Karl Kautsky

Wie der Weltkrieg entstand


9. Wilhelms monarchisches Bewußtsein


Hatte in der Denkschrift, die noch vor dem Attentat fertiggestellt worden war, Rumänien die Hauptsorge für Österreich gebildet, so trat jetzt wieder Serbien in die erste Linie. Der Text, der von Serbien nur nebenher gesprochen, bekam jetzt ein Postskriptum, in dem es hieß:

„Die vorliegende Denkschrift war eben fertiggestellt, als die furchtbaren Ereignisse von Serajewo eintraten.

Die ganze Tragweite der ruchlosen Mordtat läßt sich heute kaum überblicken. Jedenfalls ist aber, wenn es dessen noch bedurft hätte, hierdurch der unzweifelhafte Beweis für die Unüberbrückbarkeit des Gegensatzes zwischen der Monarchie und Serbien, sowie für die Gefährlichkeit und Intensität der vor nichts zurückschreckenden großserbischen Bewegung erbracht worden ...

Um so gebieterischer tritt an die Monarchie die Notwendigkeit heran, mit entschlossener Hand die Fäden zu zerreißen, die ihre Gegner zu einem Netze über ihrem Haupte verdichten wollen.“

Mit anderen Worten: Österreich oder vielmehr Graf Berchtold und seine Leute waren entschlossen zum Kriege gegen Serbien und, wenn es sein mußte, gegen Rußland.

Wie stellte sich dazu die deutsche Regierung? Das ist bisher nicht ganz klar gewesen. Ließ sie sich von Österreich mitschleppen, ohne recht zu wissen, was sie beging, oder tat sie freudig, energisch, vollbewußt mit?

Ihre Stellung zur österreichischen Balkanpolitik wurde durch das Attentat von Serajewo wesentlich veränder;.

Als Rumänien im Bund mit Serbien in den zweiten Balkankrieg 1913 eintrat, fand der Hohenzoller Carol die Rückendeckung des Hohenzollern Wilhelm gegen den Habsburger. In jenem Stadium mahnte Berlin Wien zur Zurückhaltung.

Noch am 2. Juli 1914 äußerte Berchtold zu Tschirschky:

„Deutschland habe damals, als Rumänien, ohne uns zu fragen, und gegen unser ihm wohl bekanntes Interesse gemeinsam mit Serbien über das wehrlose Bulgarien hergefallen sei, Rumänien gedeckt und uns zu verstehen gegeben, daß wir uns ruhig verhalten sollen.“ (Rotbuch 1919, I, 19.)

Nach Serajewo galt der Zorn Osterreichs nicht mehr Rumänien und Serbien vereint, er konzentrierte sich ganz auf letzteres. Und die serbische Regierung, obwohl eine monarchische, galt in Wilhelms Augen nun als die Förderin und Urheberin von Monarchenmorden. Sein dynastisches Bewußtsein, das Österreich Rumänien gegenüber zurückgehalten hatte, wurde den Serben gegenüber jetzt zu einer geradezu vorwärts drängenden Triebkraft. Nicht nur monarchische Prinzipien, sondern auch persönliche Furcht waren dabei beteiligt. Ließ er doch am 2. Juli den geplanten Kondolenzbesuch in Wien absagen, weil Winke aus Serajewo ihn befürchten ließen, in der österreichischen Kaiserstadt harre seiner eine Rotte serbischer Mordbuben.

Ohne jede Überlegung war er sofort, nachdem er vom Attentat erfahren, derselben Meinung, die Franz Joseph damals in seinem Handschreiben an Wilhelm ausdrückt, das dieser am 5. Juli erhielt. Es verkündete bereits:

„Das Bestreben meiner Regierung muß in Zukunft auf die Isolierung und Verkleinerung Serbiens gerichtet sein.“

Und es schloß mit den Worten:

„Auch Du wirst nach dem jüngsten, furchtbarsten Geschehnisse in Bosnien die Überzeugung haben, daß an eine Versöhnung des Gegensatzes, welcher Serbien von uns trennt, nicht mehr zu denken ist, und daß die erhaltende Friedenspolitik aller europäischen Monarchen bedroht sein wird, solange dieser Herd von verbrecherischer Agitation in Belgrad ungestraft fortlebt.“

Ehe noch dieses Handschreiben nach Potsdam gelangt war, hatte sich Wilhelm ohne Rücksicht auf die Konsequenzen bereits entschieden, daß Serbien niederzuwerfen sei. Sein monarchisches Bewußtsein war durch die Schüsse von Serajewo zu tobendem Drang nach Blutrache an dem Mördervolk entzündet. Fürst Lichnowsky war in den Tagen nach dem Attentat in Berlin. Er berichtet über eine Unterredung mit Zimmermann, der damals den abwesenden Jagow vertrat:

„Aus seinen Worten ging eine unverkennbare Mißstimmung gegen Rußland hervor, das uns überall im Wege sei ... Daß General v. Moltke zum Kriege drängte, wurde mir natürlich nicht gesagt. Ich erfuhr aber, daß Herr v. Tschirschky einen Verweis erhalten, weil er berichtete, er habe in Wien Serbien gegenüber zur Mäßigung geraten.“ (Meine Londoner Mission, S.27.)

Lichnowskys Mitteilungen finden ihre Bestätigung in den Akten des Berliner Auswärtigen Amtes. Wir geben einen Bericht wieder, den Tschirschky am 30. Juni an den Reichskanzler richtete. Er bekommt Wichtigkeit durch die Randglossen des Kaisers, die wir in Klammern, mit einem W. gezeichnet, anführen:

„Graf Berchtold sagte mir heute, alles deute darauf hin, daß die Fäden der Verschwörung, der der Erzherzog zum Opfer gefallen sei, in Belgrad zusammenliefen. Die Sache sei so wohl durchdacht worden, daß man absichtlich ganz jugendliche Leute zur Ausführung des Verbrechens ausgesucht habe, gegen die nur mildere Strafen verhängt werden können (hoffentlich nicht! W.) Der Minister sprach sich sehr bitter über die serbischen Anzettelungen aus.

„Hier höre ich, auch bei ernsten Leuten, vielfach den Wunsch, es müsse einmal gründlich mit den Serben abgerechnet werden. (Jetzt oder nie. W.) Man müsse den Serben zunächst eine Reihe von Forderungen stellen und, falls sie diese nicht akzeptierten, energisch vorgehen. Ich benutze jeden solchen Anlaß, um ruhig, aber sehr nachdrücklich und ernst vor übereilten Schritten zu warnen. (Wer hat ihn dazu ermächtigt? Das ist sehr dumm! geht ihn gar nichts an, da es lediglich Österreichs Sache ist, was es hierauf zu tun gedenkt. Nachher heißt es dann, wenn es schief geht: Deutschland hat nicht gewollt!! Tschirschky soll den Unsinn gefälligst lassen! Mit den Serben muß aufgeräumt werden und zwar bald. W.)

Vor allem müsse man sich erst klar darüber werden, was man wolle, denn ich hörte bisher nur ganz unklare Gefühlsäußerungen. Dann solle man die Chancen irgendeiner Aktion sorgfältig erwägen und sich vor Augen halten, daß Österreich-Ungarn nicht allein in der Welt stehe, daß es Pflicht sei, neben der Rücksicht auf seine Bundesgenossen die europäische Gesamtlage in Rechnung zu ziehen und speziell sich die Haltung Italiens und Rumäniens in allen Serbien betreffenden Fragen vor Augen zu halten. (Versteht sich alles von selbst und sind Binsenwahrheiten. W.)“

Das Schriftstück gelangte vom Kaiser am 4. Juli ans Auswärtige Amt zurück. Also schon damals, ehe noch von Österreich aus die geringste Forderung gestellt worden war, stand es bei Wilhelm fest: „Mit den Serben muß aufgeräumt werden und zwar bald“. Die durch das Gooß’sche Buch sehr gestützte Auffassung, als sei Deutschland in der serbischen Krise rein nur im Schlepptau Österreichs gewesen, dem es zuviel vertraute, ist gänzlich hinfällig.


Zuletzt aktualisiert am: 25.11.2008