Proletariat vor Taten rebellischer Ungeduld. Der Anarchismus, der damals überall, in Frankreich, England, Amerika, Oesterreich, breite Arbeiterschichten erfaßte, ging an Deutschland fast spurlos vorbei.

Und ebensowenig wurde unsere Partei geschädigt, als nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes auf der einen Seite Vollmar staatsmännische Ungeduld zu erkennen gab und auf der anderen Seite die „Jungen“ unter dem Einflusse ausländischer Vorbilder rebellische Ungeduld äußerten, die bei den meisten wenige Jahre später in staatsmännische umschlug.

Dieser Umschlag wurde bewirkt durch den schon im 9. Kapitel erörterten Umschwung der ökonomischen Situation, die Verdrängung der chronischen Krise durch eine Aera raschesten wirtschaftlichen Aufschwunges seit der Mitte der neunziger Jahre, die nicht nur allen revolutionären Erwartungen für die nächste Zukunft ein Ende machte, sondern vielen überhaupt jede Revolution für immer auszuschließen schien. Damit hörte auch die rebellische Ungeduld auf, eine wirksame Triebkraft in den Massen zu sein. Dagegen wurden sie der staatsmännischen Ungeduld nun leichter zugänglich. Diese zu bremsen, vor ihr zu warnen, wurde jetzt die Hauptarbeit der Marxisten.

In dieser Situation ist die jüngere Parteigeneration groß geworden. Sie sahen die Marxisten stets auf dem äußersten linken Flügel und dachten da leicht, das muß immer so sein, das gehöre zum Wesen des Marxismus.

In den letzten Jahren ist aber wieder ein neuer Umschwung eingetreten und damit ändert sich auch die Situation der Marxisten, oder sagen wir genauer, jener Marxisten, die auf dem alten Standpunkt von Marx und Engels, Bebel und Liebknecht bleiben. Die Veranlassungen und Verführungen zu staatsmännischer Ungeduld hören immer mehr auf, wenn diese auch in einzelnen Köpfen noch nachwirken mag. Wir dürfen wieder revolutionäre Erwartungen hegen – ob diesmal mit mehr Recht als früher, muß die Zukunft lehren. Aber auch die rebellische Ungeduld erhält jetzt wieder die stärksten Antriebe, die Ungeduld, die jedes Warten auf revolutionäre Situationen mit Hohn und Empörung zurückweist; die verlangt, daß solche Situationen durch kühne Initiativen geschaffen werden, da die Lage des Proletariats immer unerträglicher wird und Gewerkschaften wie Parlamente immer mehr versagen.

Da hören die Marxisten im alten Sinne auf, die äußerste Linke zu bilden, da werden sie wieder, wie im Kommunistenbund, wie in der Internationale, wie unter dem Sozialistengesetz, zum „Zentrum“ – wenn man mit Zentren nicht einen bloßen Punkt bezeichnen will, sondern die große Masse der Partei im Gegensatz zu ihren Ausläufern rechts und links.

Diese Zentrumsstellung der Marxisten mag manchen befremden, der innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte zu uns gekommen ist. Den älteren Parteigenossen ist sie die Wiederholung einer ihnen wohl vertrauten Position.

Es war bloß eine Frage der Zeit, wann diese Gegensätze aufeinanderstießen.

Zum ersten Zusammenstoß kam es schon 1910, anläßlich des preußischen Wahlrechtskampfes.


Zuletzt aktualisiert am: 10.9.2011