Karl Kautsky

Wie der Weltkrieg entstand


5. Die Balkankrisen


Die erste der frivolen Gefährdtmgen des Weltfriedens durch Österreich geschah im Herbst 1908, als es ohne Not die von ihm bis dahin seit 1878 für die Türkei verwalteten Gebiete, Bosnien und die Herzegowina annektierte, unter schamlosem Vertragsbruch gegenüber der Türkei und unter grober Verletzung des nationalen Empfindens der Südslawen, die jene Behandlung der Bosnier als einfache Besitzgegenstände, die nach Belieben getauscht oder geraubt werden durften, aufs äußerste erbittern mußte. Die Gefahr eines Weltkrieges wurde damals dadurch heraufbeschworen, daß Rußland sich auf dem Balkan zurückgedrängt sah, wenn es keine Kompensation erhielt. Doch auch bei den übrigen Staaten Europas, namentlich bei England, rief die freche Zerreißung des Vertrages von 1878 die lebhaftesten Proteste hervor. Österreich hätte klein beigeben müssen, wäre ihm das Deutsche Reich nicht zur Seite gestanden.

Diese Haltung legte bereits den Grund zum späteren Weltkrieg, trotzdem haben deutsche Politiker sie noch während dieses verteidigt, freilich noch vor dem Zusammenbruch. Fürst Bülow rühmt sich in seinem bereits zitierten Buche über Deutsche Politik seiner damaligen Haftung:

„Ich ließ in meinen Reichstagsreden wie in meinen Weisungen an unsere Vertreter im Auslande keinen Zweifel, daß Deutschland entschlossen sei, in Nibelungentreue und unter allen Umständen am Bündnis mit Österreich-Ungarn festzuhalten. Das deutsche Schwert war in die Wagschale der europäischen Entscheidung geworfen, unmittelbar für unseren österreichisch-ungarischen Bundesgenossen, mittelbar für die Erhaltung des europäiscfien Friedens und vor allem und in erster Linie für das deutsche Ansehen und die deutsche Weltstellung.“ (S.60.)

Das war also die Methode, mit der das alte Regime den Frieden zu erhalten suchte; es sah seine Aufgabe nicht darin, frivole Provokationen des Bundesgenossen zu verhindern, sondern darin, für ihn das deutsche Schwert in die Wagschale zu werfen. Und dadurch, wie durch Gutheißung des Vertragsbruches glaubte es für „das deutsche Ansehen“ in der Welt zu wirken!

Noch entzückter äußert sich Hashagen in seinem Büchlein über Umrisse der Weltpolitik, das im gleichen Jahre wie Bülows Buch erschien:

„Für die Festigung des beiderseitigen Bündnisses ist es ein unschätzbarer Vorteil, daß die Annexion Bosniens und der Herzegowina bald eine so gewaltige internationale Hetze nicht nur gegen Österreich-Ungarn, sondern auch gegen Deutschland entfesselt. Erst diese Hetze hat die beiden Bundesgenossen in ein völlig unauflösliches Verhältnis zueinander gebracht.“ (II, S.6.)

In der Tat, welch sinnreiche Politik, die in dem Entfesseln einer gewaltigen internationalen Hetze gegen sich selbst einen unschätzbaren Vorteil deshalb erblickt, weil dadurch Deutschland vollkommen der Gefangene des innerlich völlig bankerotten Österreich wurde!

Das „deutsche Schwert“ hat 1908 und 1909 den Weltfrieden deshalb erhalten, weil Rußland die Demütigung, die damals Serbien und damit ihm selbst zugefügt wurde, ruhig hinnehmen mußte. Denn noch blutete es aus allen Wunden, nach der Niederlage im Kriege mit Japan und nach der Revolution,

Serbien mußte am 31. März 1909 in einer demütigen Note geloben, daß es sich bessern und auf seine Politik des Protestes gegen die Annexion verzichten werde,

Aber natürlich gab sich Rußland auf dem Balkan nicht endgültig geschlagen. Das isolierte Serbien hatte vor Österreich zurückweichen müssen. Der russischen Staatskunst gelang es jetzt, ein Bündnis zwischen den Regierimgen des Balkan zustande zu bringen. Eine Föderation der Balkanvölker in einer gemeinsamen Republik war seit Jahren die Forderung der südslawischen Sozialisten, Sie bot die beste Möglichkeit, den Völkern des Balkan die größte Selbständigkeit gegenüber der Türkei und Österreich, wie auch Rußland zu sichern. Der russischen Politik war an der Herstellung eines solchen Gebildes natürlich nicht das mindeste gelegen.

Im Gegenteil. Wie so oft, verstand sie es aber auch diesmal, die Kraft für sich auszunutzen, die einer in der Richtung der notwendigen Entwicklung wirkenden Idee entspringt, Sie schuf einen Bund nicht der Balkanvölker, wohl aber der Balkanfürsten, mit dem Ziele, der Herrschaft der Türken in Europa ein Ende zu machen.

Im Oktober 1912 kommt es zum Kriege der Verbündeten, Serbiens, Bulgariens, Griechenlands, Montenegros gegen die Türkei, Diese wird leicht geschlagen, und die Mächte Europas finden sich damit ab, daß die Sieger die Beute unter sich teilen unter der Parole: der Balkan den Balkanvölkern.

So scheint trotz des südöstlichen Wetterwinkels der Weltfriede erhalten zu bleiben. Da tritt wieder Österreich auf den Plan und gefährdet ihn, indem es abermals dem verhaßten Serbien einen Fußtritt versetzt, es zwingt, auf den Zugang zum Adriatischen Meer zu verzichten, den es sich erstritten hat.

Diesmal wird es ernsthafter als 1908.

Österreich wie Rußland mobilisieren im Februar 1913. Doch die Mobilisierung bedeutet nur die Vorbereitung zum Kriege, nicht den Krieg selbst. England vermittelt, und Rußland gibt abermals nach. So wird die Mobilisierung wieder zurückgenommen im März. Der Friede bleibt erhalten. Aber auf Kosten Serbiens und damit seines Protektors Rußland. Serbien muß auf den Zugang zur Adria verzichten.

Auf diese Weise ist eine neue gefährliche Spannung geschaffen, Serbien sucht sich schadlos zu halten auf Kosten Bulgariens in Mazedonien. Es findet Bundesgenossen in Griechenland und Rumänien. Ihrem vereinten Vorgehen gelingt es, Bulgarien niederzuwerfen und zu verkleinern.

Doch auch diesmal noch bleibt der Weltfriede gewahrt. Europa hütet sich zu intervenieren. So kommt es am 10. August 1913 zum Frieden von Bukarest. Man hofft, daß nun der Balkan zur Ruhe kommt und damit der Friede der Welt für langehin gesichert sei – just ein Jahr vor Beginn des Weltkrieges!

Österreich freilich gefiel der Bukarester Friede nicht. Es verlangte von Italien die Genehmigung zu einer „vorbeugenden Defensivaktion“ gegen Serbien. Italien erstickte die Idee im Keime.

Man darf mit Fürst Lichnowsky annehmen, daß Marquis San Giuliano, der den Plan eine „pericolosissima aventura“ – ein höchst gefährliches Abenteuer – nannte, uns davor bewahrt hat, schon im Sommer 1913 in einen Weltkrieg verwickelt zu werden. Doch auch bei der deutschen Regierung fand Österreich in diesem Falle keine Gegenliebe. Man vergesse nicht, daß in Rumänien ein Hohenzoller herrschte. Deutschland schützte daher zunächst den Bukarester Vertrag. Darauf bezieht sich wohl die Bemerkung über „die Eingenommenheit dieses hohen Herrn (Wilhelm) für Serbien“ in der dem österreichischen Kaiser überreichten Denkschrift Tiszas vom 1. Juli 1914. (Österreichisches Rotbuch zur Vorgeschichte des Krieges, 1919, I, S.18.)

Doch die Regierer Österreichs beruhigten sich nicht. Sie bohrten unablässig an dem durch den Bukarester Frieden geschaffenen Zustand, und es gelang ihnen schließlich, Deutschland herumzukriegen. Während so die beiden Verbündeten eine Politik vorbereiteten, die im Weltkriege enden sollte, verstanden sie es aufs trefflichste, ihm dadurch zu präludieren, daß sie sich nicht nur um alle Allianzen mit den Regierungen, sondern auch um alle Sympathien bei den Völkern brachten, Österreich-Ungarn bekämpfte die auf größere Freiheit gerichteten Bestrebungen in Kroatien und Bosnien nicht nur mit einem Schreckensregiment, sondern auch mit Prozessen und mit einer Propaganda, die so skrupellos und dabei so tmsagbar dumm geführt wurde, daß sie sich nachweisen lassen mußte, namentlich im Prozeß Friedjung 1909, sie arbeite mit Dokumenten, die gefälscht waren, und obendrein in der österreichischen Gesandtschaft in Belgrad gefälscht, unter der Ägide des Grafen Forgach, der 1914 am Ulimatum an Serbien und damit an der Entfesselung des Weltkrieges verhängnisvoll beteiligt sein sollte. Aber noch schlimmer waren die „moralischen Eroberungen“, die Deutschland unmittelbar vor dem Kriege in der Welt durch die Zaberner Affäre vom November 1913 machte, die deutlich bewies, daß im Deutschen Reich die Zivilbevölkerung dem Militär gegenüber vogelfrei sei und dieses die Zivilregierung völlig beherrsche.

Um die Jahrhundertwende hatte wohl die Dreyfus-Affäre gezeigt, daß der französische Militarismus an Bedenkenlosigkeit und Anmaßung auch Hervorragendes leistet. Aber diese Affäre hatte nach hartem Kampfe mit dem Sieg der Zivilregierung geendet, indes in Deutschland die Zaberner Affäre mit der Unterwerfung der Zivilbehörden abschloß.

Überdies aber hatte diese Affäre den Erfolg, von neuem wieder die Wunde Elsaß-Lothringens in Frankreich aufzureißen, die begonnen hatte zu vernarben. So gingen Deutschland und Österreich dem Weltkriege entgegen, beladen mit dem Weltruf der Lüge, der Fälschung, der Gewalttätigkeit, der Diktatur des Säbels, der Rechtlosigkeit der annektierten Provinzen.


Zuletzt aktualisiert am: 25.11.2008