Karl Kautsky

Der politische Massenstreik


29. Die Reichstagswahl von 1912
und ihre Folgen


Wenn Mehring und ich im Frühjahr 1910 im Gegensatz zur Genossin Luxemburg die Ansicht ausgesprochen hatten, die Situation sei für einen Massenstreik nicht reif, sie erfordere an Stelle dieser „Zuspitzung“ vielmehr die energischste Vorbereitung der Reichstagswahlen, die uns einen großen Triumph versprächen. so hatten wir nur ausgesprochen, was die gesamte Partei dachte. Und der Erfolg rechtfertigte unsere Erwartungen insofern, als wir die Zahl unserer Stimmen wie unserer Mandate glänzend erhöhten.

Aber auch mit der Erwartung hatten wir uns nicht getäuscht, daß, wie sich Mehring ausdrückte, nun „das historische Rhodus gegeben sei, auf dem getanzt werden könne“, daß der Gegensatz zwischen der „reaktionären Verblendung der Gegner“ und der „revolutionären Einsicht des Proletariats“ dann akut werden und zu Kämpfen führen werde, die, wie ich meinte, „das ganze herrschende Regierungssystem in seinen Grundfesten erschüttern werden“. Denn die Erreichung der absoluten Mehrheit im Volk würde dann nur noch als Frage weniger Jahre erscheinen, und diese Möglichkeit könnte die herrschende Klasse unmöglich gleichgültig lassen, müsse sie zu den größten Kraftanstrengungen anspornen, das verlorene Terrain wiederzugewinnen.

In diesem Sinne verspreche unser Sieg zu einer Katastrophe des Regierungssystems zu werden.

Wer die deutsche Reichspolitik seit unserem Siege von 1912 verfolgt, die wachsende Gewalttätigkeit der Konservativen und ihrer Werkzeuge, die Proklamierung der Willkür des Militärs, die Kriegserklärung des preußischen Herrenhauses an den Reichstag, die Fronde des Kronprinzen, der kann gar nicht im Zweifel darüber sein, daß die letzte Reichstagswahl mit ihren Konsequenzen das Junkertum in Paroxysmen versetzt, die die Masse der Bevölkerung ins Lager der Sozialdemokratie treiben und eine Katastrophe des Regierungssystems vorbereiten.

Allerdings hat die Wahl von 1912 noch nicht zu einer Gefährdung des Reichstagswahlrechts geführt. Schon 1895 hatte man, wie wir gesehen, die Befürchtung ausgesprochen, unsere Wahlsiege würden das geltende Wahlrecht zum Reichstag gefährden. Die gleiche Befürchtung bildete dann das Hauptmotiv zur Annahme der Resolution über den Massenstreik in Jena zehn Jahre später. Seitdem waren wir bei den Reichstagswahlen noch weiter gewachsen, und doch machten unsere Gegner keine Miene, das Wahlrecht anzutasten. So auch diesmal nicht. Woher kam das?

Eine der Ursachen liegt wohl gerade in dem Umstand, der unsere Gegner erschreckte, in unserer steigenden Macht. Man wußte doch zu gut, daß hinter den abgegebenen Stimmen eine Fülle revolutionärer Entschlossenheit stand, die ohne Not herauszufordern nicht rätlich war. Konnte man das geltende Reichstagswahlrecht ohne Aufsehen eskamotieren, dann zog man diesen Weg vor. Und ein solcher war vorhanden. Er lag im preußischen Landtag mit dem Dreiklassensystem.

Gerade seit der Zeit, seit der wir mit der Möglichkeit einer Verschlechterung des Reichstagswahlrechts rechnen, suchten die Reichsregierung und die herrschenden Parteien den politischen Schwerpunkt immer mehr in den preußischen Landtag zu verlegen.

Das war sicher ein weniger auffallender und gefährlicher Weg, die Wirkungen des Reichstagswahlrechts zu paralysieren, als dessen offene Verschlechterung.

Wohl hat unsere Partei den Braten gerochen, und in dem Maße, in dem der preußische Landtag mehr in den politischen Vordergrund geschoben wurde, den Kampf um den von ihr früher ignorierten Landtag immer energischer geführt – sowohl in der Form der Beteiligung an den Landtagswahlen wie in der Form der Agitation um die Uebertragung des Reichstagswahlrechts auf den Landtag.

Diese Agitation zum Siege zu führen, ist indes keine so einfache Sache in einer Zeit, in der wir darauf gefaßt sein müssen, das Reichstagswahlrecht selbst verteidigen zu müssen. Gerade, weil die herrschenden Klassen wissen, daß sie im Dreiklassenwahlrecht ihre letzte Zitadelle verteidigen, daß dessen Umsturz bei den bestehenden und sich verschärfenden Klassenverhältnissen der roten Sturmflut die Bahn frei zu machen droht, gerade deshalb werden sie das bestehende Wahlrecht zum Landtag nur aufgeben, wenn ihre Macht durch eine der ihren überlegene Macht gebrochen wird.

Derselbe Umstand aber, der die Zähigkeit und Energie aufs höchste steigert, mit der die herrschenden Klassen das preußische Wahlrecht verteidigen, wirkt dahin, die Wucht unseres Ansturms zu schwächen. Dieser Umstand besteht in den Wirkungen des Reichstagswahlrechts. Wenn diese die großen Ausbeuter immer mehr erschrecken und zur Verteidigung des Dreiklassenwahlrechts anspornen, so lenken dieselben Wirkungen die Aufmerksamkeit der Massen auf den Reichstag und verhindern, daß sie sich mit der gleichen Wucht ganz auf den Kampf gegen das preußische Wahlrecht konzentrieren, wie es in Ländern der Fall war oder ist, wo der Wahlrechtskampf dem Proletariat den Zutritt zu der einzigen entscheidenden Volkskammer eröffnen sollte.

Allerdings wissen wir Sozialdemokraten genau die Bedeutung des preußischen Wahlrechtskampfes zu schätzen, aber es genügt nicht, daß wir es wissen. Zum entscheidende Ansturm in diesem Kampfe brauchen wir die gesamte Masse, und diese empfindet den Druck des Dreiklassenwahlrechts nicht in vollem Maße, solange sie über das Sicherheitsventil des Reichstags verfügt.

Wie schwer ein Wahlrechtskampf ist, wie er sich jahrzehntelang hinziehen kann, bis er mit einem entscheidenden Siege endet, bezeugt die Geschichte aller Wahlrechtskämpfe europäischer Länder seit hundert Jahren. Er ist doppelt schwer in Preußen.

Aber damit ist nicht gesagt, daß er bisher praktisch erfolglos geblieben sei. Wenn das Wahlrecht zum Reichstag noch nicht angetastet wurde, trotz unserer Erfolge bei den Wahlen, ist das auf der einen Seite dem Umstande zuzuschreiben, daß der preußische Landtag den herrschenden Klassen einigermaßen Schutz gegen das Reichstagswahlrecht bietet; auf der anderen Seite aber dem Umstande, daß die preußische Sozialdemokratie gerade deswegen mit aller Energie den Ansturm gegen das Preußenwahlrecht unternommen hat. Dieser Angriff bildete die beste Verteidigung des Reichstagswahlrechts. Man hütet sich, ein Proletariat, das so unermüdlich sein Recht auf Zugang zum Landtag fordert, noch dadurch zu reizen, daß man ihm den Zugang zum Reichstag versperrt. Der Kampf könnte ganz ungeahnte Dimensionen annehmen und der Umsturz des Reichstagswahlrechts mit dem Umsturz der Umstürzler und aller Institutionen, die ihnen dienen, enden, das Dreiklassenwahlrecht eingeschlossen.

Den Kämpfen um den preußischen Landtag dürfen wir es wohl in erster Linie zuschreiben, daß sich unsere Erwartung von 1910 nicht erfüllte, einem großen Wahlsieg der Sozialdemokratie werde ein Versuch zur Verschlechterung des Reichstagswahlrechts folgen.

Noch einen anderen Faktor hatte unsere Voraussicht von 1910 nicht richtig bewertet, den Liberalismus. Bisher drängte fast regelmäßig jeder große Wahlsieg unserer Partei den Liberalismus einen Schritt weiter nach rechts. Das Geldsacksinteresse überwucherte immer mehr die Demokratie. Bei Stichwahlen verrieten uns die Liberalen um so eher, je besser wir bei den Hauptwahlen abgeschnitten hatten.

Um so mehr durften wir diesmal das gleiche erwarten, und der Bülowblock hatte bereits gezeigt, daß selbst die Freisinnigen unter Umständen imstande seien, mit den Konservativen zusammen eine Arbeitsgemeinschaft einzugehen.

In diesen Erwartungen irrte ich mich. Das gebe ich gerne zu. Doch sollten gerade diesen Irrtum meine Kritiker mit der rebellischen Ungeduld mir am wenigsten verübeln.

Noch vor den Wahlen konstatierte Mehring, daß sich die Freisinnigen uns gegenüber freundlicher verhielten als sonst. Statt einen bürgerlichen Block gegen die Sozialdemokratie zu erwarten, rechnete er mit der Möglichkeit, den schwarzblauen Block durch den vereinten Ansturm der Linken in die Minderheit zu bringen.

Trotz aller Bedenken gegen die freisinnigen Führer hielt er doch (am 25. März 1911) ein Stichwahlbündnis zwischen Sozialdemokratie und Freisinn für ein Ereignis, das erfreulich wäre, aber freilich durch kein prinzipielles oder auch nur taktisches Zugeständnis erkauft werden dürfte. (Neue Zeit, XXIV., 1, S. 908)

Deshalb von der Leipziger Volkszeitung angegriffen, weil er von der Partei verlange, sie solle im „Eichhörnchentempo ihre Kampfstellung jedesmal den wandelnden Schattenspielen im Parlament anpassen“, erwiderte er am 1. April:

„Ueberall da, wo eine gegenseitige Stichwahlunterstützung zwischen Freisinn und Sozialdemokratie empfohlen wurde, ist die prinzipielle und taktische Selbständigkeit der Partei die selbstverständliche Voraussetzung gewesen, zumal auch in der Neuen Zeit. Wieso diese Selbständigkeit gefährdet werden soll durch ein ‚freisinnig-sozialdemokratisches Wahlbündnis‘, wenn wir im Jahre 1911 oder 1912 gegen den schwarzblauen Block tun, was wir im Jahre 1890 gegen das Kartell getan haben, das ist bisher das Geheimnis der Eichhörnchenpolitiker geblieben.

Ihre Behauptung, daß Bülowblock und schwarzblauer Block von ganz gleichem, reaktionärem Kaliber, daß es ganz gleich sei, ob dieser oder jener herrsche, ist schon deshalb unrichtig, weil der schwarzblaue Block der ungleich gefährlichere und stärkere Gegner ist, den es in erster Reihe niederzuzwingen gilt. Und so ganz nebensächlich ist es am Ende doch auch nicht, daß es unter den freisinnigen Philistern zu rumoren beginnt.“ (Neue Zeit, XXIX., 2, S. 3)

Wie weit dies „Rumoren“ vorhalten werde, das war freilich keineswegs eine ausgemachte Sache. Ich zweifelte immer noch, ob die liberale Courage die Feuerprobe eines großen sozialdemokratischen Wahlsiegs aushalten werde. Um so überraschter war ich, daß trotz des glänzenden Ausfalls der ersten Wahlen die Freisinnigen mehr wagten, als sie bisher gewagt, ein Stichwahlabkommen mit uns zu treffen, durch das sie den ganzen konservativen Zorn auf sich herabbeschworen. Und selbst nach den Wahlen, im Reichstag, während der ersten Sitzungen, gingen sogar nationalliberale soweit, von einem sozialdemokratischen Präsidenten keine höfischen Akte zu verlangen, für Scheidemann und selbst Bebel zu stimmen, der bei der Präsidentenwahl am 9. Februar 1912 in der Stichwahl 175 Stimmen erhielt, gegen 196, die auf Spahn entfielen.

Das waren ganz unerwartete Erscheinungen, die einer Untersuchung und Erklärung bedurften. Diese suchte ich zu geben in einem Artikel des Vorwärts vom 25. Februar 1912, betitelt: Der neue Liberalismus und der neue Mittelstand. Ich wies darin auf die wachsende Bedeutung des sogenannten „neuen“ Mittelstandes hin:

„Keine Bevölkerungsschicht nimmt in der modernen Gesellschaft so rasch zu wie diese. Seit 1882 betrug in Landwirtschaft, Industrie und Handel die Zahl der männlichen Erwerbstätigen:

Jahr

 

Selbständige

 

Angestellte

 

Arbeiter

Absolute
Zahl

Proz. der
Erwerbstätigen der
drei Berufsarten

Absolute
Zahl

Proz. der
Erwerbstätigen

Absolute
Zahl

Proz. der
Erwerbstätigen

1882

4.183.469

34,17

   295.957

2,42

  7.763.058

63,41

1895

4.405.039

31,33

   582.409

4,14

  9.071.858

64,53

1907

4.438.123

26,18

1.130.839

6,66

11.413.892

67,61

Während die Zahl der Selbständigen in dem betrachteten Zeitraum von 25 Jahren fast gleich blieb, vermehrten sich die männlichen Lohnarbeiter um ungefähr die Hälfte, die Zahl der Angestellten dagegen vervierfachte sich.

Am raschesten nahm ihre Zahl in der Industrie zu, am langsamsten in der Landwirtschaft. Man zählte männliche Angestellte in:

Jahr

 

Landwirtschaft

 

Handel

 

Industrie

Absolute
Zahl

Proz. der
Erwerbtätigen
des Berufs

Absolute
Zahl

Proz. der
Erwerbtätigen
des Berufs

Absolute
Zahl

Proz. der
Erwerbtätigen
des Berufs

1882

60.763

1,07

138.387

10,88

96.807

1,84

1895

78.066

1,41

249.920

14,21

254.421

3,76

1907

82548

1,56

426.220

16,74

622.071

6,80

Sie haben sich in der Industrie also binnen 25 Jahren mehr als versechsfacht.

Besonders stark sind sie in den größeren Städten. So zählen sie zum Beispiel in Prozent der Erwerbstätigen in Landwirtschaft, Industrie und Handel des Ortes:

Karlsruhe

 

17,71

Proz.

Stuttgart

18,07

 

Leipzig

17,86

Erfurt

17,12

Schöneberg

20,70

Im Durchschnitt machen die männlichen Angestellten in den Großstädten 13,75 Proz. der Erwerbstätigen der drei großen Erwerbsgruppen aus, soweit diese dort vertreten sind. Man findet sie also dort prozentual doppelt so stark, wie durchschnittlich im Reich (6,60 Proz.).

Ihr Einfluß als Wähler ist stärker, als diese Zahlen ausdrücken, da sie weit weniger Jugendliche unter sich zählen als die Lohnarbeiter. Von zehntausend männlichen Lohnarbeitern standen 1907 nur 5.889, von Zehntausend männlichen Angestellten dagegen 7.416 im wahlfähigen Alter.

in den Städten bedeuten die Angestellten also heute bereits einen sehr zahlreichen Faktor unter den Wählern, und einen, der rasch zunimmt. Von 1895–1907 wuchs ihre Zahl im Reich um rund 50.000 im Jahr, sie werden also seitdem um eine Viertelmillion zugenommen haben und rund 1½ Millionen ausmachen. Dazu kamen 1907 noch 705.882 männliche Intellektuelle im Staats- und Gemeindedienst und freien Berufsarten, die heute sicher mehr als 800.000 zählen, von denen über 600.000 im wahlfähigen Alter stehen werden. Können wir die Gesamtzahl der männlichen Erwerbstätigen dieser Schichten heute auf 2¼ Millionen veranschlagen, so werden unter ihnen vielleicht 1¾ Millionen Wähler sein, die fast ganz in den Städten konzentriert sind. In manchem städtischen Wahlkreis wird ihre Haltung entscheidend für die Wahl der Kandidaten: Ein sehr erheblicher politischer Faktor, der vor 25 Jahren noch ganz bedeutungslos war – wenigstens der Zahl nach.“

Ich untersuchte dann, inwieweit diese neue Schicht auf den Liberalismus einwirken könne, und kam zu dem Schlusse, vorübergehend könnte sie in ihm wohl radikalere Tendenzen einimpfen. Immer mehr aber teile sich der „neue Mittelstand“ in zwei Schichten, eine, die ganz kapitalistisch denkt, und eine, stets wachsende, die sich dem Proletariat und der Sozialdemokratie anschließt. Das Aufkommen dieser neuen Schicht mache für uns verstärkte Agitation unter dem proletarischen Teil, nicht aber eine Aenderung unserer Taktik nötig.

Man hat diesen Artikel dahin mißzuverstehen, als wollte ich ungemessene Hoffnungen auf den „neuen Liberalismus“ wecken. In Wirklichkeit habe ich wirklich vorgekommene Erscheinungen zu erklären und die Möglichkeiten, die sie in ihrem Schoße bergen konnten, zu erforschen gesucht. Ich habe ausgeführt, daß die anscheinende Radikalisierung des Liberalismus höchstens vorübergehend sein könne, daß sie uns aber auf jeden Fall auf eine wichtige Aufgabe aufmerksam macht: Die Agitation unter den Angestellten.

Es ist richtig, daß ich den „neuen Liberalismus“ als eine Erscheinung betrachtete, die nicht einfach mit ein paar Schlagworten abzutun, sondern zu beobachten und zu studieren sei. Aber darin sehe ich eben eine der Aufgaben unserer Theorie, die Wandlungen in der Lage und Zusammensetzung der Klassen und deren Rückwirkung auf die Parteien zu verfolgen.

Und auch jetzt noch halte ich es für geboten, die Einwirkungen des „neuen Mittelstandes“, der selbständigen Intellektuellen und der Angestellten, auf den Liberalismus zu verfolgen.

Man hat höhnend darauf hingewiesen, daß die Liberalen im neuen Reichstage gleich bei der ersten Probe versagt haben. Ob man wirklich von einer Enttäuschung reden darf, hängt davon ab, was man von ihnen erwartete. Betrachtet man sie rein ideologisch und nicht materialistisch, untersucht man sie daraufhin, ob sie den Prinzipien der alten Demokratie entsprechen, dann wird man freilich enttäuscht sein. Aber welcher Marxist wird an sie diesen Maßstab anlegen? Die Frage ist die, ob und inwieweit die Interessen der Klassen, aus denen sie ihre Wähler ziehen, mit denen des Proletariats übereinstimmen, und ob und inwieweit sie die Interessen jener Klassen verraten.

Gewiß, die Liberalen haben beim Kampf gegen den Militarismus versagt. Aber das war von vornherein nicht anders zu erwarten, auch wenn der „neue Mittelstand“ sie beeinflußte.

In meinem Artikel über den neuen Liberalismus und den neuen Mittelstand wies ich ausdrücklich darauf hin, wie sehr ein großer Teil des neuen Mittelstandes am Imperialismus interessiert sei, „ebenso wie etwa die Panzerplattenfabrikanten“. Gerade unsere Haltung gegenüber dem Imperialismus und Militarismus hält viele der „Kopfarbeiter“ von uns fern, die sonst, wie Hildebrand, mit unserem Programm einverstanden wären.

Was jedoch die mit dem Proletariat sympathisierenden, ihm nahestehenden Teile des neuen Mittelstandes an unserer Partei anzieht, das ist unsere Haltung in Steuer-, in Zollfragen, in Fragen des Arbeiterschutzes und der politischen Rechte. Und da haben die Liberalen bei der einzigen Probe, vor die sie bisher gestellt wurden, bei der Deckungsfrage, einigermaßen standgehalten. Sie haben da die kapitalistischen Interessen weniger schroff vertreten als der blauschwarze Block.

Sicher werden das die kapitalistischen Elemente im Liberalismus auf die Dauer nicht ruhig hinnehmen, und sie werden sich selbst bei der Volkspartei stärker erweisen als der neue Mittelstand. Aber wie dem auch sein möge, auf jeden Fall ist der neue Mittelstand ein neuer politischer Faktor, der von großer Bedeutung werden kann, den zu studieren höchst wichtig, der aber so mannigfaltige Interessen in seinem Schoße birgt, daß sein Verhalten nicht mit Sicherheit vorauszusehen ist.

Gleiche Unsicherheit bietet ein zweiter Faktor, der sich in den letzten Jahren infolge der Teuernug in stärkerem Maße als sonst in Westeuropa bemerkbar gemacht hat: Unruhen der nicht organisierten Massen, die 1910 in Deutschland (Moabit), 1911 in Oesterreich, Frankreich, England ausbrachen.

Es ist eines der Verdienste der Luxemburgschen Broschüre über den Massenstreik, auf die Bedeutung hingewiesen zu haben, die unter Umständen die Aktionen unorganisierter Massen gewinnen können. Gewiß übertrieb sie, indem sie den russischen Erfahrungen ohne weiteres Gültigkeit auch für Westeuropa zuschrieb. Tatsache aber ist, daß bei den früheren Untersuchungen über den Massenstreik überwiegend nur die organisierte Aktion ins Auge gefaßt worden war. Es blieb noch zu untersuchen, was wir in Westeuropa von den Aktionen unorganisierter Massen zu erwarten hätten.

Jene Unruhen gaben mir Veranlassung zu einem Versuch, diese Lücke in der Erforschung des Massenstreiks auszufüllen. Es geschah das in der nachfolgenden Artikelserie, die in der Neuen Zeit im Oktober 1911 unter dem Titel Die Aktion der Masse, erschien. (XXX. Jahrg. 1. Bd., Heft 2, 3 und 4)


Zuletzt aktualisiert am: 10.9.2011