Karl Kautsky

Wie der Weltkrieg entstand


19. Die Kriegserklärung an Belgien


Die politische Verfehltheit des Wortbruchs

Noch eine harte Nuß blieb dem Reichskanzler zu knacken, die die militärischen Stellen von ihm verlangten: Die Begründung des Einfalls in Belgien.

Dieser Einfall war ebenso wie der Krieg gegen Frankreich beschlossene Sache, sobald die Feindseligkeiten gegen Rußland ausgebrochen waren.

Im Jahre 1871 hatte Deutschland Elsaß-Lothringen annektiert, nicht, um die Bevölkerung dieser Gebiete zu befreien. Sie wehrte sich vielmehr verzweifelt gegen ihre Losreißung von Frankreich, Nicht aus nationalen, sondern aus strategischen Gründen hatte Bismarck sie gefordert, um eine bessere strategische Grenze gegen Frankreich zu bekommen, um bei einem künftigen Kriege Paris näher zu sein und es rascher bedrohen zu können als es 1870 beim Ausbruch des Krieges der Fall gewesen war.

Um dieses militärischen Vorteils willen hatte Deutschland damals seine internationale politische Position unendlich verschlechtert, hatte es ewige Feindschaft zwischen sich und Frankreich gesetzt, dieses in Rußlands Arme gedrängt, Wettrüsten und ständige Kriegsgefahr über Europa heraufbeschworen und den Keim zu jener ungünstigen Situation gelegt, in der das Deutsche Reich 1914 in den Weltkrieg ging.

Das alles um eines strategischen Vorteils willen, der sich bald als völlig nichtig herausstellen sollte. Denn im Zeitalter der modernen Technik gibt es keine natürliche strategische Grenze, deren Nachteile nicht ein reicher, ökonomisch und technisch hochentwickelter Staat durch künstliche Maßnahmen wettmachen könnte.

Die neue deutsch-französische Grenze wurde so formidabel ausgebaut, daß für eine deutsche Armee keine Rede davon sein konnte, hier rasch durchzukommen. Und doch erschien das notwendig bei einem Kriege Deutschlands gegen zwei Fronten, wenn es galt, schleunigst Frankreich zu erledigen, um sich dann mit voller Kraft auf Rußland allein werfen zu können.

An der elsässischen Front erschien der rasche Durchbruch nicht möglich. Um so mehr lockte die französische Nordgrenzc. Merkwürdigenvseise hatten die Franzosen bloß die elsässische Grenze aufs stärkste ausgebaut. Dagegen fühlten sie sich durch Belgien so gesichert, daß sie die Nordgrenze nur ungenügend befestigten. Und selbst im Juli 1914, als die Kriegsgefahr auftauchte, alle Welt rüstete und Truppen zusammenzog, richtete die franzosische Armee ihr Augenmerk vornehmlich nach Ost, nicht nach Nord.

Die Nordgrenze war Frankreichs schwache Seite. Wenn Deutschland dort überraschend einbrach, durfte es hoffen, mit wenigen kraftvollen Schlägen allen Widerstand niederzuwerfen, Paris zu besetzen und nicht nur dieses, sondern auch Calais, das Ausfallstor nach England.

Rein militärisch betrachtet war also der Durchbruch durch Belgien sicher geboten. Freilich hätte schon das Beispiel Elsaß-Lothringens zeigen können, wie schädlich es wirken kann, wenn militaristische Augenblickspolitik die Oberhand bekommt über eine weitschauende Völkerpolitik, die nicht bloß die militärischen, sondern auch die politischen uikI ökonomischen und überdem die moralischen Kräfteverhältnisse und Triebkräfte der Völker in Betracht zieht.

Die deutsche Politik war darauf ausgegangen, bei dem kriegerischen Austrag des Konfliktes der Zentralmächte mit Rußland und Frankreich Englands Neutralität und Italiens Mitwirkung zu gewinnen.

Beides war bereits fraglich geworden, aber noch nicht entschieden, als der Krieg ausbrach. Wohl hatte Sir Ed. Grey Deutschland gewarnt, aber anderseits hatte er Frankreich seine Unterstützung nicht mit voller Sicherheit in Aussicht stellen können, trotz aller Sympathien für die französische Sache. Man hat ihm diese Unsicherheit sehr verübelt, die einen haben darin Haltlosigkeit, die andern Zweideutigkeit gesehen. Seine Kritiker vergessen, daß er Minister eines parlamentarischen und demokratischen Landes und der Zustimmung der Bevölkerung keineswegs sicher war. Auch wenn er im Parlament eine Mehrheit für einen Krieg gegen Deutschland fand, so wäre dieser eine sehr zweifelhaftes Sache geworden, wenn die Masse der Arbeiter und der gerade in England sehr zahlreichen und einflußreichen bürgerlichen Pazifisten ihm energisch Widerstand geleistet hätte. Dagegen konnte für niemanden, der die Engländer nur einigermaßen kannte, ein Zweifel darüber bestehen, daß die große Mehrheit der Nation sich begeistert in den Krieg stürzte, sobald das waffengcwaltige flottenbauende Deutschland sich Belgiens bemächtigte und damit England direkt bedrohte.

In engster Abhängigkeit von England aber stand Italien. Daß es sich an die Seite der Zentralmächte stellte, war allerdings Anfang August nicht mehr zu erwarten.

Am 3. August sandte Herr von Kleist, der nach Rom in besonderer Mission entsandt war, von dort folgendes Telegramm nach Berlin „an des Kaisers Majestät“:

„Heute, Montag, 9 Uhr vormittag, überbrachte ich Ew. Majestät Auftrag an König von Italien, wonach sofortige Mobilmachung der Armee und Flotte sowie vertragsmäßig festgelegte Bundeshilfe gefordert wurde.

Der König erwiderte, daß er personlich mit ganzem Herzen bei uns sei und noch vor Wochen keinen Augenblicft zweifelte, daß bei Krieg Italien treu den Verbündeten helfen werde. Die für italienisches Volltsempfinden unglaubliche Ungeschicklichkeit Österreichs habe in den letzten Wochen öffentliche Meinung derart gegen Österreich aufgebracht, daß jetzt aktives Zusammengehen mit Österreich Sturm entfesseln würde. Einen Aufstand wolle Ministerium nicht riskieren. Er, der König habe leider keine Macht, nur Einfluß. Entließe er das jetzige Ministerium, werde kein anderes Verantwortung übernefimen. Alles hauptsächlich, weil Österreich sich nicht bereit fand, irgendeine bestimmte Versprechung für die Zukunft zu geben, wodurch vielleicht bisher ein Umschwung der Volksstimmung erreicht werden konnte. Ob dies jetzt noch möglich, sei sehr zweifelhaft.

Da Volk Unterschied nicht begreife, versage infolge österreichischer Ungeschicklichkeit leider auch Italien Deutschland gegenüber, was ihn, König, tief schmerze. Er werde nochmals seinen Einfluß auf Ministerium einsetzen und über Erfolg bescheiden.“

Am nächsten Tage hat Herr v. Kleist nichts Tröstlicheres zu melden:

„S.M. der König empfing mich heute vormittag und sagte:

„Trotz seiner gestrigen mehrfachen Bemühungen verbleibt Regierung auf ihrem Standpunkt der Neutralität. Aktive Hilfeleistung an Verbündeten würde Volk augenblicklich nur als Hilfe für Österreichs Vergrößerungspläne auf dem Balkan auffassen (Unser Kampf gegen Frankreich hat nichts damit zu tun. Es ficht doch auch an unserer und nicht Österreichs Seite, W.), da Österreich sich bisher nicht einmal definitiv verpflichtet habe, hierauf zu verzichten. Volk werde Deutschland stets mit Österreich zusammenwerfen (wenn die Regierung nichts dagegen tut , natürlich, aber unsinnig. W.), daher riskiere Regierung bei aktiver Hilfeleistung selbst für Deutschland im jetzigen Augenblick Aufstand (bestimmt gelogen, W.). Er, König, müsse wiederholen, daß er leider machtlos sei, da Regierungsansicht von Mehrzahl der Deputierten geteilt werde. Selbst soeben zurücltgekehrter dreibundfreundlicher (? ? W.) Giolitti habe Ansicht, daß casus foederis nicht vorläge, sondern Land Ruhe brauche, neutral bleiben müsse, da keine Verpflichtung zu aktiver Hilfeleistung vorliege. (Unerhörter Schuft! W.) ... Regierung beabsichtige, für alle Eventualitäten gerüstet zu sein. Auf meine Antwort, daß, da Eventualität der Hilfeleistung ausscheide, doch offenbar an aktive Bedrohung Österreichs gedacht werden müsse, eine andere Eventualität gebe es doch nicht, sagte König: man wisse nie, was die Männer der Regierung tun würden. (Also er scheidet ganz aus! W.) Für den Augenblick rechne der König damit, daß nichts geschähe.“

Die Titulierung Giolittis als „unerhörter Schuft“ wird fast noch übertroffen durch die Titulierung des Königs selbst, der am 3. August in einem Handschreiben dem deutschen Kaiser mitteilte, daß die italienische Regierung den casus foederis im eben ausgebrochenen Kriege nicht anerkenne. Unterschrieben war der Brief:

Dein Bruder und Verbündeter
Vittorio Emanuele.

Zum „Verbündeten“ fügte Wilhelm hinzu: „Frechheit“ und zum Namen des Königs das kleine aber vielsagende Wörtchen: „Schurke!“.

Auf Italiens tätige Mithilfe konnte am 3. August auch der leichtfertigste und unwissendste Optimist nicht mehr rechnen. Die Schlußbemerkungen Vittorio Emanueles ließen aber sogar befürchten, Italien könne aktiv gegen Österreich und Deutschland auftreten. Auf Italiens Haltung mußte die Stellungnahme Englands von größtem Einfluß werden, von dem es in so vielen Dingen abhing.

Dies war ein weiteres Moment, das veranlassen mußte, England durch die Besetzung Belgiens nicht zu reizen. Dazu gesellte sich die Erwägung, daß durch diese Besetzung das Ansehen Deutschlands in der ganzen Welt enorm leiden mußte. Denn die Neutralität Belgiens war nicht gewöhnlicher Art, wie etwa die Griechenlands, Sie war eine feierlich verbriefte und garantierte und Preußen eine der Garantiemächte. Mit seinem Einmarsch in Belgien beging es nicht bloß eine Verletzung der Neutralität, sondern einen Wortbruch.

Je größer das Vertrauen, das man früher zu dem gehegt hat, der sein Wort verpfändet, um so größer die Wut und die Mißachtung gegen ihn, wenn er es bricht. Die Belgier waren in ihrer Mehrzahl bis zum August 1914 Deutschland vertrauensvoll und freundschaftlich gegenüber gestanden. Nach dem Einbruch wurden sie seine wildesten Feinde.

Aber nicht nur in Belgien hat der Wortbruch, dem die Hinschlachtung tausender von Belgiern, die grauenhafte Verwüstung des ganzen Landes folgte, die tiefste Empörung hervorgerufen, sie erfaßte alle Länder der europäischen Kultur und raubte Deutschland die letzten Freunde, die es dort noch hatte.
 

Die Rechtfertigung des Wortbruchs.

So sehr der Einbruch in Belgien militärisch begreiflich war, so sehr war er nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch politisch völlig verfehlt.

Aber das Militär kommandierte, die Zivilpolitiker hatten zu gehorchen. Ihnen fiel nur das undankbare Amt zu, den Wortbruch vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen, Sie haben sich dabei geistig nicht angestrengt. Auch diesmal hielt man sich an die bequeme Schablone Berchtolds, die er Franz Josef gegenüber angewandt, die Vortäuschung feindlicher Handlungen der andern, durch die man zum Krieg gezwungen wurde.

Und im belgischen Falle hatte der Reichskanzler nur das edle Amt eines Briefträgers.

Am 29. Juli ging dem Auswärtigen Amt ein vom Generalstabschef Moltke selbst unter dem Datum 26. Juli geschriebener Entwurf eines Schreibeng an die belgische Regierung zu, das nach einigen redaktionellen Änderungen, die der Reichskanzler, sowie Stumm und Zimmermann vornahmen, von Jagow nicht an diese Regierung, sondern an den deutschen Gesandten in Brüssel am gleichen Tage gesandt wurde. Es lautete:

„Der Kaiserl. Regierung liegen zuverlässige Nachrichten vor über den beabsichtigten Aufmarsch französischer Streitkräfte an der Maas-Strecke Givet–Namur. Sie lassen keinen Zweifel über die Absicht Frankreichs (nach Vereinigung mit einem englischen Expeditionskorps) durch belgische Gebiete gegen Deutschland vorzugehen.

Die Kaiserl. Regierung kann sich der Besorgnis nicht erwehren, daß Belgien trotz besten Willens nicht imstande sein wird, ohne Hilfe einen französisch(englischen) Vormarsch mit so großer Aussicht auf Erfolg abzuwehren, daß darin eine ausreichende Sicherheit gegen die Bedrohung Deutschlands gefunden werden kann. Ee ist ein Gebot der Selbsterhaltung für Deutschland, dem feindlichen Angriff zuvorzukommen. Mit dem größten Bedauern würde es daher die deutsche Regierung erfüllen, wenn Belgien einen Akt der Feindseligkeit gegen sich darin erblicken würde, daß die Maßnahmen seiner Gegner Deutschland zwingen, zur Gegenwehr auch seinerseits belgisches Gebiet zu betreten. Um jede Mißdeutung auszuschließen, erklärt die Kaiserl, Regierung das folgende:

1. Deutschland beabsichtigt keinerlei Feindseligkeiten gegen Belgien. Ist Belgien gewillt, in dem bevorstehenden Kriege Deutschland gegenüber eine wohlwollende Neutralität einzunehmen, so verpflichtet sich die deutsche Regierung beim Friedensschluß nicht nur Besitzstand und Unabhängigkeit des Königreichs in vollem Umfang zu garantieren, sie ist sogar bereit, etwaigen territorialen Kompensationsansprüchen des Königreichs auf Kosten Frankreichs in wohlwollendster Weise entgegenzukommen.

2. Deutschland verpflichtet sich unter obiger Voraussetzung das Gebiet des Königreichs wieder zu räumen, sobald der Friede geschlossen ist,

3. Bei einer freundschaftlichen Haltung Belgiens ist Deutschland bereit, im Einvernehmen mit den königl. belgischen Behörden alle Bedürfnisse seiner Truppen gegen Barzahlung anzukaufen und jeden Schaden zu ersetzen, der etwa durch deutsche Truppen verursacht werden könnte.

Sollte Belgien den deutschen Truppen feindlich entgegentreten, insbesondere ihrem Vorgehen durch Widerstand der Maasbefestigungen oder durch Zerstörung von Eisenbahnen, Straßen, Tunneln, oder sonstigen Kunstbauten Schwierigkeiten bereiten, so wird Deutschland zu seinem Bedauern gezwungen sein, das Königreich als Feind zu betrachten. In diesem Falle würde Deutschland dem Königreich gegenüber keine Verpflichtungen übernehmen können, sondern müßte die spätere Regelung des Verhältnisses beider Staaten zueinander der Entscheidung dei Waffen überlassen.

Die Kaiserl. Regierung gibt sich der bestimmten Hoffnung hin, daß die Eventualität nicht antreten und daß die Königl. belgische Regierung die geeigneten Maßnahmen zu treffen wissen wird, um zu verhindern, daß Vorkommnisse, wie die vorstehend erwähnten, sich ereignen. In diesem Falle würden die freundschaftlichen Bande, die beide Nachbarstaaten verbinden, eine weitere und dauernde Festigung erfahren.“

An diesen Text schloß sich im Entwurf Moltkes folgender Passus an:

„Eine unzweideutige Antwort auf dies Schreiben muß innerhalb 24 Stunden nach Überreichung erfolgen, widrigenfalls die Feindseligkeiten sofort eröffnet werden.“

Dae erschien Jagow doch zu grob. Er strich diesen Satz in dem Schreiben an die belgische Regierung und setzte an seine Stelle folgende Weisung für den deutschen Gesandten in Brüssel:

„Ew. Hochwohlgeb. wollen umgehend der Königl. belgischen Regierung hiervon streng vertraulich Mitteilung machen und sie um Erteilung einer unzweideutigen Antwort binnen 24 Stunden ersuchen.

Von der Aufnahme, welche Ihre Eröffnungen finden werden und der definitiven Antwort der Kgl. belgischen Regierung wollen Ew. Hochwohlgeb. mir umgehend telegraphische Mitteilung zugehen lassen.“

Das Schriftstück des Herrn v. Moltke wurde, wie schon bemerkt, vom Auswärtigen Amt ohne weiteres akzeptiert und mit wenigen redaktionellen Ändenmgen abgesandt. Sie sind unbedeutender Art, bloß eine ist bemerkenswert. Der Generalstabschef ging offenbar von der Ansicht aus, daß England gleichzeitig mit Frankreich in den Krieg eintreten werde, daher sprach er von Nachrichten, die wie alle ähnlichen dieser Art, natürlich „keinen Zweifel lassen“ über die Absicht eines „französisch-englischen“ Vormarschs durch belgisches Gebiet. Das erschien dem Auswärtigen Amt doch zu gewagt. Noch hoffte es auf die Neutralität Englands, Stumm strich daher die in dem obigen Abdruck in Klammern gesetzten Worte und begnügte sich mit der „unzweifelhaften“ Feststellung der Absicht eines französischen Vormarsches durch Belgien, Es sind nur ein paar Wörtchen, um die es sich da haiwlelte, doch das Verfahren mit ihnen ist sehr lehrreich. Es zeigte, wie der Generalstab es verstand, Beschwerden über französische oder französisch-englische Feindseligkeiten, die den Krieg oder den Neutralitätsbruch unvermeidlich machten, auf Vorrat zu fabrizieren, ehe solche Feindseligkeiten auch nur möglich waren, um die Beschwerde dann vorzuzeigen, sobald man sie brauchte. Dieser Weg wurde in der Tat singeschlagen. Das am 26. Juli abgefaßte, am 29. redigierte und abgesandte Dokument wurde nicht sofort der Brüssler Regierung vorgelegt. Damals war die Welt noch nicht vorbereitet auf den französisch-deutschen Krieg.

Jagow schickte das Dokument in verschlossenem Couvert durch einen Feldjäger nach Brüssel an den deutschen Gesandten, Herrn v. Below-Saleske, mit folgendem Begleitschreiben:

„Die diesem Erlaß beigefügte Anlage ersuche ich Ew. Hochwohlgeb. ergebenst, sicher verschlossen aufzubewahren und erst zu eröffnen, wenn Sie telegraphisch von hier aus dazu angewiesen werden. Den Empfang dieses Erlasses und der Anlage wollen Sie mir telegraphisch bestätigen.“

Also die Not, die nach Bethmanns pathetischer Versicherung in seiner großen Kriegsrede vom 4. August kein Gebot kennt, sie wurde schon am 29. Juli wohl überlegt zurechtgemacht, und „sicher verschlossen“ auf Eis gelegt, damit man sie später hervorhole, wenn man ihrer bedurfte.

Das trat am 2. August ein. Da erst wurde es für den Generalstab dringend nötig, daß Deutschlands Sicherheit durch das beabsichtigte Eindringen der Franzosen in Belgien aufs äußerste bedroht wurde. Da telegraphierte Jagow an den Gesandten in Brüssel:

„Ew. Hochwohlgeb. wollen Anlage Erlasses Nr.88 sofort öffnen und darin enthaltene Weisung heute Abend acht Uhr deutscher Zeit ausführen. Jedoch sind in der Erklärung der Kaiserl. Regierung unter Nr.1 die Worte „nicht nur“ und der mit „sie ist sogar bereit“ beginnende Satz fortzulassen. (Die betreffenden Worte sind in der obigen Wiedergabe gesperrt. K.)

Auch ist die Antwort binnen 12 Stunden, nicht binnen 24 Stunden, also bis morgen früh 8 Uhr, zu verlangen. Bitte belgischer Regierung eindringlichst versichern, daß an Richtigkeit unserer Nachricht über französischen Plan trotz Versprechungen jeder Zweifel ausgeschlossen ist.

Belgische Antwort muß bis morgen nachmittag 2 Uhr deutscher Zeit hier vorliegen. Ew. Hochwohlgeb. wollen daher Antwort schleunig hierher drahten und sie außerdem unmittelbar nach Empfang durch Mitglied kaiserlicher Gesandtschaft, am besten wohl Militärattaché mit Automobil nach Aachen an General von Emmich, Union-Hotel, überwJtteln.

Dortige Regierung muß Eindruck erhalten, als seien Ihnen sämtliche Weisungen in dieser Angelegenheit erst heute zugegangen. Stelle ferner anheim, belgischen Regierung zu suggerieren, daß sie sich mit Truppen auf Antwerpen zurückziehen kann, und daß wir, falls dort erwünscht, Schutz Brüssels gegen innere Unruhen übernehmen könnten.“

Die Geschichte des Ulimatums an Belgien enthüllt deutlich den Mechanismus, mit dessen Hilfe die Begründungen der deutschen Kriegserklärungen in den ersten Augusttagen fertiggestellt wurden.

Wer sein Wirken verfolgt, muß „den Eindruck erhalten“, als seien „sämtliche“ Feststellungen der deutschen Regierung aus jenen Tagen um so mehr erlogen, je mehr sie durch die wiederholten Beteuerungen ihrer absoluten „Zuverlässigkeit“ und „Zweifelslosigkeit“ bekräftigt werden.

Es ist eine furchtbare Tragödie sittlichen Zusammenbruchs, die den Krieg einleitete.

Doch sollte dabei das Satyrspiel nicht fehlen.

Mit den „Ansammlungen“ französischer Truppen an der belgischen Grenze mochte man auf den naiven Deutschen Eindruck machen, dem der Kriegsrausch in den Augusttagen bereits die Sinne benebelte. Aber man wollte doch auch England davon überzeugen, daß man zum Einbruch in Belgien gezwungen sei. Dazu brauchte man stärkere Argumente, Wonach haschte man damals nicht I Die sagenhaften Flieger mußten auch da wieder aushelfen. Wie haben deo Text der deutschen Kriegserklärung an Frankreich bereits mitgeteilt. In ihr fällt es auf, daß sie betont, mehrere der Flieger hätten offenkundig die belgische Neutralität verletzt, indem sie belgisches Gebiet überflogen.

Daß diese unfaßbaren Flieger in England besonderen Eindruck machen würden, war indes nicht zu erwarten. Man mußte trachten, auf festen Boden ru kommen. Vielleicht brachte das Automobil, was der Flieger versagte.

Am 2. August telegraphierte der Regierungspräsident in Düsseldorf an den Reichskanzler:

„Landrat Geldern telegraphiert gestern, hiesiges Bataillon meldet, daß heute früh 80 französische Offiziere in preußischer Offiziersuniform mit 12 Autos Grenzüberschreitung nach hier bei Walbeck vergeblich versuchten. Auf Anfrage teilt Landrat ferner mit, Adjutant dortigen Bataillons meldet nachträglich, daß Meldung bezüglich der 80 französischen Offiziere in der Hauptsache bestätigt sei. Autos seien auf holländischem Gebiet zurückgeblieben. Ein Offizier, der vorgegangen war, sei vor bewaffnetem Widerstand zurückgegangen.“

Nehmen wir einen Moment an, die Meldung sei „in der Hauptsache“ richtig, nicht das Produkt der erhitzten Phantasie einiger aufgeregter Grenzwächter.

Dann lag vor allem eine Verletzung nicht der belgischen, sondern der holländischen Neutralität vor.

Weiter aber, was hatten nach der Meldung die Grenzwächter gesehen? 12 Autos mit 80 Insassen in preußischer Offiziersuniform. Einer von ihnen, der ausstieg und die Grenze überschritt, wurde merkwürdigerweise von den Grenzwächtern nicht gleich dem Hauptmann von Köpenick angesichts seiner Uniform mit Respekt, sondern mit bewaffnetem Widerstand empfangen. Dabei sahen die Wächter sofort, daß die achtzig Mann in den Automobilen ihre Uniform zu Unrecht trugen. Sie wußten aber auch ohne weitere Untersuchung, daß die verkleideten Leute nicht etwa Holländer waren, sondern Franzosen, ja französische Offiziere, die durch Belgien nach Holland und dann an die deutsche Grenze gefahren waren. Diese Herren hatten offenbar, um unauffällig durch Belgien und Holland durchzukommen, es vorgewogen, statt in Zivil zu reisen, preußische Uniform anzuziehen!

Die ganze Geschichte war ebenso sinnlos wie die am gleichen Tage berichtete von dem französischen Arzt, der mit zwei anderen Franzosen in Metz dabei ertappt wurde, wie er Brunnen mit Cholerabazillen infizierte. Man wagte später nicht mehr, von diesen Geschichten Gebrauch zu machen. Am 2. August aber brachte Jagow es fertig, sie nicht nur ernst zu nehmen, sondern sogar eine diplomatische Aktion daran zu knüpfen. Er telegraphierte die Historie von den Cholerabazillen nach Rom mit dem Auftrag, sie in der dortigen Presse zu verbreiten. Und an den Botschafter in London und die Gesandten in Brüssel und dem Haag sandte er folgende Depesche:

„Bitte dortiger Regierung ntitzoteiltn, daß heute früh 80 französische Offiziere in preußischer Offiziersuniform mit 12 Autos deutsche Grenze bei Walbecli westlich Geldern zn überschreiten verbuchten. Dies bedeutet denkbar schwerste Neutralitätsverletzung durch Frankreich.

Man mußte völlig den Kopf verloren haben, um sich in dieser Weise vor dem Ausland lächerlich zu machen.

Geldern liegt übrigens nahe bei Wesel, wo man den französischen Flieger heruntergeholt haben wollte. Das Militär in jener Grenzgegend scheint besonders schreckhaft und zur Gespensterseherei geneigt gewesen zu sein.

Noch weiter als Jagow ging dann der General Emmich. Er begründete den Einfall in Belgien mit einer Proklamation, in der es hieß:

„Unsere Truppen handelten unter dem Zwang einer unabweisbaren Notwendigkeit, da die belgische Neutralität durch französische Offiziere verletzt worden ist, die verkleidet das belgische Gebiet in Automobilen betreten haben, um nach Deutschland zu gelangen.“ (Zitiert von Dr. E.J. Gumbel in seiner Schrift: Vier Jahre Lüge, S.9.)

In seiner Kriegsrede vom 4. August schämte ach Bethmann Hollweg, von dieser albernen Begründung des Einfalls Gebrauch zu machen. Er gab zu, daß der Überfall über Belgien „den Geboten des Völkerrechts widerspricht“, sowie daß die franzosische Regierung in Brüssel erklärt hatte, die Neutralität Belgiens respektieren zu wollen, so lange sie der Gegner respektiere. Er vergaß, zu bemerken, daß Jagow es abgelehnt hatte, die gleiche Erklärung abzugeben. Er fuhr fort:

„Wir wußten aber, daß Frankreich zum Einfall bereit stand.“

Jawohl, wir wußten schon am 29. Juli, daß Frankreich am 1. August zum Einfall bereit stand.

„Frankreich konnte warten, wir aber nicht, und ein französiscfter Einfall in unsere Flanke am Unterrhein hätte verhängnisvoll werden können. So waren wir gezwungen, uns über die Proteste der luxemburgischen und belgischen Regierung hinwegzusetzen.“

Hier ist von bereits erfolgten Verletzungen der belgischen Neutralität keine Rede mehr. Der deutsche Einmarsch wird im Grunde nur noch damit begründet, daß „wir nicht warten können“, und das war auch der einzige Grund.

Mit Lüge und Perfidie wurde der Krieg im Anfang Juli eingeleitet, mit Lüge und Perfidie wurde er in den ersten Augustlagen begonnen. Letzteres war die unvermeidliche Konsequenz der Einleitung. Auch diesmal erwies es sich als der Fluch der bösen Tat, daß sie fortzeugend immer Böses gebären mußte, Regierung und Heeresleitung wurden die Lüge nicht mehr los, der sie sich einmal ergeben hatten, und sie mußten das Lügengebäude immer höher auftürmen, bis es am 9. November 1918 krachend zusammenbrach.


Zuletzt aktualisiert am: 26.11.2008