Karl Kautsky


Terrorismus und Kommunismus



8. Die Kommunisten an der Arbeit.

a) Expropriation und Organisation.

Der Weltkrieg brachte die Arbeiterklasse moralisch und intellektuell zurück nicht nur dadurch, daß er fast alle Schichten der Bevölkerung verrohte, daß er die unentwickeltsten Teile des Proletariats in den Vordergrund seiner Bewegung brachte, sowie endlich dadurch, daß er dessen Notlage unendlich steigerte und damit Verzweiflung an Stelle ruhigen Überlegens setzte. Er förderte primitive Anschauungen in ihr auch dadurch, daß er das militärische Denken stark entwickelte, jenes Denken, daß schon dem unwissenden, an der Oberfläche lebenden Menschen sehr nahe liegt, als sei die bloße Gewalt der entscheidende Faktor in der Weltgeschichte, als bedürfe man bloß der nötigen Kraft und Rücksichtslosigkeit, um alles durchzusetzen, was man wolle.

Marx und Engels haben diese Auffassung stets bekämpft. In seinem klassischen Buch über Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft handeln drei Kapitel ausschließlich von der „Gewaltstheorie“ (3. Aufl., S. 162–192). Diese Theorie ist durch und durch unmarxistisch. Engels scheute sich nicht, ihr auch dort entgegenzutreten, wo sie in revolutionärem Gewande erschien. Er war nicht der heute so vielfach verfochtenen Ansicht, man dürfe die Fehler einer Bewegung dann nicht aufzeigen, wenn es eine revolutionäre, proletarische Bewegung sei, denn das könne den revolutionären Elan schwächen.

Selbstverständlich darf man mit einzelnen Irrtümern und Dummheiten in einer Revolution nicht streng ins Gericht gehen. Die schwierigste historische Situation ist die einer Revolution, in der man vor ganz neuen und aufs höchste unübersichtlichen Situationen steht. Es wäre wohlfeiles Pharisäertum, wenn ein Beobachter in sicherer Stellung hinterdrein oder von der Ferne die Mißgriffe streng tadeln wollte, die von den Männern begangen wurden, die mitten im Kampfe standen, alle seine Lasten und Gefahren zu tragen hatten.

Wohl aber ist es dringend notwendig, Mißgriffe zu tadeln, die nicht aus gelegentlicher falscher oder unzulänglicher Information, sondern aus einer falschen prinzipiellen Auffassung stammen, die mit Notwendigkeit aus ihr hervorgehen. Sie können nur durch Überwindung dieser Auffassung vermieden werden, sie bedrohen jede künftige revolutionäre Bewegung, wenn man sie kritiklos passieren läßt oder sie gar beschönigt und verherrlicht – im vermeintlichen Interesse der Revolution.

Marx und Engels ließen sich an solcher notwendigen Kritik der Revolution durch ihr „vulkanisches, revolutionäres Temperament“ durchaus nicht hindern.

Das bezeugt unter anderen die Kritik, die Engels im Herbst 1873 im Leipziger Volksstaat an dem Aufstand übte, der nach der Proklamierung der Republik in Spanien am 5. Juli jenes Jahres ausbrach und am 26. Juli schon im wesentlichen niedergeschlagen war, mit einigen Ausnahmen. Das aufständische Cartagena hielt sich bis zum Januar 1874.

Also ehe noch die Erhebung vollständig erloschen war, veröffentlichte Engels bereits eine sehr scharfe Kritik an „dieser ganzen schmählichen Insurrektion ... der Mitwelt zum warnenden Exempel.“

Es geschah dies in der Artikelserie über Die Bakunisten an der Arbeit (Volksstaat, 31. Oktober, 2. und 5. November), neu abgedruckt 1894 in dem Heft Internationales aus dem Volksstaat, von Friedr. Engels (Berlin, Verlag „Vorwärts“). Wir empfehlen diese Schrift dem Studium aller, die sich mit dem Bolschewismus beschäftigen. Er wird dort in vielen Punkten vorausgeahnt, denn die Situation der spanischen Revolution bot manche Analogien zu der der heutigen Kommunisten.

Engels beginnt mit dem Hinweis darauf, daß in Spanien die Internationalisten in ihrer Mehrheit der Bakuninschen „Allianz“ angehörten und fährt fort:

„Als im Februar 1873 die Republik proklamiert wurde, kamen die spanischen Allianzisten in eine sehr schwierige Lage. Spanien ist ein in der Industrie so sehr zurückgebliebenes Land, daß dort von einer sofortigen vollständigen Emanzipation der Arbeiterklasse noch gar nicht die Rede sein kann. Ehe es dahin kommt, muß Spanien noch verschiedene Vorstufen der Entwicklung durchmachen vmd eine ganze Reihe von Hindernissen aus dem Wege räumen. Den Verlauf dieser Vorstufen in die kürzestmögliche Zeitdauer zusammenzubringen, diese Hindernisse rasch zu beseitigen – dazu bot die Republik die Gelegenheit. Diese Gelegenheit konnte aber nur benutzt werden durch tätiges politisches Eingreifen der spanischen Arbeiterklasse“ (S. 17, 18).

Das hätte jedoch geheißen, an den Wahlen zu den Cortes, der Nationalversammlung, und an der Tätigkeit in ihr teilnehmen. Die Bakunisten aber wollten die sofortige, vollständige Befreiung der Arbeiterklasse. Als Mittel dazu war bei dem damaligen Zustand Spaniens: die parlamentarische Demokratie absolut ungeeignet, so unentbehrlich sie war als Mittel zur Entwicklung und Reifung des Proletariats. Die Beteiligung an „irgendwelcher Wahl erschien ihnen als ein todeswürdiges Verbrechen“.

Was wollten sie aber an Stelle des Wahlkampfes setzen? Die Arbeiterräte als Mittel der „sofortigen, vollständigen Befreiung der Arbeiterklasse“ waren noch nicht erfunden. Die Bakunisten proklamierten den Generalstreik, die Auflösung Spaniens in zahllose kleine „Kantone“, damit von vornherein die Zersplitterung der Gesamtbewegung in eine Reihe von Lokalbewegungen und die Erklärung der „Revolution in Permanenz“.

Das Ende vom Lied war nicht bloß der Zusammenbruch der Bewegung, der Ruin der ganzen spanischen Internationale, sondern auch die „Verleugnung der von den Bakunisten bisher gepredigten Grundsätze“ (S. 32), die sie unter dem Drucke der Verhältnisse einen nach dem andern aufgeben mußten.

Ist es heute in Rußland anders?

Gewiß herrschte beim Ausbruch der jetzigen Revolution unter den Arbeitern Rußlands nicht der Anarchismus, sondern der Marxismus. Als sozialistische Theorie hat dieser nirgends so allgemeine Anerkennung gefunden, wie gerade dort.

Jahrzehntelang hatten die russischen Sozialisten aus der Not eine Tugend gemacht und im rückständigen Agrarcharakter ihres Landes einen Vorteil erblickt. Sie meinten, der Rest ihres dörflichen Bodenkommunismus mache es besonders leicht, dort den modernen Sozialismus aufzubauen.

Es war das große Verdienst der Marxisten in Rußland, geführt von Axelrod und Plechanoff, dieser Auffassung gegenüber sich zur Erkenntnis durchzuringen und sie in langen und mühsamen Kämpfen zur Geltung zu bringen, daß bei der unentwickelten Gestalt des russischen Proletariats und der russischen Gesellschaft überhaupt die unvermeidliche Revolution zunächst nur einen bürgerlichen Inhalt haben könne, wenn auch das Proletariat berufen sei, in ihr eine hervorragende Rolle zu spielen.

Diese Auffassung behauptete sich siegreich in der russischen sozialistischen Bewegung, so lange die Revolution nicht das Proletariat zur Macht brachte, die das Problem sofortiger Befreiung auf die Tagesordnung setzte, und so lange der Sozialismus nur getragen wurde von Intellektuellen und einer hochstehenden Arbeiterelite.

Der konsequente Marxismus wurde in eine ungemein schwierige Lage versetzt, als die Revolution die wirkliche große Masse des russischen Volkes in Bewegung setzte, die nur ihre Bedürfnisse, ihren Willen kannte und sich den Teufel darum scherte, ob das, was sie verlangte, unter den gegebenen Verhältnissen durchführbar und gesellschaftlich vorteilhaft sei oder nicht.

Bei den Bolschewiki hielt in dieser Situation ihr Marxismus nicht stand. Die Massenpsyche beherrschte sie, sie ließen sich von ihr tragen. Kein Zweifel, sie sind dadurch die Beherrscher Rußlands geworden. Eine andere Frage ist, was dabei am Ende herauskommt und heraus- kommen muß.

Indem sie den bloßen Willen der Massen zum Triebrad der Revolution machten, warfen, sie die Marxsche Denkweise über Bord, zu deren siegreichem Aufstieg sie früher selbst in hohem Grade beigetragen hatten. Mit ihrem wissenschaftlichen Gewissen und der Popularität des Namens Marx glaubten sie sich dadurch abzufinden, daß sie sich eines Marxschen Wortes bemächtigten, des Wortes von der „Diktatur des Proletariats“. Mit diesem Worte glaubten sie Absolution von allen Sünden wider den Geist des Marxismus zu gewinnen.

Die Revolution kam infolge des Krieges. Die Soldaten wurden es müde, weiter zu kämpfen. Die Bolschewiki machten sich zu den entschiedensten Vertretern der Abneigung gegen die Fortsetzung des Kampfes. Sie förderten die Auflösung der Armee mit allen Mitteln, unbekümmert darum, ob sie damit der deutschen Militärautokratie Vorschub leisteten oder nicht. Wenn dies nicht siegte und es daher zur deutschen Revolution kam, waren sie wahrlich nicht schuld daran.

Der völlige Zusammenbruch der Armee gab den unteren Klassen völligste Freiheit. Die Bauern verlangten nun danach, sofort die großen Güter zu zerschlagen und unter sich in Privateigentum zu verteilen. Daß die großen Güter der Bauernschaft zugeführt wurden, war unausbleiblich, aber systematisch angepackt hätte sich das in Formen vollziehen lassen, die die technischen Errungenschaften des Großbetriebs nicht verkürzten. Doch das hätte Zeit erfordert, und auch die Bauern wollten nicht warten.

Die Bolschewiki gewannen sie für sich, indem sie die Anarchie auf dem Lande herbeiführten, jeder Gemeinde freie Hand ließen, so daß die Zertrümmerung der Güter in den primitivsten Formen unter technischen Rückschritten und Vernichtung vieler Produktionsmittel vor sich ging. Dafür aber ließen die Bauern dem Bolschewismus freie Hand in den Städten, in denen er die Masse der Arbeiter ebenfalls dadurch gewann, daß er bloß ihren Willen und nicht auch die wirklichen Verhältnisse beachtete.

Das Proletariat hungerte, fühlte sich bedrückt und ausgebeutet, verlangte dringend nach sofortigem Abwerfen des kapitalistischen Jochs. Ihm den Willen zu tun, blieb keine Zeit zu Studien oder auch nur zu Überlegungen. Mit wenigen wuchtigen Schlägen wurde der Bau des russischen Kapitalismus in Trümmer geschlagen.

Die Ersetzung der kapitalistischen durch sozialistische Produktion umfaßt zwei Momente, sie ist einmal eine Eigentums- und dann eine Organisationsfrage. Sie erheischt die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und deren Übergang in gesellschaftliches Eigentum, in der Form von, staatlichem, kommunalem oder genossenschaftlichem Eigentum. Sie erheischt aber auch die Ersetzung der kapitalistischen durch eine gesellschaftliche Organisation des Betriebes und seiner Funktionen im ökonomischen Gesamtzusammenhang.

Von diesen beiden Umwandlungen ist die des Eigentums die einfachste. Nichts leichter, als einen Kapitalisten expropriieren. Das ist eine bloße Machtfrage und an keine sonstigen sozialen Voraussetzungen geknüpft. Lange, ehe es einen industriellen Kapitalismus gibt, schon in der Zeit bloßen Handels- und Wucherkapitals, finden wir solche Expropriierungen von Kaufleuten, Bankiers, Geldverleihern durch Feudalherren, Fürsten, mitunter durch die Volksmasse selbst. Im Mittelalter wurden nicht nur öfters die Juden expropriiert, sondern, trotz der Frömmigkeit der Zeit, gelegentlich auch ein Kirchen- oder Ordensschatz mit Beschlag belegt. So expropriierte Philipp IV. von Frankreich im Anfang des 14. Jahrhunderts den ungemein reichen Orden der Tempelherren. Ehe es noch einen modernen Sozialismus gab, sahen schon naive Gemüter im edlen Räuber, der den Reichen nahm, um den Armen zu geben, einen Wohltäter der Menschheit. Diese Art „Sozialismus“ durchzuführen, war höchst einfach. Es entsprach der „unentwickelten Gestalt“ des russischen Proletariats, daß Bakunin 1869, unmittelbar vor dem Kriege und der Kommune, in einem Aufruf an die russische Jugend diese auf den Weg hinwies, den der russische Räuberhauptmann Stenka Rasin ging, der 1667 eine Räuberbande bildete, mit der er vier Jahre lang in Südrußland hauste, bis sich die Regierung seiner bemächtigte und ihn tötete.

Nicht so einfach wie das Expropriieren, geht das Organisieren. Ein kapitalistischer Betrieb ist ein kunstvoller Organismus, der seinen Kopf in dem Kapitalisten oder dessen Stellvertreter findet. Will man den Kapitalismus aufheben, muß man einen Organismus schaffen, der imstande ist, ebensogut, ja noch besser, ohne den kapitalistischen Kopf zu funktionieren. Das ist nicht so einfach, wie das Vorgehen Philipps IV. oder Stenka Rasins, das erheischt eine Reihe von Vorbedingungen materieller und psychischer Art, eine hohe Entwicklung kapitalistischer Organisierung nicht nur der Produktion, sondern auch des Absatzes und der Rohstoffzufuhr, erfordert aber auch ein Proletariat, das sich seiner Pflichten nicht nur gegen seine nächsten Genossen, sondern gegen die gesamte Gesellschaft bewußt ist, das die Gewohnheiten freiwilliger Disziplin und der Selbstverwaltung durch langjähriges Wirken in Massenorganisationen erlangt hat, das endlich intelligent genug ist, das Mögliche vom Unmöglichen, den wissenschaftlich gebildeten, charaktervollen Leiter vom gewissenlosen, unwissenden Demagogen zu unterscheiden.

Wo diese Bedingungen nicht gegeben sind, kann der Kapitalismus nicht dauernd und mit Erfolg vom Sozialismus abgelöst werden. Und auch in jenen Gegenden und Industriezweigen, in denen diese Bedingungen bereits genügend hoch entwickelt sind, muß die sozialistische Organisation durch eingehende Erforschung der tatsächlichen Verhältnisse sorgfältig vorbereitet werden, denn die Formen, welche die neue Organisation jeweilig anzunehmen hat, sind nicht für alle Industriezweige, alle Länder, alle Zeiten von vornherein gegeben, sind nicht „fix und fertige Utopien“ oder ewige „Ideale“, sondern können unter Umständen sehr verschieden sein und müssen den jeweiligen Bedingungen aufs zweckmäßigste angepaßt werden, wenn sie erfolgreich wirken sollen.

Beide Momente der Sozialisierung, die Enteignung und die Neuorganisierung, müssen aber in engster Verbindung bleiben, wenn nicht an Stelle der bisherigen Produktion ein Chaos und schließlicher Stillstand eintreten soll. Ein Philipp IV. oder Stenka Rasin konnten sich auf bloßes Expropriieren beschränken, denn sie beabsichtigten nicht, eine neue Produktionsweise zu schaffen. Der Übergang zum Sozialismus ist auf diese einfache Weise nicht herzustellen.

Doch die Massen waren ungeduldig, sie wollten nicht warten. Um sie zu befriedigen, zerschnitten die Bolschewiki, als sie ans Ruder kamen, den Prozeß der Sozialisierung in zwei Teile, trennten seine beiden Momente, obwohl der eine ohne den andern nichts Lebensfähiges schaffen kann. Sie gingen zunächst nach Stenka Rasins bewährtem Muster vor und machten sich dann daran, die Organisation nachzuholen, so gut es ging. Was eng zusammengehörte und nur im Verein wirken konnte, wurde auseinandergerissen. Lenin selbst bekannte im April 1918 in seiner Schrift: Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht:

„Bisher standen an erster Stelle die Maßnahmen zur unmittelbaren Expropriation der Expropriateure. Jetzt stellt sich auf den ersten Plan die Organisation der Rechnungslegung und der Kontrolle in den Betrieben, in denen bereits die Kapitalisten expropriiert sind, und in allen übrigen Wirtschaftsbetrieben.“ (S. 14)

„Unsere Arbeit bei der unter Anleitung des Proletariats zu vollziehenden Organisierung der allgemeinen Rechnungslegung und Kontrolle über die Produktion und die Verteilung von Erzeugnissen ist hinter unserer Arbeit der unmittelbaren Expropriierung der Ausbeuter zurückgeblieben ... Mit der sozialistischen Umgestaltung auf diesen Gebieten sind wir sehr stark zurückgeblieben (und es sind sehr wesentliche Gebiete), und zwar sind wir darum zurückgeblieben, weil Rechnungslegung und Kontrolle überhaupt ungenügend organisiert sind.“ (S. 23)

Man expropriierte Betriebe und Industriezweige, ohne zu untersuchen, ob ihre sozialistische Organisation schon möglich sei. Auch auf Gebieten, wo eine solche Organisation möglich gewesen wäre, begnügte man sich zunächst mit der Expropriation, weil nur diese ohne Vorbereitungen durchführbar war und die Arbeiter nicht warten wollten.

Bald zeigten sich die Folgen. Das ökonomische Leben Rußlands ist darin zurückgeblieben, daß seine Industrie im Vergleich zur Landwirtschaft nur einen geringen Teil seiner Bevölkerung beschäftigt. Aber innerhalb dieser Industrie überwiegen die modernsten Formen des Riesenbetriebes. Sie waren weit über das Stadium der Pariser Industrie von 1871 hinausgewachsen. Für diese kam, soweit von Sozialisierung überhaupt gesprochen werden konnte, nur die Form der Produktivgenossenschaft in Frage. Die russischen Fabriken waren vielfach Riesenbetriebe, als das nächstliegende für sie nach dem Ausschalten des Kapitals erschien ihre Verstaatlichung.

In der Produktivgenossenschaft hängt das Einkommen des Arbeiters von seiner Arbeit und der seiner Genossen ab. Das Ausmaß dieses Einkommens wird durch die Menge der Produkte bestimmt, die sie zu Markte bringen. Sie selbst müssen für den Absatz sowie für den Bezug der Rohstoffe sorgen. In der verstaatlichten Fabrik bezogen die Arbeiter nach wie vor Lohn, nur nicht piehr von Kapitalisten, sondern vom Staat. Die Höhe ihres Einkommens hing weit weniger von dem Ausmaß ihrer produktiven Leistung, als von dem Ausmaß ihres Druckes auf die Staatsgewalt ab. Diese hatte auch den Absatz wie die Rohstoffversorgung zu bewerkstelligen.

Es hätte einer wohldisziplinierten und hochintelligenten Arbeiterschaft bedurft, die erkannte, in wie hohem Maße das gesellschaftliche Gedeihen und damit ihr eigenes von der Produktivität ihrer Arbeit ab-, hing, um unter diesen Umständen die Produktion erfolgreich in Gang zu halten. Auch mit einer solchen Arbeiterschaft dürfte man nur dann eine wirksame Produktion erwarten, wenn die nötigen organisatorischen Maßregeln getroffen wurden, die außer den Arbeitern auch der Staatsgewalt und den Konsumenten den nötigen Einfluß auf den einzelnen Betrieb und den ganzen Industriezweig gewährten, und wenn Antriebe zur Arbeit geschaffen würden, die die kapitalistische Antreiberei hinreichend ersetzten.

Jetzt fehlte nicht nur diese Organisation, auch der Arbeiterschaft „ fehlte die nötige Intelligenz und Disziplin, um so mehr, da der Krieg und seine Konsequenzen die bisher unwissendsten und unentwickeltsten Teile des Proletariats in wildeste Erregung versetzt hatte.

Wohl hat der russische Arbeiter aus seiner Dorfkommune ein hohes Solidaritätsgefühl übernommen, aber dessen Umfang ist ebenso beschränkt, wie die Dorfgemeinde selbst. Es bezieht sich bloß auf den kleinen Kreis seiner persönlichen Kameraden. Die große, gesellschaftliche Gesamtheit ist ihm gleichgültig. Die unerquicklichen Erscheinungen, die sich unter diesen Umständen bildeten, mußten die Bolschewiki selbst beklagen. Trotzki sagt in seiner Schrift, Arbeit, Disziplin und Ordnung werden die sozialistische Sowjet-Republik retten (S. 17):

„Die Revolution, die in dem Bedrücktesten die menschliche Persönlichkeit erweckte, hat natürlicherweise der ersten Zeit dieses Erwachens einen äußerlich, wenn Sie wollen, anarchischen Charakter verliehen. Dieses Erwachen der elementarsten Instinkte der Persönlichkeit hat nicht selten einen grob-egoistischen oder, um einen philosophischen Ausdruck zu gebrauchen, einen ‚egozentrischen Charakter‘ ... Er ist bestrebt, alles, was er kann, für sich zu nehmen, er denkt nur an sich und ist nicht geneigt, mit dem allgemeinen Klassenstandpunkt zu rechnen. Daher die Überflutung solcher Art desorganisatorischer Stimmungen und individualistischer, anarchischer und räuberischer Tendenzen, die wir besonders in den breiten Kreisen der deklassierten Elemente des Landes, in der Mitte der früheren Armee und dann unter gewissen Elementen der Arbeiterklasse beobachten.“

Das waren ganz andere Elemente als jene der Pariser Kommune, die ihren Lohn beschränken, um den Sozialismus zu fördern.

Wie sich unter diesen Umständen die Produktion in den expropriierten Betrieben gestaltete, ist klar. Man schraubte die Löhne so hoch, als es ging, und lieferte dafür ein Minimum von Arbeit. Um das zu erleichtern, wurde die Akkordarbeit abgeschafft. Da kam es zu Ergebnissen, wie in den Putiloffwerken in Petersburg, die in einem Zeitraum, in dem sie 96 Millionen Rubel Staatsunterstützung bezogen, ein Produkt im Gesamtwert von 15 Millionen lieferten.

Nur der schrankenloseste Gebrauch der Notenpresse ermöglichte es, den unvermeidlichen Bankerott dieser Wirtschaft etwas hinauszuschieben.

Wurde in den Fabriken wenig gearbeitet, so entzogen sich die Arbeiter erst recht den unangenehmen, schmutzigen, beschwerlichen Arbeiten.

Wie die Verrichtung dieser Arbeiten in einer sozialistischen Gesellschaft sicherzustellen sei, soweit sie unentbehrlich sind, das war ein Problem, das seit jeher die Sozialisten beschäftigt hat. Fourier glaubte es dadurch zu lösen, daß er die Beschäftigung mit dem Schmutz den „Schmutzfinken“ überließ, Jungens, die mit Vorliebe im Schmutze wühlten.

Diese humoristische Lösung genügte natürlich nicht. Die einzige, die mit den sozialistischen Grundsätzen vereinbar ist und Erfolg verheißt, ist wohl jene, die von der Technik verlangt, den mühseligen und abstoßenden oder ungesunden Arbeiten ihre schädlichen oder widerlichen Seiten zu nehmen. Solange das nicht erreicht ist, bleibt nichts anderes übrig, als diese Seiten durch besondere Vorteile wettzumachen, entweder außerordentlich hohe Löhne oder eine außerordentlich niedrige Arbeitszeit.

Eine neue Lösung fanden die Bolschewiki. Sie entsprach zwar nicht den sozialistischen Grundsätzen, wohl aber der „Massenpsyche“ erregter Arbeitermassen. Sie führten einfach die Arbeitspflicht ein. Jedoch nicht die Arbeitspflicht für die bisher als Lohnarbeiter tätigen. Wozu auch denen die Arbeitspflicht auferlegen, da unter dem Einfluß der neuen Verhältnisse eine Fabrik nach der andern wegen Mangel an Rohstoff oder an Heizmaterial oder wegen Transportschwierigkeiten den Betrieb einstellen mußte, so daß die Zahl der Arbeiter wuchs, die keine Arbeit fanden.

Nein, die Arbeitspflicht wurde nur denjenigen auferlegt, die man unter dem Vorwand, daß sie nicht arbeiteten, rechtlos gemacht hatte – den „Bourgeois“.

An Stelle der all gemeinen, „formalen“ Demokratie setzte ja die Räterepublik die proletarische Demokratie. Nur die Arbeitenden sollten politische Rechte haben, nur sie ausreichend genährt und staatlich geschützt sein. Die Drohnen sollten rechtlos sein.

Anscheinend ein ganz sozialistischer Gedanke, der nur einen kleinen Fehler hatte. Fast zwei Jahre besteht schon die Republik der Arbeiterräte, die nur den Arbeitern das Wahlrecht gibt, und bis heute ist noch nicht das Preisrätsel gelöst: Wer ist ein Arbeiter? Von verschiedenen Kommunisten bekommen wir darauf eine sehr verschiedene Antwort.

In ihrem Ausgangspunkt waren die Arbeiterräte nichts anderes als Vertretungen der Lohnarbeiter der großen Fabriken. Als solche bildeten sie bestimmte, wohl begrenzte Organisationen, die für die Revolution sehr wichtig wurden. Der „Rätegedanke“ ging nun dahin, die dem allgemeinen Wahlrecht entsprungene Nationalversammlung durch den Zentralrat der Arbeiterräte zu ersetzen. Doch wäre die Basis dieses Zentralrats zu schmal gewesen, wenn man sich auf die Arbeiterräte der großen Fabriken beschränkte. Sobald man aber über deren Kreis hinausging und gleichzeitig die „Bourgeois“ vom Wahlrecht ausschließen wollte, kam man ins Uferlose.

Die Abgrenzung des Bourgeois vom Arbeiter ist nirgends genau zu ziehen, ihr haftet stets etwas Willkürliches an, was den Rätegedanken sehr geeignet macht zur Grundlage für eine diktatorische Willkürherrschaft, aber sehr ungeeignet zum Aufbau einer klaren und systematisch aufgebauten Staatsverfassung.

Namentlich bei den Intellektuellen ist es vielfach ganz in das Belieben der Sowjetbehörde gelegt, ob sie zur Bourgeoisie gerechnet werden oder nicht, das gilt für ihr Wahlrecht, das gilt auch für ihre Verpflichtung zur Zwangsarbeit.

In der Sowjet-Republik wurden den „Bourgeois“ nicht bloß ihre Produktions- und Konsumtionsmittel ohne jede Entschädigung genommen, nicht bloß alle politischen Rechte, man unterwarf sie gleichzeitig – und nur sie, der Arbeitspflicht! Sie sind die einzigen in Rußland, die verpflichtet sind, zu arbeiten, und doch diejenigen, die entrechtet sind, weil sie nicht arbeiten! In die Kategorien der Arbeiter oder Bourgeois wird man in Sowjetrußland eben nicht eingereiht nach den Funktionen, die man augenblicklich versieht, sondern nach denen, die man vor der Revolution versah. Die Bourgeois erscheinen in der Sowjetrepublik als eine besondere Menschengattung, deren Kennzeichen unverwischbar sind. So wie ein Neger ein Neger bleibt, ein Mongole ein Mongole, wo immer er sich zeigen und wie er sich kleiden mag, so bleibt der Bourgeois ein Bourgeois, auch wenn er zum Bettler wird oder von seiner Arbeit lebt. Und wie lebt!

Die „Bourgois“ haben die Pflicht zu arbeiten, aber sie haben nicht das Recht, diejenige Arbeit zu suchen, die sie verstehen und die ihnen am besten entspricht. Sondern sie werden gezwungen, die schmutzigsten und widerlichsten Arbeiten zu verrichten. Und dafür erhalten sie nicht erhöhte, sondern die niedrigsten Rationen an Nahrung, die ihnen nicht einmal gestatten, ihren Hunger zu stillen. Ihre Lebensmittelrationen machen nur ein Viertel derjenigen der Soldaten und der von der Sowjetrepublik in ihren Fabriken unterhaltenen Arbeiter aus. Wo diese 1 Pfund Brot bekommen, fällt ihnen nur ¼ Pfund zu, wo diesen 16 Pfund Kartoffeln, ihnen nur 4 Pfund.

Aus diesen Bestimmungen spricht kein Hauch mehr von Bestrebungen, das Proletariat auf eine höhere Stufe zu heben, eine neue „höhere Lebensform hervorzuarbeiten“, sondern nur noch der Rachedurst des Proletariats in seiner unentwickeltsten Form, das sein Glück darin sieht, endlich einmal auf den bisher vom Schicksal Begünstigten, besser Gekleideten, besser Wohnenden, besser Unterrichteten nach Belieben herumtrampeln zu können.

Bei der Entfesslung dieses „Willens“ als Triebkraft der Revolution gehen dessen Äußerungen bei einzelnen natürlich oft viel weiter, als die Bolschewiki selbst wollen. So hat die Idee, daß die bisherigen Bourgeois rechtlose Lasttiere derjenigen geworden sind, die ehedem als Arbeiter unter ihnen standen, folgenden Erlaß des Arbeiterrats von Murzilowka gezeitigt:

„Der Sowjet gibt hiermit dem Genossen Gregor Sareieff die Vollmacht, nach seiner Auswahl und nach seinen Anordnungen für den Gebrauch der in Murzilowka, Distrikt von Briansk, garnisonierenden Artilleriedivision 60 Frauen und Mädchen der Klasse der Bourgeois und Spekulanten zu requirieren und in die Kaserne zu überführen.“ 16. September 1918. (Veröffentlicht von Dr. Nath. Wintsch-Malejeff, What are the Bolschewists doing, Lausanne 1919, S. 1.)

Man täte unrecht, die Verantwortung für diesen Erlaß den Bolschewiki zuzuschieben. Er war ihnen sicher ebenso widerlich, wie die Septembermorde den Männern des Konvents.

Aber der Gedanke ist entsetzlich, daß in einer ganzen lokalen Sowjetorganisation, wenn auch nur in einer einzigen, der Haß und die Verachtung gegenüber dem Bourgeois einen solchen Grad erreichen konnte, ihm nicht bloß alle politischen, sondern die einfachsten Menschenrechte und jede Menschenwürde abzuerkennen.
 

b) Das Reifen des Proletariats.

Es ist natürlich, daß einer „Massenpsyche“, die solche Formen annahm, auch die Bolschewiki nicht willenlos nachgeben konnten. Nachdem sie die Bourgeois expropriiert und für vogelfrei erklärt und das Proletariat zu einem „heiligen Wesen“ gemacht hatten, suchten sie nun hinterdrein diesem heiligen Wesen die nötige Reife beizubringen, die die Vorbedingung aller Sozialisierung und Expropriierung hätte bilden sollen.

„Wir wußten es früher schon,“ sagt Trotzki (Arbeit, Disziplin usw., S. 16), „daß uns die nötige Organisation, die nötige Disziplin und die nötige historische Schule fehlen; wir wußten dies alles, und dies hinderte uns in keiner Weise, mit offenen Augen zu der Eroberung der Macht zu schreiten. Wir waren überzeugt, daß wir alles erlernen und alles einrichten werden.“

Würde wohl Trotzki es wagen, eine Lokomotive zu besteigen und sie in Gang zu setzen, in der Überzeugung, er werde schon während ihres Laufes „alles erlernen und einrichten“? Kein Zweifel, er wäre dazu befähigt, aber bliebe ihm dazu die Zeit? Würde nicht bald die Lokomotive entgleist oder explodiert sein? Man muß die Qualitäten zur Lenkung einer Lokomotive vorher erlangt haben, ehe man es unternimmt, sie in Gang zu setzen. So muß das Proletariat vorher die Eigenschaften erworben haben, die es zur Leitung der Produktion befähigen, wenn es diese übernehmen soll. Sie duldet kein Vakuum, keinen Zustand der Leere, des Stillstandes, und am allerwenigsten in einem Zustand, wie ihn der Krieg geschaffen hat, der uns aller Vorräte entblößte, so daß wir von der Hand in den Mund leben und durch das Stocken der Produktion direkt dem Hungertod ausgeliefert werden.

Lenin selbst hält es bereits für notwendig, den Prozeß der Expropriierung zu bremsen:

„Wenn wir jetzt die weitere Expropriierung des Kapitals im früheren Tempo fortsetzen wollten, würden wir sicher eine Niederlage erleiden, denn unsere Arbeit zur Organisierung der proletarischen Rechnungslegung ist deutlich, offensichtlich für jeden denkenden Menschen, hinter der Arbeit der unmittelbaren ‚Expropriierung der Expropriateure‘ zurückgeblieben.“ (Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, S. 14)

Doch verzagt Lenin nicht, sondern verheißt, trotz alledem würden die Sowjets die „Kampagne gegen das Kapital gewinnen“, denn der Prozeß des Reifens des russischen Proletariats gehe mit Riesenschritten vor sich. Er sagt:

„Als eine Bedingung der Hebung der Arbeitsproduktivität erscheint der Aufstieg der Kultur und Bildung der Bevölkerungsmasse. Dieser Aufschwung geht jetzt mit ungeheurer Schnelligkeit vor sich. Dank dem ,Aufschwung zum Licht und an Initiative’, der sich jetzt dank der Sowjet-Organisation in den Tiefen des Volkes entfaltet.“ (S. 33)

Der Bildungsaufstieg der Bevölkerungsmasse kann doppelter Art sein. Er kann planmäßig, systematisch herbeigeführt werden durch die Schule. Auf diesem Gebiete ist in Rußland noch ungeheuer viel zu leisten. Doch ein ausreichendes Volksschulwesen erheischt große Mittel, eine blühende Produktion, die bedeutende Überschüsse liefert. Die russische Produktion bringt so klägliche Ergebnisse, daß das Schulwesen aufs äußerste darunter leiden muß. Die Bolschewiki sind sicher bemüht, für Kunst und Wissenschaft und deren Verbreitung unter den Massen so viel wie möglich zu tun. Aber dieses Mögliche ist durch die ökonomischen Fesseln äußerst beschränkt. Von der Seite ist also kein rascher „Bildungsaufstieg“ zu erwarten, der eine baldige und ausgiebige, Hebung der Produktion ermöglichte. Im Gegenteil, diese Hebung gehört zu seinen Vorbedingungen.

Doch die erwachsenen Menschen lernen zumeist nicht mehr in der Schule, die Staat oder Gemeinde einrichten, sondern vielmehr in der Schule des Lebens. Die beste Bildungsmöglichkeit wird ihnen gegeben in der Demokratie, zu deren wesentlichsten Einrichtungen völlige Freiheit der Diskussion und der Mitteilung von Tatsachen gehört, die aber auch für jede Partei und Richtung den Zwang mit sich bringt, um die Seele des Volkes zu ringen, die jedes Mitglied der Volksgemeinschaft in die Lage versetzt, die Argumente aller Seiten zu prüfen und sich dadurch zu einer Selbständigkeit des Urteils durchzuarbeiten. Endlich verleiht die Demokratie dem Kampf der Klassen seine höchsten Formen. Denn in ihr wendet sich jede Partei an die Gesamtheit der Bevölkerung. Jede verficht bestimmte Klasseninteressen, ist aber gezwungen, jene Seiten dieser Interessen hervorzukehren, die mit den allgemeinen Interessen des gesamten Gemeinwesens zusammenhängen. So überwindet die moderne staatliche Demokratie die Enge der dörflichen Kirchturmspolitik ebenso, wie die der zünftigen Berufspolitik. In ihr wird der Horizont der Masse durch die Teilnahme an der Politik ungemein erweitert.

Alle diese Bildungsmöglichkeiten des Volkes werden geradezu verschüttet, wenn man, wie die Sowjetrepublik verfährt, die Demokratie beseitigt, um sie durch die Allmacht der Arbeiterräte zu ersetzen, die jeden „Bourgois“ rechtlos macht und die Preßfreiheit aufhebt. Das Sonderinteresse der Lohnarbeiter wird damit losgelöst von gesellschaftlichen Gesamtinteressen, und der Arbeiter gleichzeitig der selbständigen Prüfung der Argumente im Kampf der Klassen und Parteien entzogen. Denn diese Prüfung wird für ihn bereits von einer vorsorglichen Obrigkeit verrichtet, die ängstlich danach strebt, jeden Gedanken, jede Mitteilung von ihm fernzuhalten, die geeignet wäre, Zweifel an der Gottähnlichkeit des Sowjetsystems in seinem Busen aufkeimen zu lassen.

Das soll natürlich nur im Interesse der Wahrheit geschehen. Das arme, unwissende Volk soll verhindert werden, durch die bürgerliche Presse mit ihrem gewaltigen Machtapparat belogen und vergiftet zu werden. Aber wo ist im jetzigen Rußland dieser Machtapparat zu finden, der den bürgerlichen Zeitungen ein Übergewicht über die bolschewistischen verliehe? Überdies wendet sich die Schärfe der bolschewistischen Preßkneblung nicht bloß gegen die bürgerliche allein, sondern gegen die gesamte Presse, die nicht auf das bestehende Regierungssystem schwört.

Die Rechtfertigung dieses Systems läuft einfach auf die naive Auffassung hinaus, es gäbe eine absolute Wahrheit, und nur die Kommunisten seien in deren Besitz. Nicht minder läuft sie auf die andere Auffassung hinaus, alle Schriftsteller seien von Haus aus Lügner, nur die Kommunisten Fanatiker der Wahrheit. In Wahrheit sind natürlich Lügner und Fanatiker dessen, was sie als wahr ansehen, in allen Lagern zu finden. Die Lüge gedeiht aber am besten dort, wo sie keine Kontrolle zu fürchten hat, wo also die Presse einer einzigen Richtung ausschließlich zum Wort kommt. Damit erhält sie einen Freibrief zu lügen, der alle zur Lügenhaftigkeit neigenden Elemente ermutigt, und der um so mehr ausgenutzt wird, je verzweifelter die Lage der Regierenden, je mehr sie die Wahrheit zu fürchten haben.

Die Wahrheit der Mitteilungen wird also durch die Aufhebung der Preßfreiheit in keiner Weise gefördert, sondern aufs höchste beeinträchtigt.

Was aber die Wahrheit der Auffassungen anbelangt, so muß man mit Pilatus sagen: Was ist Wahrheit? Eine absolute Wahrheit gibt es nicht, es gibt nur einen Prozeß des Erkennens, und der wird in jeder Weise geschädigt, mit ihm aber auch das Erkenntnisvermögen der Menschen, wenn eine Partei ihre Macht dazu ausnutzt, ihre eigene Auffassung als alleinseligmachende Wahrheit zu monopolisieren und jede andere Meinung zu unterdrücken.

Kein Zweifel, daß die Idealisten unter den führenden Bolschewiki dabei im guten Glauben handeln, sie seien im Alleinbesitz der Wahrheit und nur Verruchtheit könne anders denken als sie. Doch denselben guten Glauben müssen wir auch den Männern der heiligen Inquisition in Spanien zubilligen. Der „kulturelle und Bildungsaufstieg der Bevölkerungsmasse“ hat unter diesem Regime gerade nicht gewonnen. Ein Unterschied besteht freilich zwischen den Inquisitoren und den Leitern der Sowjetrepublik. Jene verlangten gar nicht nach materieller und geistiger Hebung der Massen im Diesseits. Sie wollten bloß deren Seelen im Jenseits sichern. Die Sowjetleute glauben, durch die Methoden der Inquisition die Massen in jeder Weise zu heben. Sie merken gar nicht, wie sehr sie sie degradieren.

Neben einer hohen Volksbildung ist eine hohe Moral der Massen die Vorbedingung des Sozialismus, eine Moral, die sich äußert nicht nur in starken sozialen Instinkten, Gefühlen der Solidarität, der Opferwilligkeit, der Hingebung, sondern auch in der Ausdehnung dieser Gefühle über den engen Kreis der Kameraden hinaus auf die Gesamtheit. Eine solche Moral haben wir bei den Proletariern der Pariser Kommune bereits stark entwickelt gefunden. Sie fehlt der Masse, die heute im bolschewistischen Proletariat den Ton angibt.

Sie soll jetzt mit aller Macht geschaffen werden. So ruft Trotzki:

„Diese kommunistische Moral, Genossen, sind wir verpflichtet, sofort zu predigen, zu unterstützen, zu entwickeln und zu befestigen. Das ist die vornehmste Aufgabe unserer Partei auf allen Gebieten ihrer Tätigkeit.“ (Arbeit, Disziplin usw., S. 21)

Ja, glaubt Trotzki, daß man eine neue, Moral über Nacht schaffen kann? Nur langsam ist sie zu entwickeln. Die Neubelebung der Produktion duldet jedoch keinen Aufschub. Wenn die kommunistische Moral sich nicht vor dem Beginn der Sozialisierung gebildet hatte, wenn man erst nach der Expropriierung darangehen will, sie zu entwickeln, ist es zu spät.

Und wie will man sie entwickeln? Man will sie predigen. Als ob jemals in der Welt bei Moralpredigten etwas herausgekommen wäre. Wenn Marxisten ihre Hoffnung auf Moralpredigten setzen, beweisen sie damit bloß, in welche Sackgasse sie geraten sind.

Aber freilich, die neue Moral soll nicht bloß gepredigt, sondern auch unterstützt werden. Doch wie? Die Moral ist das Produkt unseres Lebens und Strebens, aus ihm zieht sie ihre Nahrung, von dessen Gestaltung hängt sie ab.

Die hohe Moral, die das kämpfende Proletariat entwickelt, hängt von zwei Momenten ab. Als die Ärmsten und Schwächsten in der Gesellschaft können sich die Proletarier nur behaupten durch innigsten Zusammenschluß. Hingabe und Opfermut der einzelnen werden in seinen Reihen am höchsten geachtet, im Gegensatz zur Kapitalistenklasse, in der das Ansehen der einzelnen von der Masse ihres Reichtums abhängt, ohne Rücksicht darauf, wie er gewonnen wurde.

Doch die starken Gefühle der Solidarität allein bilden noch nicht die sozialistische Moral, auf der die neue Gesellschaft aufzubauen ist. Solche Solidaritätsgefühle können direkt antisozial wirken, wenn sie auf einen engen Kreis beschränkt bleiben, der seinen Vorteil auf Kosten der übrigen Gesellschaft zu gewinnen sucht, etwa ein Geburtsadel, eine Bureaukratie, ein Offizierskorps.

Was die Solidarität des modernen Proletariats erst zur Höhe der sozialistischen Moral erhebt, ist ihre Ausdehnung auf die menschliche Gesamtheit, entspringend aus dem Bewußtsein, daß das Proletariat sich nicht selbst befreien kann, ohne das gesamte Menschengeschlecht zu befreien.

Schon der junge Engels erwartet von der Erkenntnis dieser Tatsache die größte Hebung der proletarischen Moral. Er führte in seiner Lage der arbeitenden Klassen in England (2. Aufl., S. 299) aus:

„In demselben Maße, in welchem das Proletariat sozialistische und kommunistische Elemente in sich aufnimmt, genau in demselben Verhältnis wird die Revolution an Blutvergießen, Rache und Wut abnehmen. Der Kommunismus steht seinem Prinzip nach über dem Zwiespalt zwischen Bourgeoisie und Proletariat; er erkennt ihn nur in seiner historischen Bedeutung für die Gegenwart, nicht aber als für die Zukunft berechtigt an. Er will gerade diesen Zwiespalt aufheben. Er erkennt daher, solange der Zwiespalt besteht, die Erbitterung des Proletariats gegen seine Unterdrücker allerdings als eine Notwendigkeit, als den bedeutendsten Hebel der anfangenden Arbeiterbewegung, aber er geht über diese Erbitterung hinaus, weil er eben eine Sache der Menschheit, nicht bloß der Arbeiter ist. Ohnehin fällt es keinem Kommunisten ein, an einzelnen Rache üben zu wollen oder überhaupt zu glauben, daß der einzelne Bourgeois in den bestehenden Verhältnissen anders handeln könne, als er handelt ... Je mehr also die englischen Arbeiter sozialistische Ideen in sich aufnehmen, desto mehr wird ihre jetzige Erbitterung, die es doch, wenn sie so gewaltsam bleibt, wie sie jetzt ist, zu nichts bringen würde, überflüssig, desto mehr werden ihre Schritte gegen die Bourgeoisie an Wildheit und Roheit verlieren. Wäre es überhaupt möglich, das ganze Proletariat kommunistisch zu machen, ehe der Kampf ausbricht, so würde er sehr friedlich ablaufen. Das ist aber nicht mehr möglich, es ist schon zu spät dazu. (Engels erwartete 1845 den baldigsten Ausbruch der Revolution, die 1848 auch kam, aber nicht in England, sondern auf dem Kontinent, und nicht als proletarische Revolution. – K.) Ich glaube indes, daß bis zum Ausbruch des ganz offenen direkten Krieges der Armen gegen die Reichen, der jetzt in England unvermeidlich geworden ist, sich wenigstens soviel Klarheit über die soziale Frage im Proletariat verbreiten wird, daß mit Hilfe der Ereignisse die kommunistische Partei imstande sein wird, das brutale Element der Revolution auf die Dauer zu überwinden und einem neunten Thermidor vorzubeugen.“

Der neunte Thermidor war der Tag, an dem Robespierre gestürzt wurde und das Pariser Schreckensregiment zusammenbrach. Einem ähnlichen Zusammenbruch wollte Engels vorbeugen, dahin sollten die Kommunisten wirken, indem sie dem proletarischen Klassenkampf seine Wildheit und Roheit gegen die Bourgeoisie nahmen und das allgemein-menschheitliche Interesse in den Vordergrund schoben.

Man sieht, Engels verstand unter Kommunismus etwas ganz anderes als heute die Bolschewisten. Was Engels wollte, das strebten gerade jene russischen Sozialisten an, zu denen die Bolschewisten im Gegensatz standen. Der Bolschewismus siegte über seine sozialistischen Gegner dadurch, daß er die Wildheit und Roheit der „anfangenden Arbeiterbewegung“ zur Triebkraft seiner Revolution machte. Dadurch, daß er die Bewegung des Sozialismus degradierte, indem er aus der Sache der Menschheit eine Sache „bloß der Arbeiter“ machte; dadurch, daß er die Allmacht der Lohnarbeiter allein (neben den ärmsten Bauern auf dem Lande) verkündete und seine Herrschaft damit begann, alle Menschen, die nicht in sein Horn bliesen, zu völliger Rechtlosigkeit zu verurteilen und ins tiefste Elend herabzustoßen; dadurch, daß er die Aufhebung der Klassen mit der Schaffung einer neuen Klasse von Heloten aus den bisherigen Bourgeois einleitete. Indem er so den sozialistischen Kampf um Befreiung und Erhebung der ganzen Menschheit auf eine höhere Stufe in einen Ausbruch der Erbitterung und der Rache an einzelnen verwandelte, die den schlimmsten Mißhandlungen und Foltern preisgegeben wurden, hat er das Proletariat nicht auf eine höhere Stufe der Moral erhoben, sondern es demoralisiert. Er hat die Demoralisation noch vermehrt dadurch, daß er die Expropriation der Expropriateure loslöste von ihrer innigen Verbindung mit der Schaffung der gesellschaftlichen Neuorganisation, mit der allein sie ein sozialistisches Element bildet. Losgelöst davon erstreckte sie sich bald von den Produktionsmitteln auf die Konsummittel. Von da zum Banditentum, das in Stenka Rasin idealisiert war, braucht man nur einen Schritt,

„Das negative Programm des Bolschewismus hatten die Massen ohne jede Schwierigkeit begriffen: man braucht nicht zu kämpfen, braucht keine Pflichten mehr anzuerkennen, man braucht sich nur zu nehmen, zu holen und anzueignen, was man bekommen kann, oder, wie dies Lenin wundervoll formuliert hat, man ‚raube das Geraubte‘.“ (O. Gawronsky, Die Bilanz des russischen Bolschewismus, Berlin 1919, S. 39)

Es entspricht dieser Auffassung, daß der Räuberhauptmann Stenka Rasin bereits sein Denkmal in der Sowjetrepublik bekam.

In dieser Weise „unterstützte“ und predigte der Bolschewismus die neue kommunistische Moral, ohne die ein sozialistischer Aufbau unmöglich ist. Es bedeutete nichts anderes, als die wachsende Demoralisierung weiter Teile des russischen Proletariats.

Das war ein Ergebnis, von dem die Idealisten unter den Bolschewiki selbst entsetzt waren, doch vermochten sie bloß die Erscheinung zu sehen, nicht ihre Ursache zu erkennen, denn das hätte bedeutet, ihr ganzes Regierungssystem über den Haufen zu werfen.

Verzweifelt sahen sie nach einem Mittel aus, das den Massen die kommunistische Moral beibringen könne. Nichts anderes wußten sie herauszufinden, die Marxisten, die kühnen Revolutionäre und Neuerer, als den armseligen Behelf, mit dem die alte Gesellschaft sich der Produkte ihrer eigenen Sünden zu entledigen sucht: Gericht, Zuchthaus, Hinrichtung. Also den Schrecken.

Lenin schreibt in der schon mehrfach zitierten Schrift über die nächsten Aufgaben der Sowjetrepublik, S. 47:

„Das Gericht ist das Werkzeug der Erziehung zur Disziplin. Es ist nicht genügend Erkenntnis der einfachen und sichtbaren Tatsache vorhanden, daß, wenn als das Hauptunglück Rußlands der Hunger und die Arbeitslosigkeit erscheinen, man dieses Unheil nicht durch Drang und Aufschwung, sondern nur durch allseitige, allumfassende und allgemeine Organisation und Disziplin besiegen kann ... daß darum an den Qualen des Hungers und der Arbeitslosigkeit jeder schuld ist, der die Arbeitsdisziplin in einem beliebigen Wirtschaftsbetriebe, in einer beliebigen Sache übertritt, – daß man den Schuldigen zu finden, vors Gericht zu stellen und erbarmungslos zu bestrafen verstehen muß.“

Mit erbarmungslosen Strafen soll dem russischen Proletariat die ihm fehlende kommunistische Moral eingeprügelt werden, um es reif zu machen für den Sozialismus. Aber noch nie wurde durch „erbarmungslose Strafen“ die Moral gehoben, es wurde nur ihr letzter Rest noch untergraben. Erbarmungslose Strafen sind ein unvermeidliches Übel der alten Ordnung, die sich anders nicht zu helfen weiß, da ihr der Ausweg verrammelt ist, eine bessere Moral durch bessere Lebensbedingungen zu erzeugen. Ein sozialistisches Regime, das keinen andern Ausweg sieht, um im Proletariat eine höhere Moral zu erwecken, als ein erbarmungsloses Gericht, zeigt damit seinen eigenen Bankerott an.
 

c) Die Diktatur

Im Grunde scheint auch Lenin selbst von seinen Gerichten allem noch keinen besonderen Aufschwung der Moral zu erwarten, denn gleich nach seiner Forderung dieser Gerichte erhebt er eine weitere Forderung, die des „Erlasses diktatorischer oder unbeschränkter Vollmachten für die einzelnen Leiter der Betriebe“ (S. 49):

„Jede maschinelle Großindustrie – das heißt gerade die materielle Produktionsquelle und das Fundament des Sozialismus – erfordert die bedingungslose und strengste Einheit des Willens ... Aber wie kann die strengste Einheit des Willens gesichert werden? Durch Unterordnung des Willens von Tausenden unter den Willen eines einzigen.

Diese Unterordnung kann bei idealer Erkenntnis und Diszipliniertheit der an der allgemeinen Arbeit Beteiligten mehr an die linde Leitung eines Orchesterdirigenten erinnern. Sie kann die scharfen Formen eines Diktatorentums annehmen, wenn, keine ideale Diszipliniertheit und Erkenntnis vorhanden sind.“ (S. 51)

Bisher nahmen wir an, Erkenntnis und Diszipliniertheit der Arbeiterschaft seien die Vorbedingungen der Reife des Proletariats, ohne die ein wirklicher Sozialismus nicht möglich sei. Lenin selbst sagt im Eingang der zitierten Schrift (S. 6):

„Solch eine Revolution kann nur unter selbständigem historischen Schaffen der Mehrheit der Bevölkerung, vor allem der Mehrheit der Arbeitenden, erfolgreich verwirklicht werden.“

Nachdem er so Zeugnis dafür abgelegt, daß der Sozialismus nicht das Werk einer Minderheit, sondern nur das der Mehrheit der Bevölkerung, und nur „vor allem“, aber nicht ausschließlich der „Arbeitenden“ sein kann, und nachdem er damit wider Willen die Demokratie gerechtfertigt hat, fährt er fort:

„Nur dann, wenn das Proletariat und die ärmste Bauernschaft in sich genügend Bewußtsein, Ideenstärke, Selbstaufopferung, Beharrlichkeit zu finden vermögen, wird der Sieg der sozialistischen Revolution gesichert sein.“

Nunmehr jedoch soll dieser Sieg gesichert werden durch die Diktatur der Gerichte und der Betriebsleiter:

„Die Revolution hat soeben die ältesten, die stärksten und schwersten Fesseln, denen sich die Massen unter der Knute unterworfen hatten, zerschlagen. Das war gestern. Heute aber fordert dieselbe Revolution, und zwar im Interesse des Sozialismus, die widerspruchslose Unterordnung der Massen unter den einheitlichen Willen der Leiter des Arbeitsprozesses.“ (S. 52)

Die Freiheit, die sie gestern errungen, wird ihnen heute wieder abgenommen, da die Massen eben „in sich nicht genügend Bewußtsein, Ideenstärke, Selbstaufopferung und Beharrlichkeit zu finden vermögen“. Aber auf Seite 7 wird aus dem Fehlen dieser Eigenschaften die Undurchführbarkeit des Sozialismus geschlossen, auf Seite 52 dagegen „im Interesse des Sozialismus“ die „widerspruchslose Unterordnung“ der unreifen Massen unter diktatorische Betriebsleiter verlangt. Damit wird ihre Lage unter das Niveau herabgedrückt, das sie in der kapitalistischen Produktionsweise erreicht hatten. Dort sind sie dem Kapital untergeordnet, aber doch nicht widerspruchslos untergeordnet.

Nun tröstet Lenin sich und sein Publikum freilich damit, daß diese Diktatur im Unterschied von der kapitalistischen Betriebsleitung „durch die Massen der Arbeitenden und Ausgebeuteten verwirklicht wird“, und „auch durch die Organisationen verwirklicht wird, die so aufgebaut sind, daß durch sie die Massen erweckt und zum historischen Schaffen erhoben werden. Die Sowjetorganisationen gehören zu dieser Art von Organisationen“. (S. 51)

Wie der Ausschluß und die Erstickung jeder Kritik die Erweckung der Massen und ihre Erhebung zu historischem Schaffen fördert, wurde bereits gezeigt. Die Sowjetorganisation ändert daran nichts. Wie aber kann jene eiserne Diktatur einzelner mit „widerspruchsloser Unterordnung der Massen“ durch die Organisation der Massen zu freier Selbstbetätigung verwirklicht werden? Wer von den Massen gewählt wird, von ihnen abgesetzt werden kann, auf die Wiederwahl durch sie angewiesen ist, bleibt stets von ihnen abhängig, kann nichts durchsetzen, was nicht ihre Zustimmung findet. Er kann die Widerspenstigkeit einzelner Mitglieder der Organisation, die ihn einsetzt, brechen, wenn sie sich in Gegensatz zur Mehrheit setzen, er wäre aber bald am Ende seines Lateins, wenn er der Mehrheit seine Gebote wider ihren Willen aufzwingen wollte.

Persönliche Diktatur und Demokratie sind daher miteinander unvereinbar. Das gilt auch für die Sowjetdemokratie. Lenin freilich erklärt, „diese Betrachtungsweise“ sei „unter jeder Kritik schlecht“. Aber die Stärke der Ausdrücke muß die Kraft seiner Argumente ersetzen, denn er weiß nichts anderes zu entgegnen, als daß,

„wenn wir keine Anarchisten sind, wir die Notwendigkeit des Staates, das heißt, des Zwanges für den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus annehmen.“ (S. 50)

Kein Zweifel, darin sind wir einig. Auch die Demokratie schließt einen Zwang nicht aus; aber die einzige Art des Zwanges, die sie gestattet, ist der Zwang, den die Mehrheit über die Minderheit übt. Der Zwang für den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus ist der Zwang der Mehrheit der Arbeiter über die Minderheit der Kapitalisten. Aber darum“ handelt es sich nicht, in dem zweiten Stadium der Revolution, von dem Lenin hier spricht, in dem das Proletariat bereits seine Ketten gebrochen hat. Hier ist die Rede von dem Zwang, den einzelne Personen über dieMassen der Arbeiter ausüben. Daß diese Art Zwang mit der Demokratie unvereinbar ist, widerlegt Lenin mit keinem Wort/er sucht sie annehmbar zu machen durch ein Taschenspielerkunststück, indem er aus dem Zwang, den die große Masse auf die einzelnen Kapitalisten ausüben muß, um den Sozialismus herbeizuführen, und der mit der Demokratie sehr wohl vereinbar ist, schlankweg schließt, jeder Zwang, der von irgendwem in der Absicht ausgeübt wird, den Sozialismus herbeizuführen, sei vereinbar mit der Demokratie, auch „wenn er die Allmacht einzelner Personen gegenüber der Masse bedeute.

Er schließt:

„Darum gibt es entschieden keinen prinzipiellen Gegensatz zwischen dem Sowjet- (d. h. sozialistischen) Demokratismus und der Anwendung der diktatorischen Macht von einzelnen Personen.“

Das mag stimmen, würde aber nur beweisen, daß der „Sowjetdemokratismus“ ein eigenartiges Gewächs ist, auf das man jede Willkürherrschaft aufpfropfen kann, wenn man es nur im Namen des Sozialismus tut.

Soll eine widerspruchslose Unterordnung der Arbeiter eines Betriebes unter seinen Leiter erfolgen, dann darf er nicht von ihnen erwählt, sondern muß ihnen durch eine über ihnen stehende Gewalt auferlegt werden. Dann darf der Betriebsrat im Betrieb nichts zu sagen haben. Dann muß das Zentralexekutivkomitee, das die Diktatoren einsetzt, selbst eine diktatorische Gewalt erlangt haben, müssen die Sowjets zu bloßen Schatten herabgesunken sein und die in ihnen vertretenen Massen jede wirkliche Macht verloren haben.

So wenig sich Münchhausen an seinem eigenen Zopfe aus dem Sumpf zu ziehen vermag, ist eine Arbeiterschaft, der „Bewußtsein, Ideenstärke, Selbstaufopferung und Beharrlichkeit“ fehlen, imstande, sich selbst einen Diktator zu erwählen, damit er sie hebe, und sich ihm willenlos zu beugen, wenn er von ihr Taten fordert, die Bewußtsein, Ideenstärke, Selbstaufopferung und Beharrlichkeit erheischen.

Und woher sollen die Diktatoren mit der nötigen nicht nur intellektuellen, sondern auch moralischen Überlegenheit kommen? Eine jede Willkürherrschaft trägt in sich den Keim der Korrumpierung des Herrschers, sei dieser eine einzelne Persönlichkeit oder eine Koterie. Nur auserlesene Charaktere können sich von diesen verderblichen Folgen freihalten. Dürfen wir darauf rechnen, daß die russischen Diktatoren durchweg solche Charaktere sind? Lenin verspricht, sie sollten sorgfältig gesiebt werden:

„Wir wollen unsern Weg gehen, indem wir versuchen, möglichst vorsichtig und geduldig die echten Organisatoren zu prüfen und zu erkennen, die Menschen mit nüchternem Verstände und praktischer Ader, Menschen, die die Ergebenheit für den Sozialismus mit der Gabe verbinden, ohne Lärm (und ungeachtet des Wirrwarrs und des Lärms) eine große Zahl von Menschen zu beharrlicher, einmütiger und geschlossener Arbeit in den Rahmen der Sowjetorganisation einzufügen. Nur solche Menschen sollen nach zehnfacher Prüfung, indem sie von den einfachsten zu den schwersten Aufgaben aufwärts steigen, auf die verantwortlichen Posten der Leiter der Verwaltung gestellt werden. Wir haben das noch nicht gelernt. Wir werden es lernen.“ (S. 41, 42)

Es ist nicht gesagt, wer unter diesem „Wir“ zu verstehen ist. Offenbar nicht die unwissenden, undisziplinierten, wirren Massen. Eher die hohe Obrigkeit, das Zentralexekutivkomitee. Aber auch dieses hat die Kunst „noch nicht erlernt“, die Leiter der Volksarbeit richtig auszuwählen. Es verspricht, die schwierige Kunst zu erlernen. Ein Termin wird nicht gesetzt. Sicher ist nur, daß heute noch die Auswahl der Leiter in höchst unzureichender Weise geschieht. Also nicht bloß die nötige Reife der Massen, sondern sogar die nötige Reife der Leiter ist nicht vorhanden. Nachdem man expropriiert hat und nun an die Organisation gehen will, findet man, daß alles erst zu erlernen ist, sogar die Auswahl der obersten Verwalter der Staatswirtschaft.
 

d) Die Korruption.

Und was für Elemente drängen sich da dem neuen Regime auf!

„Keine einzige tiefe und mächtige Volksbewegung in der Geschichte ist ohne einen schmutzigen Preis ausgekommen – ohne die an die unerfahrenen Neuerer sich ansaugenden Abenteurer und Gauner, Prahlhänse und Schreihälse, ohne sinnloses Hin- und Herlaufen, Kopflosigkeit, unnütze Geschäftigkeit, ohne Versuche einzelner ‚Führer’, sich an zwanzig Dinge heranzumachen und kein einziges zu Ende zu führen.“ (Lenin, Die nächsten Aufgaben, S. 40)

Kein Zweifel, jede große Volksbewegung hat unter solchen schädlichen Erscheinungen zu leiden, wir in Deutschland verspüren sie auch. Aber das russische Sowjetregime weist dabei doch einige Züge eigener Art auf.

Vor allem sind die „Neuerer“ nirgends so „unerfahren“, wie dort. Das war unvermeidlich. Unter dem Absolutismus wurde den aufstrebenden Elementen jede Einsicht und noch mehr jede Teilnahme an der Verwaltung des Staates und der Gemeinden ebenso wie jede größere Organisation- und Verwaltungstätigkeit unmöglich gemacht. Das Interesse der Revolutionäre, namentlich ihrer ungeduldigsten und gewalttätigsten Elemente, konzentrierte sich auf den Kampf gegen die Polizei, auf unterirdische Verschwörertätigkeit. Aus ihrer Unerfahrenheit, als sie plötzlich zur Macht kamen, darf man ihnen keinen Vorwurf machen. Diese Unerfahrenheit ist aber wieder ein weiteres Moment, das bezeugt, wie unreif Rußland bei Ausbruch der Revolution noch für den Sozialismus war, der von unwissenden, undisziplinierten Massen um so weniger durchgeführt werden kann, je unerfahrener die Neuerer sind, die ihnen den Weg zu weisen haben. Es zeigt sich immer mehr, daß die Schulung der Massen und ihrer Führer in der Demokratie eine Vorbedingung des Sozialismus ist. Man kann nicht mit einem Satz vom Absolutismus in die sozialistische Gesellschaft hineinspringen.

Dann aber unterscheidet sich das Sowjetregime von früheren großen Volksbewegungen dadurch, daß es das beste Mittel beseitigte, den “Abenteurern und Gaunern, den Prahlhänsen und Schreihälsen“ auf die Finger zu sehen: die Preßfreiheit. Diese Elemente wurden dadurch die Kritik derjenigen los, die Sachkunde besaßen. Sie hatten nur noch mit unwissenden Arbeitern und Soldaten sowie mit unerfahrenen Neuerern zu tun. Da gediehen sie prächtig. Nun haben sich die Führer der Bolschewiki freilich vorgenommen, zu lernen, wie man die Spreu von dem Weizen sondert und die echten und selbstlosen Organisatoren von den Schwindlern und Gaunern unterscheidet. Aber lange, ehe man dies „erlernt“ hat, versagt bei der Rückständigkeit der russischen Arbeiterschaft die Produktion und droht mit völligem Stillstand. Nur durch die Diktatur der Leiter meint man das Unheil bannen zu können. Man muß ihnen die Diktatur geben, ohne noch in der Lage zu sein, die nötige Auslese zu treffen. So kann diese Art der Diktatur, gegen die von vornherein schon große Bedenken bestehen, nur unheilvoll wirken. Wie man zuerst expropriierte und dann erst an die Organisation ging, so setzt man jetzt zuerst Diktatoren ein und sucht dann die Methode ihrer Auslese zu erlernen.

Diese Verkehrtheiten waren unvermeidlich, sobald man einmal daran ging, den Sozialismus einzuführen, bloß auf den Willen und nicht auf die wirklichen Verhältnisse gestützt.

Doch das Sowjetregime wird nicht nur durch den Andrang von „Abenteurern und Gaunern“ gefährdet, die es nicht zu beurteilen weiß und deren Kritik es fast unmöglich macht. Nicht minder wird es bedroht dadurch, daß es sich die charaktervollsten und geistig höchststehenden Mitglieder der Intelligenz abwendig macht.

Ohne Mitwirkung der Intelligenz ist der Sozialismus auf der heutigen Stufe der Produktion nicht durchzuführen. Solange der Sozialismus im Stadium der Propaganda war, solange es bloß galt, das Proletariat zum klaren Bewußtsein seiner Stellung in der Gesellschaft und seiner daraus erwachsenden historischen Aufgaben zu bringen, bedurfte der Sozialismus der Intellektuellen – mochten es aus der Bourgeoisie stammende Akademiker sein oder aus dem Proletariat hervorgehende Autodidakten – nur zur Ausarbeitung und Popularisierung seiner Theorie. Da kam es nicht auf die Zahl, sondern nur auf die Qualität an.

Ganz anders jetzt, wo wir in das Zeitalter der praktischen Durchführung des Sozialismus eingetreten sind. Wie die kapitalistische Produktion und der kapitalistische Staat nicht bestehen können ohne die Hilfe zahlreicher, verläßlicher und eifriger wissenschaftlich gebildeter Kräfte, so bedarf ihrer auch die gesellschaftliche Produktion und das von der Arbeiterklasse beherrschte Staatswesen. Ohne sie oder gar gegen sie ist kein Sozialismus möglich.

Zu ihrer praktischen Mitwirkung am Aufbau des Sozialismus ist nicht, wie zur Entwicklung und Propagierung der sozialistischen Theorie, eine leidenschaftliche Hingabe an die große Sache der Befreiung der Menschheit notwendig. Aber zum mindesten ist erforderlich, daß wenigstens ein erheblicher Teil von ihnen zur Überzeugung von der Möglichkeit und Ersprießlichkeit sozialistischer Produktion gelangt ist, so daß er keine Opfer des Intellekts bringt, wenn er bei ihr mithilft. Ist schon auf dem Gebiete der Handarbeit eine verfeinerte Produktion mit jeder Zwangsarbeit unverträglich, so gilt das noch viel mehr auf dem Gebiete geistiger Arbeit.

Das Schwinden des Zweifels der Intellektuellen an der Durchführbarkeit des Sozialismus und die Bereitwilligkeit dieser Kreise, sobald die nötige Macht hinter ihm steht, an seinem Aufbau mitzuwirken, gehört zu den Vorbedingungen sozialistischer Produktion, zu den Bedingungen, zu denen die Gesellschaft vorgeschritten sein muß, soll sie zum Sozialismus reif sein. Diese Bedingung selbst wird um so mehr eintreten, je mehr die anderen Bedingungen des Sozialismus vorhanden sind, so daß die Erkenntnis der Wirklichkeit die unbefangenen Intellektuellen zu sozialistischer Überzeugung führt.

Diese Wichtigkeit der Intellektuellen haben die Bolschewiki nicht von Anfang an erkannt, die sich zunächst bloß der blinden Triebe der Soldaten, Bauern und städtischen Handarbeiter bedienten.

Die Masse der Intellektuellen stand ihnen schon von Anfang an feindlich gegenüber, auch die Sozialisten unter ihnen, weil sie erkannten, daß Rußland für die Art der sofortigen Vollsozialisiemng, die die Bolschewiki unternahmen, nicht reif sei. Andere, die sich darüber keine Gedanken machten, wurden abgestoßen durch die Mißhandlungen, die dem Intellektuellen zuteil wurden. Dieser wurde aus der Fabrik verjagt, die die Arbeiter allein in Betrieb halten wollten, er wurde politisch rechtlos gemacht, denn die Allmacht der Arbeiterräte verlieh tatsächlich nur den Handarbeitern das Wahlrecht. Er wurde expropriiert, soweit er etwas besaß, und jeder Möglichkeit einer kultivierten Lebensführung beraubt. Ja, schließlich wurde er sogar zur Zwangsarbeit und zum Hungertode verurteilt.

Die Bolschewiki gedachten anfangs, sich ohne Intellektuelle, ohne „Fachleute“ zu behelfen. Der Zarismus war der Meinung gewesen, ein General sei fähig, ohne alle spezielle Vorbildung jeden Posten im Staate zu bekleiden. Die Sowjetrepublik übernahm vom Zarismus mit vielem andern auch diese Auffassung, nur setzte sie an Stelle des Generals den Proletarier. Die Theoretiker des Bolschewismus nannten diesen Prozeß: „die Entwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur Tat.“ Eher könnte man ihn bezeichnen als „Entwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zum Dilettantismus.“

Wie das bei der Sowjetrepublik die Regel ist, die sich nur vom Willen und nicht von der Einsicht in die wirklichen Verhältnisse leiten läßt, kam man hinterdrein, nachdem das Kind schon in den Brunnen gefallen war, zur Erkenntnis dessen, was notwendig war, und suchte den Brunnen zuzudecken, die Intellektuellen zur Arbeit heranzuziehen, abgesehen von jener Zwangsarbeit, von der schon die Rede war; zu jener Arbeit, für die sie taugten, die sie verstanden. Die Intellektuellen, die in den Dienst der Regierung traten, hörten damit auf, als Bourgeois angesehen, als solche behandelt und mißhandelt zu werden. Sie stiegen auf in den Kreis der „werktätigen“ Bevölkerung, die „produktive“ und „nützliche“ Arbeit leistet, wurden geschützt vor Expropriationen, erhielten ein ausreichendes Einkommen.

Da nicht Überzeugung, sondern nur die Furcht vor Elend und Mißhandlung die meisten dieser Intellektuellen in den Dienst der Regierung trieb, war ihre Arbeit natürlich in Wirklichkeit weder sehr produktiv, noch sehr nützlich.

Trotzki klagt darüber z. B. in dem bereits zitierten Vortrag über Arbeit, Disziplin usw. Er sagt:

„Die erste Epoche des Kampfes gegen die Sabotage (der Intellektuellen) bestand darin, daß wir diie Organisationen der Saboteure erbarmungslos zerstörten. Das war notwendig und darum richtig.

Jetzt, in der Periode, wo die Macht der Sowjets gesichert ist, muß der Kampf gegen die Sabotage sich darin äußern, die gestrigen Saboteure in Diener in Vollstrecker und technische Leiter dort, wo das neue Regiment es erfordert zu verwandeln.“ (S. 13, 14)

Trotzki meint also, der „notwendige und darum richtige“ Weg, die Intellektuellen zu Dienern und Leitern der Sozialisier zu machen sei der, zuerst auf ihnen „erbarmungslos“ herumzutrampeln.

Was dabei herauskommt, sagt er gleich selbst:

„Wir haben die alte Sabotage zertrümmert und die Mehrheit der alten Beamten mit eisernem Besen hinausgefegt. Die Stellvertreter dieser alten Beamten erwiesen sich bei weitem nicht immer als erstklassiges Material. In keinem Zweige der Verwaltung. Einerseits gingen auf die freigewordenen Posten unsere Parteigenossen, die die unterirdische Arbeit gemacht und die Revolutionsschule hinter sich hatten, die besten Elemente, die Kämpfer, die Ehrlichsten, die Uneigennützigsten Andererseits kamen Karrieremacher, Intriganten, verfehlte Existenzen, die unter dem alten Regime von gestern ohne Beschäftigung waren. Als sich die Heranziehung von Zehntausenden neuer, qualifizierter Arbeiter mit einem Male als notwendig erwies, da war es kein Wunder, wenn es vielen Marodeuren gelang, in die Poren des neuen Regimes einzudringen.

Man muß dazu noch sagen, daß viele von den Genossen, die in verschiedenen Ämtern und Institutionen arbeiten, sich bei weitem noch immer nicht einer organischen, schöpferischen, nachdrücklichen Arbeit fähig zeigen. Wir bemerken auf Schritt und Tritt solche Genossen, besonders aus den Reihen der Oktober-Bolschewiki, in den Ministerien, die dort vier bis fünf Stunden arbeiten und auch nicht sehr intensiv in einer Zeit, wo unsere ganze Lage jetzt von uns die angestrengteste Arbeit nicht aus Furcht, sondern aus Gewissenspflicht verlangt.“ (S. 18, 19)

Das war die „notwendige“, doch darum noch keineswegs „richtige“ Konsequenz einer Politik, die die Intellektuellen nicht durch Überzeugnung, sondern durch Fußtritte von vorn und hinten zu gewinnen suchte.

So schritt man hinterdrein noch zu einem andern Mittel, um hervorragende Leistungen zu erreichen. Die Pariser Kommune von 1871 hatte die hohen Gehälter der Staatsämter herabgesetzt, als höchsten Satz eines Gehalts 6000 Franken bestimmt. Ähnlich wollte es die Sowjetrepublik auch machen. Aber es ging nicht. Sie mußte auch hier wieder umkehren. Lenin bemerkt darüber:

„Wir mußten jetzt zu dem alten, bürgerlichen Mittel greifen und auf eine sehr hohe Bezahlung der „Dienstleistungen“ der größten unter den bürgerlichen Fachleuten eingehen ... Es ist klar, daß solch eine Maßnahme ein Kompromiß ist, ein Abrücken von den Prinzipien der Pariser Kommune. und jeder proletarischen Macht ... Es ist klar, daß solch eine Maßnahme nicht nur den Stillstand – auf gewissem Gebiete und in gewissem Grade – der Offensive gegen das Kapital bedeutet, sondern auch einen Schritt nach rückwärts unserer sozialistischen Sowjetmacht.“ (Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, S. 19)

Aber, meint Lenin, es blieb nichts anderes übrig. Und er hat recht.

Die Notwendigkeit der hohen Gehälter kann zwei Ursachen haben.

Je größer ein Betrieb, je zahlreicher seine Arbeiter, um so bedeutender – bei sonst gleichen Umständen – die Masse des Mehrwerts, die er abliefert. Produziert ein Arbeiter im Tage 5 Mark Mehrwert, so. wird ein Betrieb mit 100 Arbeitern im Tage 500 Mark, einer mit 1000 Arbeitern 5000 Mark abwerfen. Je umfangreicher ein Betrieb, desto schwieriger, ihn zu organisieren und zu leiten, desto seltener die dazu ausreichenden Kräfte, desto größer aber auch die Mittel, über die der oder die Besitzer des Betriebes verfügen, um die Dienste einer solchen auserlesenen Kraft zu kaufen. In dem Maße, wie die Großbetriebe wachsen, nehmen daher auch die Gehälter ihrer Leiter zu und erreichen mitunter ganz ungeheuerliche Dimensionen. Mit diesem Umstand hat auch die Staatsverwaltung zu rechnen. Erhöht sie die Gehälter ihrer hohen Beamten nicht entsprechend, dann muß sie gewärtigen, daß die Privatindustrie diese ihr weglocken – soweit sie was taugen und nicht bloße Sinekurenbesitzer sind. Auf diese Weise verarmt die Staatsverwaltung geistig, und das ist einer der Gründe, warum die Staatswirtschaft so oft nicht die Konkurrenz der privaten auszuhalten vermag.

Es ist auch fraglich, ob die Kommune, wenn sie sich erhielt und der Großbetrieb sich unter ihr kapitalistisch entwickelte, statt sozialisiert zu werden, was möglich war – ob sie da ihre Fixierung der Gehälter auf höchstens 6000 Franken hätte aufrechterhalten können? Ihr Dekret darüber vom 2. April bezeugt den kleinbürgerlichen Charakter der damaligen Pariser Industrie. Allerdings aber auch die Uneigennützigkeit der Kommunemitglieder. Auf das bekannte Beispiel des Finanzministers Jourde wurde schon hingewiesen.

Die Konkurrenz einer blühenden und mächtigen privaten Riesenindustrie kann aber im Sowjetrußland unmöglich die Gehälter der hervorragenden „Spezialisten“ in die Höhe treiben. Denn diese Industrie ist ja entweder expropriiert oder ruiniert und wirft den Privaten keine Mehrwerte mehr ab. Die hohen Gehälter können da nur einem Zweck dienen: Sie haben die Aufgabe, die Abneigung zu überwinden, die die befähigtesten unter den Intellektuellen hegen, der Sowjetrepublik zu dienen, und ihr Interesse für das neue Regime wachzurufen. Da der Weg der Überzeugung nicht wirkt, die Hungerpeitsche keine hervorragenden Leistungen zu erzielen vermag, bleibt nur der Weg übrig, die Leute zu kaufen dadurch, daß man wenigstens für sie wieder kapitalistische Existenzbedingungen schafft.

Wir sehen jetzt, welches die Elemente sind, die zu Leitern der sozialistischen Produktion in der Sowjetrepublik auserkoren sind. Auf der einen Seite ein paar alte Verschwörer, ehrliche Kämpfer, von untadelhafter Gesinnung, jedoch in geschäftlichen Dingen „unerfahrene Neuerer“. Und auf der anderen Seite zahlreiche Intellektuelle, die wider ihre Überzeugung entweder als bloße Streber sich der neuen Macht zur Verfügung stellen, wie sie sich jeder andern Macht auch zur Verfügung stellen würden, oder die dazu getrieben werden durch Angst vor Hunger und Prügeln, oder endlich solche, die sich durch hohe Gehälter kaufen lassen. Es sind, wie Trotzki selbst zugibt, „keine erstklassigen Elemente“. Auch soweit sie etwas wissen, gehören sie sicher nicht zu den Charaktervollsten ihrer Art. Leute, gleichzeitig charaktervoll und geschäftskundig, sind unter ihnen weiße Raben.

In die Hände solcher Elemente wird jetzt, um den Sozialismus zu retten, eine diktatorische Gewalt gelegt, der sich die Arbeiter widerstandslos zu beugen haben. Eine solche Gewalt hat die Tendenz, den Besten zu korrumpieren. Hier wird sie vielfach Leuten anvertraut, die von vornherein korrupt sind.

Inmitten des allgemeinen Elends, der allgemeinen Expropriation, sammeln sich in ihren Händen die Grundlagen für einen neuen Kapitalismus. Noch geht ja die Warenproduktion weiter und muß weitergehen, da die bäuerliche Wirtschaft als Privatwirtschaft Warenproduktion ist und das ganze Leben beherrscht. Dabei liefert die bäuerliche Landwirtschaft immer weniger Überschüsse. Die Sowjetrepublik verleiht die ganze Macht im Dorfe den armen Bauern, die so wenig Land besitzen, daß sie keinen Überschuß an Lebensmitteln erzeugen. Den wohlhabenderen Bauern sollen alle Überschüsse ohne Entgeld abgenommen und in die staatlichen Getreidemagazine abgeliefert werden. Diese Praxis läßt sich – soweit sie zur Durchführung kommt – nur einmal vollziehen. Im nächsten Jahre wird sich der wohlhabende Bauer hüten, mehr zu erzeugen, als er selbst braucht. So wird der Ertrag der Landwirtschaft eingeschränkt. Was der Bauer aber trotzdem an Überschüssen erzielt, das versteckt er, und liefert es nur heimlich an Schleichhändler ab.

Gleichzeitig stockt die Industrie – so können die Staatsausgaben nur gedeckt werden durch grenzenlose Ausgabe neuen Papiergeldes. Aus diesen Zuständen erwachsen, wie in der Zeit der französischen Revolution, und wie heute auch, obschon nicht in so hohem Maße, in Deutschland, Valutaspekulationen, Schleichhandel, Wucher. Die höchste Form des Kapitalismus, diejenige, die die Produktivität der Arbeit entfaltet und die materiellen Grundlagen zu einer höheren Lebensführung der Massen schafft, hat man vorzeitig über den Haufen geworfen, um seine tiefststehenden parasitischen Formen aufs stärkste aufleben zu lassen.

Natürlich sucht das Sowjetregime ebenso wie die französische Schreckensherrschaft, dieser Geißeln Herr zu werden durch Vernichtung der Spekulanten, der Schleichhändler, der Warenwucherer. Damals guillotinierte man sie, heute ist das Erschießen in der Mode. Aber der Mißerfolg ist der gleiche. Das einzige Resultat besteht darin, daß heute ebenso wie 1793 die Risikoprämie wächst, die dieses Gaunerkapital nimmt, und die Höhe der Bestechungssummen in gleichem Maße zunimmt, die die neuen Diktatoren fordern und bekommen, wenn sich ein Unvorsichtiger in ihre Netze verfängt. Auch das wird wieder eine neue Basis der Ansammlung neuer Vermögen.

Wer nähere Belege über diese Bestechungswirtschaft der neuen russischen Bureaukratie haben will, den verweisen wir auf Gawronskys Bilanz des russischen Bolschewismus, die von S. 58 an einige Seiten mit der Vorführung von Bestechungsfällen füllt.

Wie dieser neuen „Diktatoren“ Herr werden, denen die Arbeitermassen „widerstandslos“ ausgeliefert sind? Wie zur Moralisierung der Massen weiß das Sowjetregiment auch zur Moralisierung ihrer Leiter nur das Auskunftsmittel des Schreckens der Gerichte. Wird die Diktatur des Proletariats übertrumpft durch die Diktatur seiner „Organisatoren“, so soll diese wieder übertrumpft werden durch die Diktatur der Gerichte.

Ein Netz von Revolutionstribunalen und außerordentlicher Kommissionen „zur Bekämpfung der Gegenrevolution, der Spekulation und der Vergehen im Amte“ wird geschaffen, die nach Willkür über jeden urteilen, der ihnen denunziert wird und nach Belieben jeden erschießen lassen, der ihnen nicht paßt, jeden Spekulanten und Schleichhändler, den sie erwischen, sowie deren Helfershelfer unter den Sowjetbeamten. Aber sie bleiben dabei nicht stehen, sondern packen auch jeden ehrlichen Kritiker dieser ganzen furchtbaren Mißwirtschaft. Unter dem Sammelnamen der „Gegenrevolution“ wird jede Art der Opposition zusammengefaßt, welchen Kreisen und Motiven immer sie entspringen, welche Mittel immer sie anwenden, welche Ziele sie sich stecken mag.

Doch leider hilft auch dieses summarische Verfahren nicht. Vielmehr machen die ehrlichen Kämpfer unter den Bolschewiki entsetzt die Erfahrung, daß diese außerordentlichen Kommissionen, die letzte Hoffnung zur Sanierung der Revolution, ebenfalls korrupt sind. Gawronsky zitiert (S. 61) folgenden Schmerzensschrei der Wochenschrift der außerordentlichen Kommission:

„Von allen Seiten gelangen an uns Nachrichten, daß in die Gouvernementsund besonders in die Bezirkskommissionen sich nicht nur unwürdige, sondern direkt verbrecherische Elemente einzuschleichen suchen.“

Gawronsky teilt aber auch Stimmen mit (S. 62), die darauf hinweisen, daß diese Einschleichung nicht nur versucht wird, sondern oft gelingt. So einen Artikel aus dem Arbeitswillen, dem Zentralorgan des revolutionären Kommunismus, 10. Oktober 1918:

„In aller Erinnerung sind noch Fälle, in denen die lokalen Sowjets durch die ,außerordentlichen’ buchstäblich terrorisiert wurden. Es fand eine natürliche Auslese statt: in den Sowjets blieben die besseren Elemente, während sich in den außerordentlichen Kommissionen hergelaufene Menschen ansammelten, die für jede Art Banditentum sofort zu haben waren.“

So bleibt von dem Programm der Erneuerung der Menschheit durch den Sozialismus bei der bolschewistischen Methode schließlich nichts übrig, als ein paar ehrliche Kämpfer inmitten einer wachsenden Schlammflut von Unwissenheit, Korruption und Verzweiflung, die immer höher reicht und sie schließlich zu ersäufen droht.
 

e) Die Wandlung des Bolschewismus

Viele Revolutionäre des Westens weisen triumphierend darauf hin, daß der Bolschewismus sich solange am Ruder hält und zurzeit, wo diese Zeilen geschrieben werden (Mai 1919), noch äußerlich ungebrochen ist. Und doch hätten ihm seine Kritiker schon bei Beginn seiner Herrschaft seinen baldigen Zusammenbruch geweissagt.

Zu diesem Zusammenbruch wäre es in der Tat schon längst gekommen, wenn die Bolschewiki ihrem Programm treu blieben. Sie haben sich nur dadurch erhalten, daß sie ein Stück davon nach dem andern preisgaben, um schließlich bei dem Gegenteil dessen anzukommen, was sie zu erreichen trachteten.

Sie haben, um zur Macht zu gelangen, ihre demokratischen Grundsätze über Bord geworfen. Sie haben, um sich in der Macht zu erhalten, ihre sozialistischen Grundsätze den demokratischen nachfolgen lassen. Sie haben sich als Personen behauptet, aber ihre Grundsätze geopfert und sich dadurch als echte Opportunisten erwiesen. Der Bolschewismus hat in Rußland bis jetzt gesiegt, doch der Sozialismus schon jetzt dort eine Niederlage erlitten.

Man sehe sich nur die Gesellschaftsform an, die sich unter dem Regime des Bolschewismus entwickelt hat – mit Notwendigkeit entwickelt hat, sobald die bolschewistische Methode in Anwendung kam. Rekapitulieren wir kurz das oben entwickelte:

Wir finden im heutigen bolschewistischen Rußland eine Bauernschaft auf der Grundlage uneingeschränkten Privateigentums und vollster Warenproduktion. Sie führt ein Leben für sich, ohne organische Vereinigung mit der städtischen Industrie. Da diese Industrie keinen Warenüberschuß für das flache Land produziert, kommt auch die freiwillige legale Ablieferung von landwirtschaftlichen Produkten in die Stadt immer mehr ins Stocken. Sie wird ergänzt einesteils durch gewaltsame Requisitionen, Plünderungen ohne Entgeld, andererseits durch illegalen Schleichhandel, der aus der Stadt die letzten Reste früher aufgehäufter Industrieprodukte aufs Land entführt.

Den Bauern hat der Bolschewismus nach der Zertrümmerung des großen Grundbesitzes nichts mehr zu bieten. Ihre Liebe zu ihm schlägt in Haß um, in Haß gegen die städtischen Arbeiter, die nicht arbeiten, keine Produkte für die Landwirtschaft liefern; in Haß gegen die Machthaber, die Soldaten aufs Dorf schicken, um dort Lebensmittel zu requirieren; in Verachtung für die städtischen Wucherer und Schleichhändler, die dem Bauern seinen Überschuß durch betrügerische Tauschgeschäfte aller Art abzuluchsen suchen.

Neben dieser rein kleinbürgerlichen Wirtschaft auf dem Lande erhebt sich in der Stadt eine Gesellschaft, die sozialistisch sein will. Sie wollte die Klassenunterschiede aufheben. Sie begann mit der Erniedrigung und Zerstörung der oberen Klassen und endet als eine neue Klassengesellschaft. Sie enthält drei Klassen.

Die unterste umfaßt die ehemaligen „Bourgeois“, Kapitalisten, Kleinbürger, Intellektuelle, soweit sie oppositionell gesinnt sind. Politisch rechtlos gemacht, aller Mittel beraubt, werden sie zeitweise zu Zwangsarbeiten widerlichster Art gepreßt und dafür mit Rationen an Nahrungsmitteln beteilt, die jammervollste Hungerrationen oder vielmehr wahrhafte Verhungerrationen darstellen. Die Hölle dieses Heldentums kann sich mit den scheußlichsten Auswüchsen messen, die der Kapitalismus je erzeugt hat. Seine Schaffung ist die ureigenste gewaltige Tat des Bolschewismus, sein erster großer Schritt zur Befreiung der Menschheit.

Über dieser untersten Klasse steht als Mittelklasse die Lohnarbeiterschaft. Sie ist politisch privilegiert. Nur sie verfügt nach dem Wortlaut der Verfassung in der Stadt über das Wahlrecht, über Preß- und; Koalitionsfreiheit. Sie darf sich ihre Beschäftigung wählen, wird für eine Arbeit, die sie selbst regelt, ausreichend entlohnt. Oder vielmehr, so war es, denn es stellte sich immer mehr heraus, daß bei dem gegebenen Niveau der großen Masse der Lohnarbeiter Rußlands die Industrie bei diesen Einrichtungen immer mehr zu funktionieren aufhörte.

Um die Industrie zu retten, mußte über den Arbeitern eine neue Klasse von Beamten aufgerichtet werden, die immer mehr die wirkliche Macht an sich riß, die Freiheiten der Arbeiter in Scheinfreiheiten verwandelte. Das geschah natürlich nicht ohne Widerstand der Arbeiter, der um so mehr wuchs, als bei dem allgemeinen Verfall der Industrie sowie des Transportwesens und der wachsenden Abschließung des flachen Landes von der Stadt deren Ernährungsverhältnisse schließlich auch für die Arbeiter trotz ihrer gestiegenen Geldlöhne immer trostloser wurden.

Die Begeisterung für die Bolschewiki schwand bei einer Arbeiterkategorie nach der andern, aber deren Opposition stand unorganisiert, zersplittert und unwissend der geschlossenen Phalanx einer im Vergleich zu ihnen höher gebildeten Bureaukratie gegenüber. Gegen die kamen sie nicht auf.

So entwickelt sich aus der Alleinherrschaft der Arbeiterräte die Alleinherrschaft der zum Teil aus den Arbeiterräten hervorgegangenen, zum Teil von ihnen eingesetzten, zum Teil ihnen aufoktroyierten neuen Bureaukratie, der höchsten der drei Klassen in der Stadt, der neuen Herrenklasse, die sich unter der Leitung der alten, kommunistischen Idealisten und Kämpfer bildet.

Der Absolutismus des „Tschin“, der alten Bureaukratie, ersteht wieder, in neuem, aber, wie wir gesehen haben, keineswegs verbessertem Gewande. Und aus ihm sowie neben ihm bilden sich auch schon wieder durch direkt verbrecherische Praktiken die Keime eines neuen Kapitalismus, der tief unter dem früheren industriellen Kapitalismus steht.

Nur der alte, feudale Großgrundbesitz ersteht nicht wieder. Für seine Abschaffung waren die Verhältnisse reif in Rußland. Nicht aber für die des Kapitalismus. Der letztere feierte wieder seine Auferstehung, jedoch in Formen, die für das Proletariat noch drückender und quälender sind als die alten. Der private Kapitalismus nimmt statt seiner hohen, industriellen Formen die erbärmlichsten, lumpigsten Formen des Schleichhandels und der Geldspekulation an. Der industrielle Kapitalismus ist aus einem privaten zu einem Staatskapitalismus geworden. Ehedem standen sich die Bureaukratie des Staates und die des privaten Kapitals kritisch, sehr oft feindselig gegenüber. Da fand der Arbeiter eher noch einmal gegen jene, ein andermal gegen diese sein Recht. Heute sind staatliche und kapitalistische Bureaukratie zu einem Körper verschmolzen: das ist das Schlußergebnis der großen, sozialistischen Umwälzung, die der Bolschewismus gebracht hat. Das bedeutet die drückendste aller Despotien, die Rußland bisher gehabt. Die Ersetzung der Demokratie durch die Willkürherrschaft der Arbeiterräte, die zur Expropriierung der Expropriateure dienen sollte, wird nun zur Willkürherrschaft der neuen Bureaukratie, ermöglicht es, auch für die Arbeiter die Demokratie zu einem toten Buchstaben zu machen, indes sie gleichzeitig in größere ökonomische Abhängigkeit geraten, als sie je zu erdulden hatten.

Dabei wird der Verlust an Freiheit für sie nicht durch Vermehrung von Wohlstand wettgemacht. Die neue ökonomische Diktatur funktioniert ja etwas besser, als die ihr vorhergehende ökonomische Anarchie, die das rascheste Ende herbeigeführt hätte. Dies Ende wird durch die Diktatur hinausgeschoben, aber nicht beschworen, denn ökonomisch wirtschaftet auch die neue Bureaukratie nicht.

Wie unbefriedigend bisher die neue Organisation funktioniert, beweist unter anderem folgender Notschrei des Kommissars für das Verkehrswesen, Krassin, den jüngst die Prawda veröffentlichte. Sein Erlaß hat folgenden Wortlaut:.

„1. Das bestehende System der Eisenbahnverwaltung hat in Verbindung mit den durch fünf Jahre Krieg geschaffenen objektiven Schwierigkeiten, das Verkehrswesen dein völligen Zerfall zugeführt, der einer endgültigen Stillegung der Verkehrswege nahekommt.

2. Der Zerfall ist nicht nur auf falsche organisatorische Formen und Verwaltungsmethoden, nicht nur auf die verringerte Leistungsfähigkeit des Personals zurückzuführen, sondern auch auf den zu häufigen Wechsel der Verwaltungsformen und -organe.

3. Die vor uns stehende Aufgabe – Wiederherstellung des Transportwesens in einem Umfange, der wenigstens die Bedürfnisse der Hungerration und der Industrie an Brennmaterial und Rohstoffen zufriedenzustellen vermag –, diese Aufgabe ist nur unter heroischer Anspannung der Eisenbahnerkräfte zu bewältigen.

4. Diese Arbeit muß sofort geschehen, keine Stunde darf versäumt werden, da sonst allen Errungenschaften der Revolution Vernichtung droht.

5. An Stelle der kollegialen, in Wirklichkeit verantwortungslosen Verwaltung, sind die Grundsätze persönlicher Verwaltung und erhöhter Verantwortlichkeit zu verwirklichen: alle, vom Weichensteller bis zum Mitgliede des Kollegiums, müssen genau und unentwegt meine sämtlichen Vorschriften befolgen. Reformen sind einzustellen und überall, wo dies möglich ist, sind die alten Stellungen wieder zu beziehen, der alte, technische Apparat an der Zentralstelle und auf der Strecke wiederherzustellen und zu unterstützen.

6. Die Einführung der Akkordarbeit ist eine Notwendigkeit.“

Krassin ist eines der wenigen bedeutenden, praktisch geschulten und wissenschaftlich gebildeten Organisationstalente der Sowjetregierung. Und die Eisenbahner bildeten eine Elite der russischen Arbeiterschaft; sie hatten schon unter dem Zarismus eine gute Organisation entwickelt und stets große Intelligenz gezeigt. Und trotzdem diese Zustände!

Der Erlaß zeigt deutlich, daß die Folgen des Krieges nicht allein an der Notlage schuld sind, wie vielfach behauptet wird. Diese Folgen haben die Notlage nur noch verschärft. Es ist die Unreife der Verhältnisse, die „allen Errungenschaften der Revolution Vernichtung droht“. Um die Revolution zu retten, erscheint es dringend notwendig, „Reformen aufzuheben, die alten Stellungen wieder zu beziehen und den alten Apparat wiederherzustellen“, also die Revolution des Systems ungeschehen zu machen, um die Männer der Revolution zu retten.

Natürlich wird dieses Dekret ebensowenig die Menschen umwandeln, die es auszuführen haben als es anderen Dekreten vorher gelungen ist.

Wie der alte Kapitalismus, produziert auch dieser neue „Kommunismus“ seine Totengräber selbst. Doch der alte Kapitalismus erzeugte nicht bloß sie, sondern auch neue gewaltige, materielle Produktivkräfte, die es seinen Totengräbern erlauben, neue, höhere Lebensformen an Stelle der absterbenden zu setzen. Der Kommunismus unter den jetzigen Bedingungen Rußlands kann nur die Produktivkräfte verkümmern, die er vorfindet. Seine Totengräber werden nicht zu höheren Lebensformen übergehen können, sondern in wiedergekehrten barbarischen Lebensformen von neuem beginnen müssen.

Selbst vorübergehend kann sich ein derartiges Regime nur halten, wenn es sich auf ein starkes Gewaltmittel stützt, auf eine blind gehorchende Armee. Die haben die Bolschewiki geschaffen, und auch auf diesem Gebiete, um sich zu behaupten, ihren Grundsätzen eine Niederlage bereitet.

Sie zogen aus, um die „fertige Staatsmaschinerie“ mit ihrem militärischen und bureaukratischen Apparat zu zerbrechen. Nachdem sie das besorgt, sehen sie sich genötigt, im Interesse ihrer Selbsterhaltung einen derartigen Apparat von neuem zu schaffen.

Sie waren zur Macht gekommen als Wortführer der Auflösung der Armee durch Soldatenräte, die ihre Offiziere nach Belieben ab- und einsetzten und ihnen gehorchten, wenn es ihnen beliebte. Die Soldatenräte neben den Arbeiterräten waren das A und O der bolschewistischen Politik. Ihnen sollte alle Macht zuteil werden.

Doch nach Tisch las man’s anders. Sobald die Bolschewiki auf Widerstand stießen, brauchten sie eine Armee, die kämpfte und ihnen in jeder Weise zu Gebote stand, nicht eine Armee, die auseinanderlief oder in der jedes Bataillon seine Operationen nach seinem Gutdünken einrichtete.

Anfänglich mochte die Begeisterung den Kadavergehorsam ersetzen. Aber was dann, als die Begeisterung der Arbeiter zu schwinden begann, Freiwillige sich immer spärlicher meldeten und einzelne Truppenteile anfingen, unbotmäßig zu werden?

In der Industrie erheischt der demokratische Betrieb eine gewisse Reife materieller und geistiger Bedingungen. In einer Armee, die Schlagkraft entwickeln soll, ist schon ihrem Wesen nach die Demokratie ausgeschlossen. Der Krieg war stets das Grab der Demokratie. Auch der Bürgerkrieg, wenn er lange währte. Der Bolschewismus erzeugte mit Notwendigkeit den Bürgerkrieg und damit auch mit Notwendigkeit die Abschaffung der Soldatenräte. Die bolschewistische Diktatur hat die Arbeiterräte bloß zu Schatten herabgewürdigt, indem sie ihre Neuwahlen erschwerte und jegliche Opposition aus ihnen ausschloß. Den Soldatenräten aber hat sie alle wichtigen Funktionen und ebenso die Erwählung der Offiziere genommen. Wie ehedem, werden diese von der Regierung eingesetzt. Und da die Freiwilligen nicht ausreichen, greift man auch wieder, wie vor dem Bolschewismus, zur zwangsweisen Rekrutierung. Das wird zu einem neuen Gegenstand von Konflikten der Bevölkerung mit der Regierung. Zahlreiche Bauernaufstände entspringen daraus, die wieder eine Vermehrung der Armee bedingen. Massendesertionen sind in ihr an der Tagesordnung, die durch Massenerschießungen geahndet werden.

Die Humanité vom 29. Mai 1919 bringt einen dem Bolschewismus sehr freundlichen Bericht, gestützt auf Beobachtungen eines Augenzeugen aus Rußland, unter dem Titel Les Principes communistes et leur Application, der zum Schluß folgenden Passus enthält:

„Die rote Armee ist das Werk der Entente. Das bolschewistische Regime hat zu wiederholten Malen seinen Antimilitarismus verkündet. Das so friedfertige russische Volk verabscheut den Krieg heute ebensosehr wie gestern und wie zu jeder Zeit. Es setzt der Rekrutierung einen hartnäckigen Widerstand entgegen. Es gibt in der roten Armee ebenso viele Desertionen wie ehedem im Heere des Zaren. Es kommt vor, daß ein Regiment die ihm vorgeschriebene Etappe nicht erreicht, weil alle seine Leute auf dem Wege davongelaufen sind.“

Eine etwas eigenartige Manier der roten Armee, der Begeisterung für die bolschewistischen Prinzipien Ausdruck zu geben.

Hält man sich nur an die Tatsachen, ohne ihre apologetische Begründung, dann zeigen sie, daß auch auf dem militaristischen Gebiete die alten zaristischen Zustände wiederkehren, bloß noch etwas verschlechtert, denn der neue Militarismus entwickelt unleugbar größere Energie als der alte, trotz der Verkündigung seiner antimilitaristischen Prinzipien. Darin wiederholen sich die Verhältnisse, die in der großen französischen Revolution die Umwandlung der Republik zum napoleonischen Kaiserreich vorbereiteten.

Doch ist es Lenin nicht bestimmt, als ein russischer Napoleon zu enden. Der korsische Bonaparte gewann sich die Herzen der Franzosen dadurch, daß er die Fahnen Frankreichs siegreich durch ganz Europa trug. Das gab den einen die Genugtuung, daß es die Grundsätze der Revolution waren, die Europa eroberten, den anderen die vielleicht noch lebhaftere Genugtuung, daß die Armeen Frankreichs ganz Europa plünderten und mit dem Ertrage Frankreich bereicherten.

Rußland ist nur stark in der Defensive. Dieselben Verkehrsschwierigkeiten, die eine Invasionsarmee hemmen, hindern es, eine eigene Armee siegreich über seine Grenze vordringen zu lassen. Auch Lenin möchte wohl gern die Fahnen seiner Revolution siegreich durch Europa tragen, aber er hat keine Aussicht darauf. Der revolutionäre Militarismus der Bolschewiki wird nicht Rußland bereichern, er kann nur zu einer neuen Quelle seiner Verarmung werden. Heute arbeitet die russische Industrie, soweit sie wieder in Gang gebracht wurde, vornehmlich für die Armee, nicht zu produktiven Zwecken. Der russische Kommunismus ist tatsächlich in jeder Beziehung zum Kasernensozialismus geworden.

Der ökonomische und damit auch der moralische Mißerfolg der bolschewistischen Methode ist unvermeidlich. Er könnte nur verschleiert werden, wenn er in einem militärischen Zusammenbruch endete.

Keine Weltrevolution, keine Hilfe von außen könnte das ökonomische Versagen der bolschewistischen Methode verhindern. Die Aufgabe des europäischen Sozialismus gegenüber dem „Kommunismus“ ist eine andere: dafür zu sorgen, daß die moralische Katastrophe einer bestimmten Methode des Sozialismus nicht zur Katastrophe des. Sozialismus überhaupt wird, daß diese Methode von der marxistischen genau unterschieden und den Massen dieser Unterschied zum Bewußtsein gebracht wird. Jene radikale sozialistische Presse versteht die Interessen der sozialen Revolution sehr schlecht, die glaubt, ihnen nur dadurch dienen zu können, daß sie den Massen die Identität von Bolschewismus und Sozialismus predigt und sie im Glauben erhält, die jetzige Form der Sowjetrepublik, weil sie unter der Flagge der Allmacht der Arbeiterschaft und des Sozialismus segelt, stelle auch tatsächlich dessen Verwirklichung dar.
 

f) Der Terror

Die hier dargestellte Entwicklung entsprang natürlich nicht dem Wollen der Bolschewiki. Im Gegenteil, sie war etwas ganz anderes, ak sie gewoDt hatten, und sie suchten sich auch mit allen Mitteln dagegen zu wehren, die aber alle schließlich auf dasselbe Rezept hinausliefen, mit dem das bolschewistische Regime von Anfang an gearbeitet hatte, auf Gewalt, auf die willkürliche Gewalt einiger Diktatoren, denen gegenüber selbst die leiseste Kritik unmöglich gemacht wurde. Das Schreckensregiment wurde die unvermeidliche Folge der kommunistischen Methoden.. Es ist der verzweifelte Versuch, deren Konsequenzen abzuwehren.

Unter den Erscheinungen, die der Bolschewismus gezeitigt hat, ist der Terrorismus, der mit der Aufhebung jeglicher Preßfreiheit beginnt und in einem System der Massenerschießungen gipfelt, wohl die auffallendste und abstoßendste, diejenige, die den größten Haß gegen die Bolschewiki hervorruft. Und doch ist sie nur ihr tragisches Verhängnis, nicht ihre Schuld, soweit man bei einer so gewaltigen historischen Massenerscheinung überhaupt von einem Verschulden reden darf, das ja im Grunde genommen stets nur eine persönliche sein kann. Wer eine Schuldfrage erörtern will, hat die Übertretung moralischer Gebote durch einzelne Personen zu untersuchen, wie ja auch der Wille, genau genommen, stets nur der einzelner Personen sein kann. Eine Masse, Klasse, Nation kann in Wirklichkeit nicht wollen, es fehlt ihr das Organ dazu,, sie kann also auch nicht sündigen. Eine Masse oder Organisation kann einheitlich handeln, jedoch die Motive jedes der Handelnden mögen sehr verschieden sein. Die Motive aber sind entscheidend für die moralische Schuld.

Die Motive der Bolschewiki waren sicher die besten. Sie zeigten sich beim Beginn ihrer Herrschaft auch ganz erfüllt von den Humanitätsidealen, die der Klassenlage des Proletariats entspringen. Ihr erstes Dekret verfügte die Aufhebung der Todesstrafe. Und doch, wenn man von einer Schuld bei ihnen reden will, fällt sie gerade in die Zeit dieses Dekrets, als sie sich entschlossen, um der Macht willen die Grundsätze der Demokratie und des historischen Materialismus preiszugeben, die sie jahrzehntelang unbeugsam verfochten hatten. Ihre Schuld fällt in die Zeit, als sie gleich den Bakunisten Spaniens aus dem Jahre 1873 die „sofortige vollständige Emanzipation der Arbeiterklasse“ trotz der Rückständigkeit Rußlands proklamierten und zu diesem Zwecke, da die Demokratie „versagte“, ihre eigene Diktatur unter der Firma der Diktatur des Proletariats aufrichteten.

Hier mag man ihre Schuld suchen. Sobald sie einmal diese Bahn betreten hatten, konnten sie dem Terrorismus nicht entgehen. Der Gedanke einer friedlichen wirklichen Diktatur ohne Gewalttat ist eine Illusion.

Die Werkzeuge des Terrorismus wurden die Revolutionstribunale und außerordentlichen Kommissionen, von denen wir schon gesprochen haben. Die einen wie die andern haben furchtbar gehaust, ganz abgesehen von den militärischen Strafexpeditionen, deren Opfer nicht zu zählen sind. Die der außerordentlichen Kommissionen werden auch schwer jemals vollständig zu ermitteln sein. Sie gehen auf jeden Fall in die Tausende. Die geringste Angabe nennt eine Summe von 6000. Andere geben das doppelte, ja das dreifache an. Und dazu noch zahllose nach Willkür eingekerkerte, zu Tode mißhandelte und gefolterte Opfer.

Die Verteidiger des Bolschewismus berufen sich darauf, daß die Gegner, die weißen Garden der Finnen, die baltischen Barone, die gegenrevolutionären zaristischen Generäle und Admiräle es auch nicht besser machen. Aber bildet es eine Rechtfertigung des Diebstahls, daß andere stehlen?

Die andern aber verletzen nicht ihre Grundsätze, wenn sie Menschenleben willkürlich opfern, um sich an der Macht zu behaupten, die Bolschewiki dagegen können es nur tun, indem sie den Grundsätzen von der Heiligkeit des Menschenlebens untreu werden, die sie selbst verkündigt haben, durch die sie selbst erhoben und gerechtfertigt wurden. Bekämpfen wir alle diese Barone und Generäle nicht gerade deshalb, weil ihnen Menschenleben so wohlfeil waren, als bloßes Mittel für ihre eigenen Machtzwecke galten?

Freilich sagt man, eben der Zweck bilde den Unterschied. Der höhere Zweck heilige das Mittel, das in den Händen der Machthaber durch deren infame Zwecke ruchlos werde. Doch der Zweck heiligt nicht jedes Mittel, sondern nur solche, die in Einklang mit ihm stehen. Ein zweckwidriges Mittel wird durch den Zweck nicht geheiligt. So wenig man das Leben verteidigen soll durch Opferung dessen, das ihm Inhalt und Zweck gibt, ebensowenig darf man seine Grundsätze verfechten durch ihre Preisgabe. Die gute Absicht mag diejenigen entschuldigen, die verkehrte Mittel anwenden, diese Mittel selbst bleiben trotzdem verwerflich. Um so mehr, je größer der Schaden, den sie anrichten.

Aber nicht einmal der Zweck des bolschewistischen Terrorismus ist einwandsfrei. Seine nächste Aufgabe ist die, den militaristisch-bureaukratischen Machtapparat am Ruder zu erhalten, den sie geschaffen haben. Allerdings soll das durch Bekämpfung der Korruption innerhalb dieses Apparats geschehen.

In der „Prawda“ vom 1. April d. J. hatte Professor Dukelski gefordert, der Bolschewismus und die Regierungsinstitutionen sollten gesäubert werden von all den Mitläufern, Banditen und Abenteurern, die sich dem Kommunismus angeschlossen haben, um ihn für die eigenen verbrecherischen Ziele auszubeuten. Darauf entgegnete Lenin:

„Der Verfasser des Briefes verlangt, daß wir unsere Partei von den Abenteurern und Banditen säubern – eine ganz berechtigte Forderung, die wir schon längst aufgestellt haben und durchführen. Banditen und Abenteurer erschießen wir und werden wir weiter erschießen. Doch damit diese Säuberung schneller und gründlicher vor sich geht, brauchen wir die Hilfe der aufrichtigen und parteilosen Intelligenz.“

Erschießen – das ist das A und O der kommunistischen Regierungsweisheit geworden. Doch fordert Lenin nicht die Intelligenz auf, im Kampfe gegen die Banditen und Abenteurer zu helfen? Allerdings, nur enthält er ihr das einzige Mittel vor, durch das sie helfen könnte: die Preßfreiheit. Die Kontrolle durch eine unbeschränkte Preßfreiheit allein vermag jene Banditen und Abenteurer im Zaume zu halten, die sich unvermeidlich an jede unbeschränkte, unkontrollierte Regierungsmacht herandrängen, ja oft durch das Fehlen der Preßfreiheit erst gezüchtet werden.

Doch die russische Presse ist heute ausschließlich in den Händen jener Regierungsinstitutionen, in denen die Abenteurer und Banditen drin sitzen. Und welche Garantie hat Lenin bei diesem Zustande, daß nicht die Abenteurer und Banditen auch in die Revolutionstribunale und außerordentlichen Kommissionen hineinkommen und mit ihrer Hilfe die „aufrichtige und parteilose Intelligenz“ erschießen lassen, die ihnen sonst auf die schmutzigen Finger sehen könnte?

Gerade die außerordentlichen Kommissionen zur Bekämpfung der Korruption haben die absoluteste Machtvollkommenheit und sind völlig frei von jeder Kontrolle, arbeiten also am meisten unter Bedingungen, die die Korruption begünstigen. Das Revolutionstribunal von 1793 besaß auch schon ein unerhörtes Maß willkürlicher Gewalt. Die Rechtsgarantien der Angeklagten waren minimal. Aber immerhin verhandelte es öffentlich, so war doch einige Kontrolle seines Tuns möglich. Die außerordentlichen Kommissionen der Sowjetrepublik verhandeln geheim, ohne jegliche Rechtsgarantien für den Angeklagten. Es ist nicht einmal unbedingt notwendig, ihn selbst, geschweige seine Zeugen zu verhören. Eine bloße Denunziation, ein bloßer Verdacht genügt, ihn um die Ecke zu bringen.

Dieser Mißstand nahm solche Dimensionen an, daß seine Abschaffung verfügt wurde. Es wurde bestimmt, daß die Kommissionen nicht mehr Erschießungen ohne Untersuchung und Urteil vornehmen dürfen. Aber die Willkür ist so mit dem Wesen der Diktatur verquickt, daß sie nicht ohne diese aufzuheben ist. Die betreffende Bestimmung annulliert sich auch gleich selbst, indem sie eine Ausnahme zuläßt bei „offenbar gegenrevolutionären Verschwörungen“. Damit ist natürlich jeder willkürlichen Erschießung das weiteste Tor geöffnet. Wird aber die Bestimmung genau innegehalten, so schützt sie bloß die Räuber und Banditen, nicht aber die „aufrichtige und parteilose Intelligenz“, durch deren Auftreten die Regierungsinstitutionen gesäubert werden sollen. Denn was ist eine solche Säuberung anderes als eine „Gegenrevolution“?

Die leistesten Äußerungen von Unzufriedenheit werden mit derselben Strenge bedroht wie das Banditentum. Und diese Androhung wird nicht durch Gegenwirkungen durchkreuzt, denn sie betrifft ein Gebiet, auf dem die ehrlichen Kommunisten und die Banditen das gleiche Interesse haben. Der Kritik am Sowjetregime gegenüber wirken sie einmütig zusammen, da ist von Milderung keine Rede.

So gab erst jüngst die Allrussische außerordentliche Kommission zur Bekämpfung der Gegenrevolution und der Vergehen im Amte bekannt:

„Eine Reihe in letzter Zeit ausgebrochener Unruhen zeugen davon, daß die Lorbeeren Krassnoffs auch die Sozialisten-Revolutionäre des linken Flügels und die Menschewiki des linken Flügels nicht ruhen lassen.

Ihre ganze Tätigkeit zielt ausschließlich auf die Zersetzung unseres Heeres ab (Brjansk, Ssamara, Smolensk), auf die Zerrüttung unserer Industrie (Petrograd, Tula), unseres Transport- und Ernährungswesens (Eisenbahnerstreiks).

Die Allrussische Außerordentliche Kommission erklärt hiermit, daß sie keinen Unterschied machen werde zwischen der Weißen Garde aus den Reihen der Krassnoffschen Truppe und der Weißen Garde aus der Partei der Menschewiki und der Sozialisten-Revolutionäre des linken Flügels.

Die strafende Hand der Außerordentlichen Kommission wird mit gleicher Härte die einen wie die andern treffen.

Die von uns verhafteten linken Sozialisten-Revolutionäre und Menschewiki werden als Geiseln gelten, deren Schicksal von dem Verhalten der beiden Parteien abhängen wird.

Der Vorsitzende der Allrussischen Außergewöhnlichen Kommission

F. Dzerschinski

(Entnommen der Iswestija des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees, Nr. 59, vom 1. März 1919)“

Also weil sich im Heere Anzeichen von Zersetzung bemerkbar machen, unter den Industriearbeitern und den Eisenbahnern die Unzufriedenheit wächst, werden die führenden Elemente der nichtbolschewistischen Sozialisten in Haft genommen, um bei dem geringsten Anzeichen weiterer proletarischer Opposition ohne weiteres erschossen zu werden.

Die Niederhaltung des unzufriedenen Proletariats – das ist der erhabene Zweck, den heute das verruchte Mittel des Massenmordes in Rußland heiligen soll. Es vermag nicht den ökonomischen Mißerfolg zu einem Erfolg zu gestalten.

Es kann nur bewirken, daß der Fall des Bolschewismus von den Massen Rußlands nicht in gleicher Weise aufgenommen würde, wie der Fall der zweiten Pariser Kommune vom gesamten sozialistischen Proletariat, sondern wie der Fall Robespierres am 9. Thermidor 1794 von ganz Frankreich: als eine Erlösung von schwerem Druck, nicht als eine mit ingrimmigem Schmerz empfundene Niederlage.
 

g) Die Aussichten der Sowjetrepublik

Der Regierung Lenins droht ein 9. Thermidor. Doch kann es auch anders kommen. Die Geschichte wiederholt sich nicht. Eine Regierung, die sich ein Ziel setzt, das unter den gegebenen Umständen unerreichbar ist, kann auf zweierlei Arten scheitern: sie wird schließlich gestürzt, wenn sie mit ihrem Programm steht und fällt. Sie kann sich behaupten, wenn sie ihr Programm entsprechend abändert und schließlich aufgibt. Für die Sache kommt auf dem einen Wege dasselbe Ergebnis, das heißt, der gleiche Mißerfolg heraus, wie auf dem andern. Für die beteiligten Personen aber macht es einen gewaltigen Unterschied, ob sie die Staatsmacht in ihren Händen behalten oder als gestürzte Größen der Wut ihrer Feinde machtlos ausgeliefert sind.

Robespierre stürzte am 9. Thermidor. Aber nicht alle Jakobiner teilten sein Los. Durch kluge Anpassung an die Verhältnisse sind manche noch hoch gestiegen. Napoleon selbst hatte zu den Schreckensmännern gehört, war mit dem Brüderpaar Robespierre befreundet gewesen. Ihre Schwester Maria sagt später:

„Buonaparte war ein Republikaner; ich will sogar sagen, daß er auf seiten der Bergpartei stand ... Seine Bewunderung für meinen älteren Bruder, seine Freundschaft für meinen jüngeren Bruder und vielleicht auch die Teilnahme, die ihm mein Unglück einflößte, verschaffte mir unter dem Konsulat eine Pension von 3.600 Frcs.“ [2]

Nicht nur einzelne Menschen, ganze Parteien können sich wandeln und auf diese Weise aus einer unhaltbaren Position mit heiler Haut, ja mit Macht und Ansehen herauskommen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß das Scheitern des kommunistischen Experiments in Rußland den Bolschewismus ebenfalls umformt und als regierende Partei rettet. Betreten ist der Weg schon. Als richtige Realpolitiker haben die Bolschewiki die Kunst der Anpassung an die Verhältnisse im Laufe ihrer Herrschaft in hohem Grade entwickelt.

Sie waren ursprünglich grundsätzliche Verfechter einer mit allgemeinem, gleichem Stimmrecht gewählten Nationalversammlung, und haben sie beseitigt, sobald sie ihnen im Wege stand. Sie waren grundsätzliche Gegner der Todesstrafe und haben eine blutige Herrschaft aufgerichtet. Sie waren nach dem Aufgeben der Demokratie im Staate glühende Anwälte der Demokratie innerhalb des Proletariats. Sie drängen sie immer mehr zurück durch persönliche Diktatur. Sie hoben das Akkordsystem auf und führten es wieder ein. Sie bezeichneten es bei Beginn ihres Regimes als ihre Aufgabe, den bureaukratischen Herrschaftsapparat des alten Staates zu zerbrechen. Sie haben einen neuen an dessen Stelle gesetzt. Sie kamen zur Macht durch Auflösung der Disziplin im Heere und schließlich dieses selbst. Sie haben ein neues, stramm diszipliniertes Massenheer geschaffen. Sie wollten die Nivellierung der Klassen und haben neue Klassenunterschiede hervorgerufen, eine unter dem Proletariat stehende Klasse gebildet, dieses selbst zu einer privilegierten Klasse erhoben und über diesem eine neue Klasse mit großen Einkommen und Privilegien erstehen lassen. Sie wollten auf dem Dorfe die besitzenden Bauern lahmlegen dadurch, daß sie die politischen Rechte ausschließlich den ärmsten Bauern vorbehielten. Sie haben den besitzenden Bauern wieder eine Vertretung zugestanden. Sie begannen mit der schonungslosen Expropriierung des Kapitals und sind heute Lereit, amerikanischen Kapitalisten die Bodenschätze halb Rußlands auszuliefern, um ihre Hilfe zu gewinnen, und dem auswärtigen Kapital auch sonst in jeder Weise entgegenzukommen.

Der französische Kriegsberichterstatter Ludovic Naudeau berichtete kürzlich im „Temps“ über eine Unterredung mit Lenin, in der dieser unter anderem folgendes über seine kapitalfreundlichen Absichten ausführte:

„Wir möchten gerne vorschlagen, daß wir die Zinsen unserer auswärtigen Anleihen anerkennen und bezahlen, und zwar in Ermangelung eines anderen Zahlungsmittels durch Lieferung von Weizen, Petroleum und allen Arten von Rohmaterialien, die wir zweifellos im Überfluß besitzen werden, sobald erst die Arbeit in Rußland in vollem Umfange aufgenommen werden kann. Wir sind auch entschlossen, auf Grund von Verträgen, die allerdings erst diplomatisch festzulegen wären, Untertanen der Ententemächte Konzessionen für die Ausbeutung von Waldungen und Bergwerken zu erteilen, natürlich unter der Voraussetzung, daß die wesentlichen Regierungsgrundlagen der russischen Sowjetrepublik anerkannt werden Wir wissen, daß englische, japanische und amerikanische Kapitalisten solche Konzessionen lebhaft anstreben ...“

Interviews sind nicht Dokumente, auf die man schwören kann. Aber die Absichten der Sowjetrepublik, von denen hier die Rede ist, werden von einer Reihe anderer, zuverlässiger Berichterstatter aus Rußland bestätigt. Sie bezeugen einen starken Sinn für die Realitäten des Lebens, bedeuten aber auch den Verzicht auf das kommunistische Programm, dessen Verwirklichung ziemlich weit hinausgeschoben wird, wenn man fremden Kapitalisten ein Stück Rußlands für 80 Jahre verpachtet.

Der Kommunismus als Mittel sofortiger Befreiung des russischen Proletariats ist demnach jetzt schon gescheitert, es handelt sich nur noch um die Frage, ob die Regierung Lenins den Bankerott der bolschewistischen Methode verschleiert ankündigen und sich dabei behaupten, oder eine gegenrevolutionäre Macht diese Regierung stürzen und den Bankerott brutal proklamieren wird.

Wir würden den ersteren Weg vorziehen, den Weg, daß der Bolschewismus sich wieder bewußt auf den Boden des marxistischen Evolutionismus stellt, der weiß, daß naturgemäße Entwicklungsphasen: sich nicht überspringen lassen. Er wäre der schmerzlosere und für das internationale Proletariat ersprießlichere. Aber leider richtet sich der Gang der Weltgeschichte nicht nach unseren Wünschen.

Die Erbsünde des Bolschewismus ist seine Verdrängung der Demokratie durch die Regierungsform der Diktatur, die einen Sinn nur hat als unumschränkte Gewaltherrschaft einer Person oder einer kleinen, fest zusammenhaltenden Organisation.

Mit der Diktatur ist es wie mit dem Kriege, und das mögen diejenigen in Deutschland beachten, die jetzt unter dem Einflüsse der russischen Mode mit dem Gedanken der Diktatur spielen, ohne ihn zu Ende zu denken. Wie den Krieg kann man auch die Diktatur leicht beginnen, wenn man über die Macht des Staates verfügt, man kann aber,, sobald man einmal begonnen hat, diese ebensowenig wie jenen nach Belieben abbrechen. Man wird vor die Alternative gestellt, zu siegen oder in einer Katastrophe zu enden.

Rußland bedarf dringend der Hilfe des ausländischen Kapitals. Aber sie wird der Sowjetrepublik nicht zuteil werden, wenn sie nicht eine Nationalversammlung und Preßfreiheit gewährt. Nicht etwa, daß die Kapitalisten demokratische Idealisten wären. Sie haben dem Zarismus bedenkenlos viele Milliarden geborgt. Aber sie bringen einer revolutionären Regierung kein geschäftliches Vertrauen entgegen, sie zweifeln an ihrem Bestand, wenn sie keine Kritik in der Presse verträgt und nicht offenkundig die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hat.

Wird und kann die Sowjetregierung sich dazu verstehen, Preßfreiheit zu gewähren und eine Konstituante einzuberufen?

Eine Reihe von Bolschewisten behaupten, sie hätte das eine ebensowenig zu fürchten wie das andere. Warum gewähren sie es dann nicht? Warum verschmähen sie ein Mittel, das, wenn sie mit ihm auskommen, ihre moralische Kraft und auch das Vertrauen zu ihnen ungemein vermehren müßte? In der schon erwähnten Vorrede zu Bucharins Programm der Kommunisten heißt es:

„Die Bedingung, die Kautsky und Co. einer Revolution stellen, besteht darin, daß sie zwar das Recht habe, der Bourgeoisie ihren Willen zu diktieren, aber sie sei dabei verpflichtet, der Bourgeoisie die Möglichkeit zu geben, durch Preßfreiheit, von der konstituierenden Versammlung aus, ihre Klagen vorzubringen. Diese geistreiche Forderung eines fachgemäßen Querulanten, dem es nicht darauf ankommt, ob er Recht kriegt, sondern nur darum, daß er seine Anklage an den Mann bringt, könnte, abstrakt genommen, erfüllt werden, ohne der Revolution zu schaden. Aber die Revolution besteht eben darin, daß sie ein Bürgerkrieg ist, und Klassen, die sich mit Kanonen und Maschinengewehren bekämpfen, verzichten auf das homerische Rededuell. Die Revolution diskutiert nicht mit ihren Feinden, sie zerschmettert sie, die Konterrevolution tut dasselbe, und beide werden den Vorwurf zu tragen wissen, daß sie die Geschäftsordnung des deutschen Reichstages nicht beachtet haben#8220; (S. XXIII)

Diese Rechtfertigung der blutigsten Infamien, auch der Gegenrevolution, wirkt um so erhebender, wenn man sie vergleicht mit dem, was der Verfasser einige Seiten vorher von der Revolution sagt:

„Die sozialistische Revolution ist ein langer Prozeß, der mit der Enttronung der kapitalistischen Klasse beginnt, aber erst mit der Verwandlung der kapitalistischen Wirtschaft in eine Arbeitsgemeinschaft endet. Dieser Prozeß wird in jedem Lande wenigstens eine Generation in Anspruch nehmen, und diese Zeitspanne ist eben die Periode der proletarischen Diktatur, die Periode, in der das Proletariat mit einer Hand die kapitalistische Klasse immer wieder niederwerfen muß, während es nur die andere zur sozialistischen Aufbauarbeit frei hat.“ (S. XVIII)

Also die Revolution ist gleichbedeutend mit Bürgerkrieg, einem Krieg, in dem es keinen Pardon gibt, in dem die eine Seite die andere zerschmettert, aber ohne dauernde Niederwerfung, da dieser angenehme Prozeß „wenigstens eine Generation in Anspruch nehmen wird“.

Dieser verwüstende Bürgerkrieg, der, mit Maschinengewehren und Gasbomben geführt, das Land weit grauenvoller verheeren muß, als es ehedem der Dreißigjährige Krieg tat; der die Bevölkerung dezimiert, ihre Roheit zu wildester Barbarei steigert, die Quellen der Produktion völlig verschüttet: das soll der Weg zur „Hervorarbeitung der höheren Lebensform“ sein, die der Sozialismus bedeutet!

Diese „geistreiche“ Auffassung der sozialen Revolution ist sicher nicht die eines „Querulanten von Beruf“, wohl aber eines Revolutionärs von Beruf, dem die Insurrektion gleichbedeutend ist mit der Revolution, der seinen Lebensinhalt verliert, wenn diese sich in den Formen der Demokratie und nicht jenen des Bürgerkriegs vollzieht.

Eines jedoch ist richtig: es gibt nur die beiden Möglichkeiten, entweder Demokratie oder Bürgerkrieg. Wer jene aufhebt, muß auf diesen gefaßt sein. Eine Diktatur entgeht ihm höchstens dort, wo sie mit einer völlig hoffnungslosen und apathischen Bevölkerung zu tun hat, dem schlimmsten Menschenmaterial für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft.

Da wir nur die Alternative haben: Demokratie oder Bürgerkrieg, schließe ich daraus, daß dort, wo sich der Sozialismus auf demokratischer Grundlage noch nicht möglich erweist, wo die Mehrheit der Bevölkerung ihn ablehnt, seine Zeit überhaupt noch nicht gekommen ist, während der Bolschewismus meint, der Sozialismus werde überall von einer Minderheit einer Mehrheit aufgezwungen werden müssen, und das könne nur geschehen durch Diktatur und Bürgerkrieg.

Daß der Bolschewismus sich als Minderheit im Volke fühlt, nur das allein macht es begreiflich, daß er die Demokratie so hartnäckig ablehnt, trotz seiner Beteuerungen, daß sie „der Revolution nicht schaden werde“. Glaubte er, die Mehrheit hinter sich zu fühlen, dann brauchte er nicht auf die Demokratie zu verzichten, selbst wenn er den Kampf mit Kanonen und Maschinengewehren als den einzigen revolutionären betrachtete. Auch dieser Kampf würde dem ,Bolschewismus erleichtert, wie er den revolutionären Parisern von 1793 erleichtert wurde, wenn ein revolutionärer Konvent hinter ihm stände.

Aber er würde eben nicht hinter ihm stehen. Als die Bolschewiki an die Regierung kamen, befanden sie sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht über die Massen, über die Arbeiter, die Soldaten, einen großen Teil der Bauernschaft. Und doch wagten sie selbst damals nicht, an das allgemeine Stimmrecht zu appellieren. Statt die Konstituante aufzulösen und Neuwahlen anzuordnen, trieben sie sie auseinander.

Seitdem ist die Opposition gegen den Bolschewismus von Tag zu Tag gewachsen, wie die wachsende Nervosität seiner Anhänger gegen jede nicht offizielle Presse, wie die Ausschließung der sozialistischen Kritiker aus den Sowjets, der Übergang zum Schreckensregiment beweist.

In dieser Situation die Diktatur abzubauen, um zur Demokratie allmählich zurückzukehren, ist kaum möglich. Alle bisherigen Anläufe dazu haben rasch geendet. Die Bolschewiki sind bereit, um sich zu halten, alle möglichen Konzessionen der Bureaukratie, dem Militarismus, dem Kapitalismus zu machen. Aber eine Konzession an die Demokratie erscheint ihnen als Selbstmord, und doch bietet nur sie die Möglichkeit, den Bürgerkrieg zu beenden und Rußland wieder auf die Bahn ökonomischen Aufstiegs und gedeihlicher Entwicklung zu höheren Lebensformen zu lenken.

Ohne die Demokratie geht Rußland zugrunde. Durch sie geht der Bolschewismus zugrunde. Das Endergebnis ist vorauszusehen. Es braucht just kein 9. Thermidor zu sein, aber ich fürchte, es wird sich nicht weit davon entfernen.
 

h) Die Aussichten der Weltrevolution

Die Bolschewiki selbst zeigen keine große Zuversicht auf ihren schließlichen Sieg. Doch auf einen Rettungsanker setzen sie noch alle Hoffnung. Hört Rußland auf, das auserwählte Volk der Revolution zu sein, dann muß die Weltrevolution der Messias werden, der das russische Volk erlöst.

Was aber ist die Weltrevolution? Man kann sie in zweifacher Weise auffassen, einmal darunter ein derartiges Anwachsen des sozialistischen Gedankens in der Welt bei gleichzeitigem Erstarken des Proletariats und wachsender Schärfe des Klassenkampfes verstehen, daß der Sozialismus zu einer weltbewegenden Macht wird, die das Leben aller Staaten immer mehr bestimmt. Man kann darunter aber auch verstehen eine Revolutionierung der Welt im Sinne des Bolschewismus, Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat in allen Großstaaten schon in nächster Zeit – sonst rettet diese Revolution die russische Sowjetrepublik nicht mehr –, allseitige Einrichtung von Räterepubliken, Entrechtung aller nichtkommunistischen Elemente, Diktatur der kommunistischen Partei und damit Entfesselung von Bürgerkriegen in der ganzen Welt für ein Menschenalter.

Eine emsige Propaganda ist am Werk, dies Resultat herbeizuführen. Eine Weltrevolution im bolschewistischen Sinne zu machen, wird ihr nicht gelingen. Wohl aber könnte sie, wenn es ihr gelänge, wirklichen Einfluß in Westeuropa zu üben, die Weltrevolution in anderem Sinne ernsthaft gefährden.

Denn die Hauptaufgabe der Prediger der Weltrevolution im russischen Sinne ist die Entfesselung des Bruderkampfes zwischen den Proletariern.

Von Anfang an ein Kind der Parteispaltung, zur Herrschaft gekommen im Kampfe gegen die andern sozialistischen Parteien seines Landes, sucht der Bolschewismus sich in Rußland zu behaupten durch einen Bürgerkrieg, den er zum Bruderkrieg macht. Und als letztes Mittel seiner Herrschaft fügt er hinzu das Streben, alle andern sozialistischen Parteien zu spalten, die noch einig geblieben sind – soweit sie nicht eine bolschewistische Mehrheit aufweisen. Das ist der Sinn der „dritten Internationale“. Dadurch trachtet sie die Weltrevolution herbeizuführen.

Und das entspringt nicht einer Laune, nicht einer Bosheit, sondern dem Wesen des Bolschewismus selbst, das unverträglich ist mit den „höheren Lebensformen“, die in Westeuropa bereits „hervorgearbeitet“ sind.

In Westeuropa ist die Demokratie nicht von gestern, wie in Rußland. Sie ist durch eine Reihe von Revolutionen als Ergebnis jahrhundertelanger Kämpfe erobert worden, ist den Massen in Fleisch und Blut übergegangen. Da ist es ganz unmöglich, ganze größere Gesellschaftsklassen politisch rechtlos zu machen. In Frankreich ist der Bauer eine Macht, die man nicht mißachten darf und die eifersüchtig über dem Privateigentum wacht. Die Bourgeoisie wieder ist in Frankreich und noch mehr in England eine kampfgewohnte Klasse. Das Proletariat ist in Rußland gewiß schwächer als in Westeuropa, aber noch weit schwächer ist im russischen Reiche die Bourgeoisie. Dort und überhaupt in den Ländern einer starken Militärautokratie ist sie ebenso in feiger Furcht vor der Staatsgewalt wie in blindem Vertrauen auf ihren Schutz erzogen. Daher die Erbärmlichkeit des dortigen Liberalismus. Der Zusammenbruch der Staatsgewalt, das Versagen des militärischen Schutzwalls, der Übergang der Staatsgewalt in die Hände des Proletariats hat die Bourgeoisie, die nie gewohnt war, selbst einen energischen politischen Kampf zu führen, so erschreckt, daß sie völlig zusammenklappte und dem Gegner das Terrain kampflos überließ.

In Westeuropa haben die unteren Klassen in jahrhundertelangen Klassenkämpfen nicht nur sich, sondern auch die oberen Klassen erzogen. Diese haben Respekt vor dem Proletariat gewonnen, sind aber auch Meister in der Kunst geworden, seinem Ansturm rechtzeitig durch Konzessionen zu begegnen und dadurch Katastrophen zu vermeiden. In den angelsächsischen Ländern mußte aber auch die Bourgeoisie sich seit jeher ohne starkes stehendes Heer behelfen, sie hat gelernt, sowohl der Staatsgewalt wie dem Proletariat gegenüber sich nur auf ihre eigene Kraft zu verlassen, läßt sich nicht durch drohende Gefahren leicht ins Bockshorn jagen.

Und diese Länder sind im Kriege siegreich gewesen. Er hat ihre Armeen nicht, wie die der Zentralmächte und Rußlands, zermürbt und aufgelöst. In Osteuropa wurden im Zustand der Auflösung der Armee die Soldaten, welcher Klasse der Bevölkerung immer sie entstammen mochten, ein Element des Umsturzes. Diese gewaltige Kraft, die die Revolution beschleunigen, aber freilich auch bewirken kann, daß schwache revolutionäre Faktoren vorzeitig zur Macht kommen und vor Probleme gestellt werden, denen sie noch nicht gewachsen sind – sie fehlt in den Ländern der Sieger. Dort wird der Sozialismus die Staatsgewalt erst dann erringen, wenn er stark genug ist, im Rahmen der Demokratie das Übergewicht über die andern Parteien zu gewinnen, dort hat er nicht die mindeste Ursache, der Demokratie abzuschwören, dort werden gerade die höchststehenden Schichten des Proletariats für eine Ersetzung der Demokratie durch eine Diktatur, die in Wahrheit stets auf eine persönliche Diktatur hinausläuft, nicht zu haben sein.

Wohl sind heute in Frankreich unter den Sozialisten die bolschewistischen Sympathien sehr stark. Aber sie entspringen nur dem sehr berechtigten Widerstreben gegen alle Versuche der eigenen kapitalistischen Regierung, eine sozialistische Regierung des Auslands mit Gewalt niederzuwerfen. Viele glauben auch, für Rußland seien die bolschewistischen Methoden passend. Sie denken aber nicht daran, die gleichen Methoden in Frankreich einzubürgern. Immerhin sind dort die blanquistischen Traditionen des Putsches und die proudhonistischen des Antiparlamentarismus noch nicht ganz ausgestorben; diese beiden feindlichen Elemente haben im Syndikalismus in seltsamer Mischung neues Leben gewonnen. Sie mögen dem Bolschewismus einen Boden bieten.

Aber es ist ausgeschlossen, daß er das ganze Proletariat Frankreichs oder gar Englands und Amerikas ergreift. Sein Erstarken dort vermöchte es nur zu spalten gerade in den Tagen, in denen es große, entscheidende Kämpfe auszufechten hat, in denen es sich nur zu behaupten vermag, wenn es zu vollster Geschlossenheit gelangt. Die bolschewistische Propaganda der Weltrevolution vermag also, wie schon gesagt, die wirklich sich vorbereitende Weltrevolution nicht zu fördern. Sie kann sie bloß gefährden.

Der Kommunismus gefährdet bereits durch seine spaltenden Tendenzen die Revolution in Deutschland. Die deutsche Sozialdemokratie war vor dem Kriege die stärkste sozialistische Partei der Welt. Fest geschlossen auf dem Boden einer einheitlichen Gesellschaftsanschauung, war sie im Begriff, die Mehrheit der Bevölkerung zu umfassen, sobald es-ihr gelang, die katholischen Arbeiter zu gewinnen, die der Fahne des Zentrums folgten. Besaß sie die Mehrheit, so wurde der Kampf um die Demokratie, namentlich der Wahlrechtskampf in Preußen, ein Kampf um die politische Macht. War diese erobert, dann hätte sie sofort die glänzendsten Früchte getragen, bei dem Reichtum, den der deutsche Kapitalismus entwickelt und angesammelt hatte und der es ermöglichte, die Lage der Massen rasch erheblich zu verbessern.

Der Weltkrieg hat mit diesem Reichtum gründlich aufgeräumt. Der Friede findet Deutschland in der verzweifeltsten Situation, die es ausschließt, den Massen sofort Wohlstand zu schaffen, welche Produktionsweise immer herrschen mag. Derselbe Weltkrieg hat aber durch den Zusammenbruch und die Auflösung der Armee auch bewirkt, daß die Sozialdemokratie nicht durch ihr eigenes Erstarken, sondern durch den Bankerott ihrer Gegner ans Ruder kam in einem Zeitpunkt, in dem sie selbst fühlbar geschwächt war durch ihre Spaltung, die der Krieg erzeugt hatte.

Wollte die Sozialdemokratie sich als herrschende Partei behaupten, dann war ihre sofortige Wiedervereinigung eine dringende Notwendigkeit. Man hätte erwarten sollen, dies Gebot der damaligen Stunde würde um so eher sich durchsetzen, als der Grund, der die Spaltung herbeiführte, die Stellung zum Kriege, mit diesem selbst verschwand.

Aber leider war seit dem Erstehen der Sowjetrepublik ein neuer trennender Keil in die sozialistischen Reihen Deutschlands eingedrungen durch die bolschewistische Propaganda, die forderte, unsere Partei solle ihre Grundforderung der. Demokratie fallen lassen und die Diktatur der Arbeiterräte als Staatsform durchführen. Um zu bemänteln, daß man damit eine mit dem Wesen unserer Partei untrennbare Forderung preisgebe, hörten die Bolschewiki auf, sich Sozialdemokraten zu nennen. Sie nannten sich Kommunisten, angeblich, um damit zu dem richtigen, im kommunistischen Manifest niedergelegten Marxismus zu kommen. Sie vergaßen, daß Marx und Engels, die Ende 1847 das kommunistische Manifest verfaßten, wenige Monate später die Neue Rheinische Zeitung herausgaben als „Organ der Demokratie“. So wenig waren in ihren Augen Demokratie und Kommunismus Gegensätze.

Der Gegensatz von Diktatur und Demokratie hat in Deutschland neben den beiden sozialistischen Parteien, die die Revolution vorfand, noch eine dritte geschaffen, die der Kommunisten; er hat in die Politik jeder der beiden anderen inneren Zwiespalt und Unsicherheit gebracht, bei den Unabhängigen starke, bolschewistische Tendenzen ausgelöst und bei einem Teil der Rechtssozialisten eine Reaktion gegen diese Tendenzen hervorgerufen, die ihrerseits über das Ziel schoß und eine Anlehnung an die bürgerlichen Parteien hervorrief, mit denen der Rechtssozialismus schon durch die Kriegspolitik des Burgfriedens in eine gewisse Gemeinschaft gebracht war. Die Revolution des 9. November hatte diese Koalition mit dem Bürgertum unterbrochen und durch eine Arbeitsgemeinschaft mit den Unabhängigen ersetzt. Das war leider nur eine vorübergehende Erscheinung.

Ebensowenig wie in Westeuropa kann in Deutschland die Parole der Diktatur eine wirkliche, dauernde, das ganze Reich umspannende, schöpferisch wirkende Diktatur herbeiführen. Dazu ist die Bevölkerung schon zu weit vorgeschritten. Alle Versuche einzelner proletarischer Schichten, zur Diktatur zu gelangen, können nur vorübergehenden, lokalen Erfolg haben, mit dem einen allgemeinen Resultat: Vermehrung der politischen und ökonomischen Auflösung des Reiches und des Antriebs zu einer gegenrevolutionären Militärdiktatur.

Aber auch diese wieder kann nicht zu dauernder und allgemeiner Macht kommen. Gegen die Arbeiter läßt sich in Deutschland nicht mehr dauernd regieren. Die Ausschreitungen der Noskegarden in Berlin, das grauenhafte Wüten in München bezeugen nicht eine diktatorische Gewalt der Regierung, sondern ihre Ohnmacht gegenüber den Geistern, die sie rief, die indes ihrerseits wohl die Macht haben, ungestraft grausame Racheakte zu verüben, nicht aber, selbst den Staat zu leiten.

Das Streben nach Diktatur von links und rechts kann nicht zu einer wirklichen Diktatur führen, sondern nur zu Anarchie und völligem Ruin, der uns als jene „höhere Lebensform“, die auf diesem Wege „hervorgearbeitet“ wird, den Kannibalismus verheißt, wenn alle Produktion stockt, alle Lebensmittel aufgezehrt sind.

Und noch ehe es so weit gekommen, können alle Versuche nach Einführung einer Diktatur nur als einzige ihrer Wirkungen eine Zunahme der Roheit und Brutalität mit sich bringen, mit der die politischen und ökonomischen Kämpfe ausgefochten werden, die Vermehrung ihrer Opfer und die Unmöglichkeit jedes positiven Schaffens. Das gilt vom Blutregime Noskes ebenso wie von der Rätediktatur.

Augenblicklich wird eine Diktatur propagiert, die nur kurz dauern und ohne Gewalttätigkeit wirken soll. Das ist die schlimmste aller Illusionen. In einem Lande, in dem alle Klassen bereits zu regem politischen Leben erwacht sind, kann keine Partei, die eine Diktatur üben will, ohne Gewalttätigkeit auskommen. Wie friedfertig ihre Absichten sein mögen, wie groß ihr Wille, durch die Diktatur nur die Kraft zu positiver Arbeit zu gewinnen, es wird bald, nachdem sie ihr Regime angetreten, von ihrem diktatorischen Gehaben nichts übrigbleiben, als die Gewalttätigkeit.

Den einzigen Weg, Gewalttätigkeiten zu vermeiden und zu ruhigem, positivem Schaffen zu kommen, bietet die Demokratie, die augenblicklich theoretisch vom linken und praktisch vom rechten Flügel der Sozialisten vergewaltigt wird. Die Nationalversammlung allein ist noch keine Demokratie. Aber freilich ist keine Demokratie möglich, ohne eine aus dem allgemeinen, gleichen Stimmrecht hervorgehende Volksvertretung.

Die einzige Institution, die heute noch einigermaßen das Reich zusammenhalten kann, bilden nicht die Arbeiterräte, nicht eine diktatorische Regierung, sondern nur eine von allen Teilen des Reiches beschickte Nationalversammlung.

Gewiß, die jetzige Konstituante bietet einen höchst unerfreulichen Anblick, aber wer hat ihre Mehrheit denn gewählt? Doch die „werktätige“ Bevölkerung, dieselbe, die die Arbeiterräte wählen soll, wenn diese zu einem System ausgebaut sind. Die Stimmen der unabhängigen Sozialdemokratie zur Konstituante bilden kein Zehntel der Nationalversammlung. Die arbeitenden Klassen bilden neun Zehntel der Nation.

Die Arbeiterräte bieten einen wesentlich anderen Anblick als die Nationalversammlung nur, solange sie bloß die Lohnarbeiter der Großindustrie umfassen. Als solche können sie ein vorwärtstreibendes Moment in der Politik werden, sind sie unentbehrlich für die Sozialisierung. Als solche allein aber vermögen sie die Nationalversammlung nicht zu ersetzen. Je mehr man das Rätesystem über den Bereich der Arbeiter der Großindustrie hinaus ausdehnt, je mehr es das gesamte werktätige Volk umfaßt, desto näher muß sein Zentralrat der Nationalversammlung in seinem Wesen kommen, ohne doch seiner Mehrheit jene Autorität zu verleihen, die eine Mehrheit in der Nationalversammlung dadurch besitzt, daß sie für alle Welt offenkundig als Mehrheit der Nation erscheint.

Nichts irriger als die Behauptung, die auch wieder in den Thesen figuriert, die der jüngste Kongreß der „dritten“ Internationale in Moskau angenommen hat, als seien Parlamentarismus und Demokratie ihrem Wesen nach „bürgerliche“ Einrichtungen. Sie sind Formen, die den verschiedensten Inhalt haben können, je nach der Art und der Schichtung des Volkes. Überwiegen in einem Parlament die bürgerlichen Parteien, dann ist der „Parlamentarismus“ bürgerlich. Und taugen diese Parteien nichts, dann taugt auch ihr Parlamentarismus nicht mehr. Aber das alles muß sich doch gründlich ändern, sobald eine sozialistische Mehrheit ins Parlament einzieht.

Nun sagt man, eine solche sei nicht möglich, auch nicht bei freiestem und völlig geheimem Wahlrecht, weil die Kapitalisten die Presse beherrschen und die Arbeiter kaufen. Aber wenn sie imstande sein sollten, auf diese Weise die Arbeiter auch nach einer Revolution, wie der jetzigen, zu kaufen, so müßten sie doch ebensogut die Wähler zu den Arbeiterräten beeinflussen können.

Die Behauptung, für die Sozialisten sei auch bei freiestem und geheimem Wahlrecht und einem Überwiegen der Lohnarbeiter in der Bevölkerung ein Gewinnen der Mehrheit in einem Parlament ausgeschlossen, wegen des Einflusses der Geldmacht der Kapitalisten auf die Proletarier, heißt diese für eine feile und feige Bande von Analphabeten erklären, heißt den Bankerott der proletarischen Sache proklamieren. Wäre das Proletariat wirklich so erbärmlicher. Art, dann könnte ihm keine Institution helfen, wie fein sie auch ausgetüftelt sein mag, um ihm trotz moralischer und intellektueller Impotenz den Sieg zu sichern.

Wenn die heutige deutsche Nationalversammlung bürgerlichen Charakter trägt, so ist nicht zum wenigsten die bolschewistische Propaganda daran schuld, die weiten Arbeiterkreisen, auch unter den Unabhängigen, von vornherein ein Mißtrauen gegen die Nationalversammlung einflößte, ihr Interesse am Wahlkampf minderte, und die andererseits Arbeiterkreise, namentlich katholische, die im Begriff waren, sich vom bürgerlichen Gängelbande loszulösen, abstieß und sie wieder der bürgerlichen Führung überantwortete.

Sicher kann unter der gegenwärtigen Nationalversammlung Deutschland nicht gesunden. Der Gesundungsprozeß wird aber nicht gefördert, sondern gehemmt, wenn man aus dem Kampf gegen die bestehende Versammlung einen Kampf gegen die Demokratie, das allgemeine Wahlrecht, die Institution der Nationalversammlung überhaupt macht. Man hindert dadurch, daß der Kampf sich auf jenen Punkt konzentriert, von dem allein aus eine Gesundung ausgehen kann: auf die Erwählung einer Nationalversammlung, in der die Vertreter des Proletariats die Mehrheit bilden, die gewillt sind, die Sozialisierung, soweit sie sofort möglich, energisch in Angriff zu nehmen und die Demokratisierung Deutschlands, die erst begonnen hat, namentlich in der Verwaltung, rücksichtslos durchzuführen.

Das und nicht die Diktatur müßte das Programm jeder rein sozialistischen Regierung sein, die ans Ruder käme. Dafür würde sie die Massen auch, der katholischen Arbeiter gewinnen, ja selbst weiter bürgerlicher Kreise, die in einem solchen Programm das Mittel sähen, die Republik aus dem Stadium des Bürgerkrieges der sich bekämpfenden diktatorischen Tendenzen herauszuretten.

Wenn die Kommunisten behaupten, die Demokratie sei die Methode der bürgerlichen Herrschaft, so muß ihnen erwidert werden, daß die Alternative der Demokratie, die Diktatur, zu nichts anderem führt, als zur Methode des vorbürgerlichen barbarischen Faustrechts. Die Demokratie mit ihrem allgemeinen, gleichen Wahlrecht kennzeichnet nicht die Herrschaft der Bourgeoisie. Diese hat in ihrer revolutionären Periode nicht das gleiche Wahlrecht, sondern das Zensuswahlrecht eingeführt, in Frankreich, in England, in Belgien usw. Erst in langen und mühsamen Kämpfen hat sich das Proletariat das allgemeine und gleiche Wahlrecht erobert, eine ganz offenkundige Tatsache, die aber alle Kommunisten und alle ihrer Freunde völlig vergessen zu haben scheinen. Die Demokratie mit dem allgemeinen, gleichen Wahlrecht ist die Methode, den Klassenkampf aus einem Kampf der Fäuste in einen Kampf der Köpfe zu verwandeln, in dem eine Klasse nur siegen kann, wenn sie ihrem Gegner intellektuell und moralisch gewachsen ist. Die Demokratie ist die einzige Methode, durch die jene höheren Lebensformen hervorgearbeitet werden können, die der Sozialismus für den Kulturmenschen bedeutet. Die Diktatur führt nur zu jener Art Sozialismus, die man den asiatischen genannt hat. Mit Unrecht, denn Asien hat einen Konfutse und einen Buddha geboren. Eher könnte man ihn den tatarischen Sozialismus nennen.

Abgesehen von den grauenhaften Nachwirkungen des Weltkrieges, die natürlich die Hauptschuld tragen, ist es zum großen Teil der spaltenden und zersetzenden Tätigkeit der Kommunisten zuzuschreiben, ihrer Zersplitterung der Kräfte des Proletariats in unfruchtbaren Abenteuern, wenn die Arbeiterklasse Deutschlands aus ihrem Siege bisher so wenig Gewinn zog und es nicht verstand, die Demokratie in ausreichendem Maße zu einem Werkzeug ihrer Befreiung zu gestalten.

Weit bessere Aussichten bietet die Demokratie für den Sozialismus in Westeuropa und Amerika. Diese Gebiete gehen, namentlich die angelsächsischen Länder, weniger ökonomisch geschwächt aus dem Weltkrieg hervor. Jeder Fortschritt, jeder Machtgewinn des Proletariats muß ihm dort sofort eine Besserung seiner Lebensbedingungen bringen, muß „höhere Lebensformen“ hervorarbeiten.

Gleichzeitig aber muß der Kampf des Proletariats gegen die bürgerliche Welt dort intensivere Formen annehmen, als sich vor dem Kriege zeigten. Die Zeit des patriotischen Überschwangs, die der Krieg und dann der Sieg erzeugte, geht rasch ihrem Ende entgegen. Schon jetzt hat die Umkehr begonnen, sie wird ein unwiderstehliches Tempo annehmen, wenn der Friede da ist, der, was immer er den Besiegten auferlegen mag, die Opfer der siegreichen Völker nicht fühlbar mildern kann, und der das Hauptinteresse allenthalben wieder von den Problemen der äußeren denen der inneren Politik zuwendet.

Die Opposition des Proletariats wird da um so energischere Formen annehmen, als sein Kraftbewußtsein allenthalben enorm gestiegen ist. Die deutsche und noch mehr die russische Revolution hat in dieser Beziehung in hohem Grade anfeuernd gewirkt.

Wie immer man sich zu den bolschewistischen Methoden stellen mag, die Tatsache, daß eine proletarische Regierung in einem Großstaat nicht nur ans Ruder kommen, sondern auch sich durch bisher fast zwei Jahre unter den schwierigsten Bedingungen behaupten konnte, hebt das Kraftgefühl der Proletarier aller Länder ungemein. Für die wirkliche Weltrevolution haben die Bolschewiki dadurch Großes geleistet, weit mehr, als durch ihre Emissäre, die für die proletarische Sache mehr Unheil angerichtet, als revolutionär gewirkt haben.

Das Proletariat der ganzen Welt gerät in Bewegung, und sein internationaler Druck wird stark genug werden, daß von jetzt an jeder ökonomische Fortschritt nicht mehr in kapitalistischem, sondern in sozialistischem Sinne erfolgt.

So wird der Weltkrieg sicher eine Epoche bedeuten, das Ende der kapitalistischen, den Beginn der sozialistischen Entwicklung. Wir werden dabei nicht mit einem Satz aus der kapitalistischen in die sozialistische Welt hinüberspringen. Der Sozialismus ist nicht ein Mechanismus, den man nach einem voraus bestimmten Plane aufbaut und der dann, einmal in Gang gebracht, immer wieder in gleicher Weise abläuft, sondern er ist ein Prozeß gesellschaftlichen Zusammenwirkens, der seine bestimmten Gesetze hat, wie jede Art gesellschaftlicher Tätigkeit, der aber innerhalb dieser Gesetze die mannigfachsten Formen annehmen kann und einer Entwicklung fähig ist, deren Ablauf man heute noch nicht abzusehen vermag.

Auch heute noch haben wir keine „fix und fertigen Utopien durch Volksbeschluß einzuführen“. Was sich jetzt vollzieht, das ist „die Freisetzung der Elemente“, die den Beginn der sozialistischen Entwicklung in Angriff zu nehmen haben. Will man das Weltrevolution nennen, weil es sich in der ganzen Welt vollzieht, dann stehen wir vor der Weltrevolution. Aber sie wird sich nicht vollziehen auf dem Wege der Diktatur, nicht durch Kanonen und Maschinengewehre, nicht durch Zerschmetterung der politischen und sozialen Gegner, sondern durch Demokratie und Menschlichkeit.’ Nur so kommen wir zu jener höheren Lebensform, die hervorzuarbeiten die historische Aufgabe des Proletariats ist.


Anmerkungen des Verfassers

2. Zitiert bei J.H. Rose, Napoleon I., Stuttgart 1906, I., S. 50



Zuletzt aktualisiert am 9.1.2012