Karl Kautsky


Von der Demokratie zur Staatssklaverei



III. Die Demokratie

a) Primitive und moderne Demokratie

Nun zur Frage der Demokratie. Warum fordere ich sie? Darüber berichtet Trotzki:

„Das theoretische Renegatentum Kautskys besteht darin, daß er, das Prinzip der Demokratie als absolut und unwandelbar anerkennend, von der materialistischen Dialektik zu dem Naturrecht zurückging. Das, was vom Marxismus als Bewegmechanismus der Bourgeoisie erklärt wurde und nur vorübergehend zur Vorbereitung der Revolution des Proletariats politisch ausgenutzt werden sollte, ist von Kautsky wieder als höchstes, über den Klassen stehendes Grundgesetz sanktioniert worden, das alle Methoden des proletarischen Kampfes sich Untertan machen müsse.“ (S. 28)

„Die Prinzipien der Demokratie – die Volkssouveränität, das allgemeine und gleiche Wahlrecht, die Freiheiten – treten bei Kautsky im Glorienschein des ethischen Soll auf. Sie werden von ihrem geschichtlichen Inhalt abstrahiert und werden als unerschütterlich und heilig an sich dargestellt.“ (S. 24)

Den Beweis für diesen, meinen „metaphysischen Sündenfall“ schenkt sich Trotzki. Er führt keine einzige Zeile aus meinen Schriften an, die bezeugen würde, daß für mich die Demokratie ein „kategorischer Imperativ“, ein absolutes ethisches Sollen, eine Forderung des „Naturrechts“ ist.

Trotzki glaubt wohl, den Beweis geliefert zu haben, wenn er sagt:

„Das Wanken des historischen Bodens in der Frage der Demokratie unter seinen Füßen fühlend, geht Kautsky auf den Boden der Normenphilosophie über. Anstatt zu untersuchen, was ist, stellt er Betrachtungen darüber an, was sein sollte.“

Betrachtungen über das, was sein sollte, kann offenbar nur jemand anstellen, der auf dem Boden eines absoluten „ethischen Sollens“ steht. Was wird dann aber aus den Sozialisten aller Schulen, Marx und Engels, Lenin und Trotzki inbegriffen? Kann man ein Sozialist sein, wenn man sich auf die Untersuchung dessen beschränkt, was ist, und kein Programm dessen aufstellt, was sein soll? Ist nicht die kommunistische Diktatur überall, außerhalb Rußland, etwas anderes, als ein Sollen? Und nicht einmal in Rußland, wo sie den Staat nach ihrem Herzen gemodelt haben, begnügen sich die Bolschewiks mit der Untersuchung dessen was ist, sondern äußern ein sehr kräftiges Sollen. Allerdings keines, das sich längere Zeit gleich bleibt. Es wechselt alle paar Monate. Im Augenblick (Juni 1921) läuft das Leninsche Sollen auf einen Kapitalismus hinaus, der dem entgegenkommenden Bolschewismus aus der Hand fressen soll.

Da Trotzki keine Miene macht, seine Anklage gegen mich zu begründen, könnte ich sie ganz ruhig auf sich beruhen lassen. Aber leider gibt es gar manchen in den sozialistischen Reihen, der ebenso wie Trotzki für die Demokratie keine andere Begründung weiß, als eine naturrechtliche. Daher ist es notwendig, darüber Klarheit zu schaffen.

Wie sehr ich davon entfernt bin, die Demokratie naturrechtlich oder ethisch zu begründen, zeigt schon die Tatsache, daß ich seit etwa dreißig Jahren den Unterschied mache zwischen primitiver Demokratie, die den sozialen Verhältnissen der Urzeit entspringt, und moderner Demokratie, die gleichzeitig mit dem modernen, industriellen Kapitalismus ersteht.

Zuletzt habe ich diese Frage in einer Artikelserie behandelt, die im Mai und Juni 1917 in der Neuen Zeit und dann als Sonderabdruck unter dem Titel Die Befreiung der Nationen erschien.

In dieser Arbeit wurde im Hinblick auf die zu erwartenden Friedensbedingungen die Stellung der Sozialdemokratie zur Selbstbestimmung der Nationen behandelt, welche Forderung von Cunow und anderen mit giftigem Hohn überschüttet worden war, als „kleinbürgerliche Ideologie“. (vgl. seine Schrift über Partei-Zusammenbruch, 1915, S.&nbsp33)

Die Frage der Demokratie wurde da nur einleitend entwickelt. Und damals, Frühjahr 1917, hatte der Bolschewismus noch nicht sein antidemokratisches Herz entdeckt, war die Demokratie für jeden Sozialisten eine Selbstverständlichkeit.

Dem ist es wohl zuzuschreiben, daß die Unterscheidung zwischen primitiver und moderner Demokratie nicht die Beachtung gefunden hat, die ich ihr wünsche, da sie mir äußerst fruchtbar erscheint.

Heute, wo die Demokratie in den sozialistischen Reihen so heiß umstritten wird, ist es dringend geboten, sich über den Unterschied zwischen primitiver und moderner Demokratie klar zu werden. Aus ihm geht die Notwendigkeit der Demokratie deutlich hervor.

Es scheint mir daher angezeigt, meine Ausführungen aus der Abhandlung über die Befreiung der Nationen hier nochmals zum Abdruck zu bringen. Ich habe in ihnen schon 1917 meine Antwort auf Trotzkis Kritik von 1920 gegeben. Sie finden sich im 2. Kapitel, Die primitive Demokratie, und im 3. Die moderne Demokratie.

Es heißt dort über die primitive Demokratie:

„Die Sozialdemokratie muß als internationale und demokratische Partei stets für das Recht der Völker auf Selbstbestimmung eintreten. Aber wie die Sozialdemokratie selbst das Produkt besonderer historischer Bedingungen ist und dort nicht aufkommen kann, wo jene Bedingungen fehlen – die kapitalistischen Produktionsverhältnisse – , so ist auch die Selbstbestimmung der Völker an bestimmte historische Bedingungen geknüpft. Sie bedeutet bei verschiedenen Völkern und innerhalb des gleichen Volkes zu verschiedenen Zeiten etwas sehr Verschiedenes.

Wenn man daher dagegen auftritt, bei der Anwendung des Selbstbestimmungsrechts alle Völker über einen Kamm zu scheren, so ist das wohl berechtigt. Nicht berechtigt aber ist es, dieses Argument uns entgegenzuhalten, da gerade wir diese Schablonenhaftigkeit stets bekämpft haben.

Seit meiner Schrift über Parlamentarismus und Demokratie, die in erster Auflage 1893 erschien, habe ich immer wieder auf den Unterschied zwischen moderner und primitiver Demokratie hingewiesen. Er ist für das Verständnis der Form, die die Selbstbestimmung der Völker unter bestimmten historischen Bedingungen annehmen kann, von grundlegender Bedeutung, also auch von größter Wichtigkeit für das Friedensprogramm der Sozialdemokratie. Darum sei er hier nochmals kurz skizziert, ehe wir weiter gehen. Den Leser, der sich mit dem Gegenstand näher beschäftigen will, verweise ich neben der genannten Schrift auf meine Abhandlung über Nationalität und Internationalität. (Ergänzungsheft zur Neuen Zeit, Nr. 1, 1908)

Der Mensch ist von Natur aus nicht nur ein soziales, sondern auch ein demokratisches Wesen oder vielmehr, der Drang nach demokratischer Betätigung ist eine der Seiten seines sozialen Wesens, das er von seinen tierischen Vorfahren übernommen hat.

Die Existenz, das Gedeihen jedes einzelnen hängt von der Existenz, dem Gedeihen der Gesellschaft ab, in der er lebt. Jeder einzelne hat daher das größte Interesse an den gesellschaftlichen Angelegenheiten, sie beschäftigen ihn, er sucht auf sie einzuwirken. Dabei sind ursprünglich die einzelnen – wenigstens des gleichen Geschlechts und der gleichen Altersstufen – einander so gut wie völlig gleich. Wohl gibt es natürliche Unterschiede der Individuen, die einen sind stärker oder klüger als die anderen und haben dadurch einen größeren Einfluß in der Gesellschaft Aber diese Unterschiede bewegen sich doch unter primitiven Verhältnissen in sehr engen Grenzen. Alle leben unter den gleichen Bedingungen, Produktionsmittel und Waffen sind einfach und von jedem zu erlangen oder herzustellen, keiner kann ein Wissen erwerben, das den anderen dauernd verborgen bliebe, keiner vermag sich andere dienstbar zu machen und seine eigenen Kräfte durch die ihren zu verstärken. Wie hoch das Ansehen des einzelnen durch seine persönlichen Leistungen in der Gesellschaft steigen mag, er bleibt doch immer abhängig von der Gesamtheit, sie ist weit stärker als er, keiner vermag sie zu beherrschen, jeder muß ihr dienen, die Gesamtheit bleibt die höchste Instanz. Sie macht sich geltend in der Volksversammlung, die mindestens alle erwachsenen Männer umfaßt.

Diese urwüchsige Demokratie erhält sich während des weitaus größten Teiles der bisherigen Geschichte der Menschheit, bis zur Gewinnung der Seßhaftigkeit, der Entwicklung des Ackerbaues, dem Erstehen der Städte. Die Markgenossenschaften und die Dorfgemeinden wie die städtischen Gemeinden sind ursprünglich demokratisch organisiert.

Diese Demokratie beruhte auf dem mündlichen Verfahren. Alle öffentlichen Angelegenheiten wurden nur mündlich erörtert, die Wahlen durch Zuruf vollzogen, Gesetz und Recht sowie Geschichte des Gemeinwesens mündlich überliefert, alle Nachrichten, die für die Öffentlichkeit von Belang sein konnten, mündlich weitergegeben.

Diese Ausschließlichkeit des mündlichen Verfahrens entsprang der Einfachheit eines sich nicht wesentlich verändernden Produktionsprozesses, der geringe Kenntnisse voraussetzte, die durch Beispiel und mündliche Belehrung vom Vater auf den Sohn, von der Mutter auf die Tochter überliefert wurden, ohne sich seit Menschengedenken zu ändern. Sie entsprang der Beschränktheit der ökonomischen Beziehungen, die sich in engem Kreise vollzogen, so daß sie alle durch persönliche Besprechungen zu erledigen waren. Die Volksmasse bedurfte nicht des Lesens und Schreibens für ihre Ökonomie. Dir blieben diese Kenntnisse fremd, auch für die Zwecke der Politik. Die urwüchsigen demokratischen Gemeinwesen fanden darin ihre Schranke. Sie konnten ihr Gebiet nur soweit ausdehnen, daß jedem Mitglied die Möglichkeit blieb, die souveräne Volksversammlung zu erreichen, in ihr zu sprechen, ihre Verhandlungen zu verstehen, an ihren Entscheidungen und Wahlen durch mündliche Abstimmung teilzunehmen.

Jede Ausdehnung der Gemeinwesen über diese Schranke hinaus erfolgte auf Kosten der Demokratie. Die Zusammenfassung der urwüchsigen Demokratien, der Markgenossenschaften und Gemeinden zu einer größeren Gemeinschaft, zum Staat geschah durch Schaffung einer über diesen Demokratien stehenden Gewalt, die sie beherrschte. Diese Zusammenfassung konnte erst geschehen, als eine solche Gewalt möglich geworden war. Der Staat ist von seinem Anfang an eine Herrschaftorganisation, er ist der Gegner der Demokratie. Das gilt auch von den sogenannten demokratischen Staaten des Altertums. Auch sie waren Organisationen der Beherrschung und Ausbeutung einer Volksmasse durch eine Klasse, die sich der Staatsgewalt bemächtigt hatte. Das Demokratische an ihnen war nur der Umstand, daß es eine demokratisch organisierte Gemeinde war, die als Herrscherin über andere Gemeinden (sowie über unfreie und rechtlose Arbeiter innerhalb der eigenen Gemeinde) auftrat.

Indes haben sich demokratische Staaten dieser Art nirgends lange erhalten. Weder das Wissen der Volksmassen noch die Organisationsformen, auf denen die urwüchsige Demokratie beruhte, reichten aus für die Aufgaben, die dem Staate aus seinem Herrschaftscharakter erwuchsen. Zu diesen Aufgaben gehörten auch die der äußeren Politik und des Krieges.

Die Gemeinwesen der urwüchsigen Demokratie fanden ihre Schranke in ihren eigenen Bedingungen, wie wir schon gesehen. Wo ein solches einmal seßhaft geworden war, empfand es kein Bedürfnis, sein Gebiet auszudehnen. Natürliche Fruchtbarkeit konnte seine Bevölkerung zeitweise über diese Schranke hinaus anwachsen lassen. Das Ergebnis war nicht das Streben nach Ausdehnung des Gebiets des Gemeinwesens, sondern die Aussendung des Überschusses der Bevölkerung zur Begründung eines eigenen neuen Gemeinwesens. Das dafür erforderliche Gebiet konnte der Natur abgerungen werden, etwa durch Rodungen im Walde, oder es wurde einem schwächeren Volke abgenommen. So kam es zu zeitweisen Kriegen aus natürlichen Ursachen infolge des Wachstums der Bevölkerung.

Anders steht es in den Staaten, die aus der Zusammenfassung primitiver Gemeinwesen gebildet werden. Sie finden keine Schranke in sich selbst. Die neue Herrschaftsorganisation kann ins ungemessene ausgedehnt werden, sie erzeugt den Drang zu steter Ausdehnung, da Reichtum und Macht der den Staat beherrschenden Klassen mit seiner Größe wachsen; ja der Drang nach Ausdehnung wird in jedem Staate in dem Maße stärker, in dem der Staat größer ist, da um so gewaltiger seine Macht den anderen Staaten gegenüber. Die Folge ist stete Kriegslust der starken Staaten, stete Notwendigkeit der Abwehr für schwache Staaten, die ununterbrochene Kriegsgefahr und häufiger Krieg. Dieser geht nicht mehr hervor aus natürlicher Notwendigkeit infolge starker Volksvermehrung, sondern aus maßlosem Drang nach Reichtum und Macht der herrschenden Klassen. Mit dem Aufkommen des Staates erstirbt die Demokratie, erwächst die ewige Kriegsgefahr. Diese bildet keineswegs ein besonderes Kennzeichen des Kapitalismus oder Imperialismus. Die letzteren führen in jenen alten Drang jeder Staatsgewalt nur neue Momente ein.

Wohl aber erzeugt der industrielle Kapitalismus die Elemente, die jener Entwicklung ein Ende machen werden. Er zeugt seine eigenen Totengräber: das industrielle Proletariat und die Bedingungen der modernen Demokratie.“

Ich führe dann folgendes aus über die moderne Demokratie:

„Der industrielle Kapitalismus macht der Produktion der einzelnen Betriebe und Haushaltungen für den Selbstgebrauch ein Ende, die bis zu seinem Aufkommen die weitaus überwiegende Produktionsform in der Gesellschaft bildet. Die Warenproduktion wird nun die allgemeine Form der Produktion; Handel und Verkehr, die ehedem vorwiegend dem Luxus dienten, ergreifen nun immer mehr auch die Güter des Massenkonsums. Es wachsen die Mittel des Massen- und Fernverkehrs für Güter und Personen in ungeheurer Weise. Die mündlichen Mittel der Verständigung zwischen den Personen reichen immer weniger aus. Gleichzeitig ergreift die Naturwissenschaft die Technik und unterwirft sie einem ununterbrochenen Umwälzungsprozeß. Immer weniger genügt das mündlich überliefeite Herkommen in der Produktion, immer wichtiger wird wissenschaftliches Verständnis wenigstens einzelner ihrer Verfahren, nicht nur für die Leiter der Produktion, sondern auch für zahlreiche Arbeitskräfte.

Wachsen der Ausdehnung und Intensität des Verkehrs ebenso wie die Umwäßung der Technik durch die Naturwissenschaft machen die Kenntnis des Lesens und Schreibens in der kapitalistischen Produktionsweise immer mehr zu einer Notwendigkeit für die Masse der Bevölkerung. Diese Kenntnis hört auf, das Privilegium einer begünstigten Oberschicht zu sein.

Damit erstehen die Bedingungen für eine populäre Presse und Literatur, ersteht die materielle Grundlage für eine Klasse von Intellektuellen, die von den herrschenden Klassen unabhängig sind und den Volkmassen dienen. Die Schriftsprache, die sich über den auf mündlicher Überlieferung beruhenden Volkssprachen, den Dialekten, erhoben hat, wird nun selbst zur Volkssprache und führt damit zur Bildung eines neuen Volksbewußtseins, das so weit reicht, wie die Schriftsprache reicht. Aus der Gemeinschaft der Schriftsprache erwächst die moderne Nationalität.

Alles das führt dahin, daß die Volksmassen immer mehr in die Lage kommen, die Staatspolitik zu verfolgen und zu erkennen, wie ihre Lage nicht bloß von der Gestaltung ihrer nächsten Umgebung, sondern von dem Zustand und der Politik des gesamten Staatswesens abhängt. Und die Abhängigkeit der Lage der einzelnen Klassen von der Staatspolitik wächst immer mehr, je mehr sich die kapitalistische Produktionsweise entwickelt, denn um so mehr wachsen die wirtschaftlichen Aufgaben und Kräfte der Staatsgewalt.

Dieses Wachstum erzeugt aber nicht nur steigendes Interesse aller Klassen an der staatlichen Politik, es macht ihre zunehmende Teilnahme an dieser Politik auch immer unentbehrlicher für die Staatsgewalt selbst. Denn deren Aufgaben werden so mannigfaltige, deren Mechanismus wird ein so verwickelter, daß er immer leichter ins Stocken kommt, wenn nicht die Triebkraft einer tatkräftigen Gesellschaft und ihre ungehemmte Kritik und Kontrolle auf ihn einwirken. Schon in den Anfängen des kapitalistischen Staates wurde es notwendig, die dilettantische Staatsverwaltung, die der große Grundbesitz im feudalen Staate besorgte, durch ein System geschulter Berufsbeamten mit weitgehender Arbeitsteilung zu ersetzen. Aber je mehr die Bureaukratie wächst und an Macht zunimmt, desto mehr wird sie aus einer Dienerin der Gesellschaft zu ihrer Herrin, desto mehr setzt sie ihre eigenen Berufsinteressen über die gesellschaftlichen Interessen, um so schwerfälliger, formalistischer wird sie, um so mehr wächst ihre Korruption und Engherzigkeit. Die Bureaukratie der Gesellschaft untertänig zu machen, dem Amtsgeheimnis die Kritik einer freien Presse entgegenzusetzen; der amtlichen Organisation die Organisationen frei gebildeter politischer Parteien; der zentralisierten Spitze der staatlichen Bureaukratie, der Regierung, eine zentralisierte Körperschaft entgegenzusetzen, die nur von Volkes Gnaden besteht, durch des Volkes Macht wirkt, das heißt ein Parlament: das wurde ein Bedürfnis nicht nur für die Volksmassen, sondern für den Staat selbst, dessen Machtmittel verkamen, wo es dem Volke nicht gelang, diese politischen Einrichtungen zu erringen. So ersteht die moderne Demokratie, die nicht mehr, wie die primitive, die eines Stammes, einer Gemeinde, einer Markgenossenschaft, sondern die eines Staates ist und damit den Staat zu einem modernen macht.

Diese Bewegung ist die notwendige Folge der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise und ist ebenso unaufhaltsam wie diese. Sie beginnt in den Großstädten, namentlich solchen, die gleichzeitig Residenzstädte sind, Sitze der Regierungen, ergreift jedoch nach und nach auch die kleineren Städte und das flache Land.

Aber je kraftvoller die moderne demokratische Bewegung wird, desto mehr erstehen ihr mächtige Gegentendenzen auch außerhalb der reaktionären Klassen, durch deren Überwindung sie aufkommt. Ist die moderne Demokratie ein Produkt der kapitalistischen Produktionsweise und wird sie in ihren Anfängen von industriellen Kapitalisten selbst gefördert, so wird doch durch sie dieselbe Produktionsweise mit dem Untergang bedroht. Denn Fortschritt der Demokratie heißt Fortschritt der politischen Macht der Volksmasse, und Fortschritt der kapitalistischen Produktionsweise bedeutet fortschreitende Verwandlung der Volksmassen in Proletariat. Das schließliche unvermeidliche Ziel dieses Prozesses ist die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat. Dem wirken die herrschenden Klassen mit aller Kraft entgegen.

Die drei großen Mittel, die für das normale Funktionieren der modernen Demokratie kennzeichnend werden, sind die Presse, die Parteiorganisation, das Parlament.

Die Macht der Presse steigt aufs gewaltigste, damit wird sie aber auch immer mehr ein Werkzeug kapitalistischer Klassenherrschaft. Die einzelnen Zeitungen werden riesenhafte kapitalistische Organisationen, und die wichtigsten Mittel der Nachrichtenverbreitung, die großen telegraphischen Bureaus, werden zu Monopolen der Regierungen. Diese und die Klüngel großer Kapitalisten beherrschen immer mehr die Quellen, aus denen die Volksmasse ihre politischen Informationen bezieht.

Eine politische Partei wieder erheischt dort, wo sie so groß wird, daß sie die staatliche Politik beeinflußt, eine Reihe von Politikern und Verwaltungsbeamten, die sich ihr berufsmäßig und ausschließlich widmen. In verkleinerter, aber nicht verbesserter Ausgabe erstehen daraus die gleichen Mißstände und Widerstände gegen die Demokratie, das heißt gegen die praktische Beherrschung der Politik durch die Volksmasse, die wir schon als Kennzeichen der staatlichen Bureaukratie kennengelernt haben.

Seine schlimmsten Blüten treibt das Berufspolitikertum in den Parlamenten, wenn es zum parlamentarischen Kretinismus führt, das heißt zur Beschränkung des ganzen politischen Denkens auf die Vorgänge im Parlament, das als eine Welt für sich betrachtet wird, die wohl der Außenwelt Gesetze gibt, aber kein Gesetz von ihr empfängt.

Bei den Parlaments wählen endlich macht sich neben dem Einfluß der kapitalistischen Presse auch die direkte ökonomische Übermacht der Kapitalistenklasse geltend, und diese Übermacht ist im allgemeinen nicht im Abnehmen, sondern im Wachsen begriffen, je mehr die Organisationen der Unternehmer an Ausdehnung und Zusammenhalt zunehmen. Die Gewerkschaften der Arbeiter sind unentbehrlich, diesen das Maximum an ökonomischer Macht zu sichern, das sie unter den gegebenen Umständen zu entfalten vermögen, sie sind aber nicht imstande, das ökonomische Übergewicht der Kapitalistenklasse aufzuheben. Dasselbe Übergewicht, das der einzelne Kapitalist gegenüber dem vereinzelten Arbeiter besitzt, steht dem organisierten Kapitalisten gegenüber dem organisierten Arbeiter zu Gebote. Nur in Gegenden und Zeiten, in denen sich die Organisation der Arbeiter früher oder schneller entwickelt als die der Kapitalisten, verschiebt sich das Schwergewicht vorübergehend zugunsten der Arbeiter.

Alle diese Gegentendenzen bewirken, daß die Demokratie im modernen kapitalistischen Staate nie eine vollkommene werden kann, daß sie es erst nach dem Siege des Proletariats als politische Form einer sozialistischen Gesellschaft sein wird. Auch hier wieder zeigt sich der Gegensatz von Demokratie und Staat.

Aber damit ist nicht gesagt, daß die Gegentendenzen stark genug wären, den aus der ökonomischen Entwicklung hervorgehenden Fortschritt der Demokratie und des Proletariats aufzuhalten. Sie können ihn bloß zeitweise hemmen, bis die Mißstände der Hemmung so stark geworden sind, daß sie weithin empfunden und auch ungeschulten und falsch informierten Köpfen merkbar werden. Die schließliche Überwindung der Hemmung geschieht dann durch einen Dammbruch, eine Katastrophe, sei es ein Regierungssturz, eine Parteispaltung oder ähnliches.

Ihrem Wesen nach müßte die Demokratie die friedlichste politische Entwicklung gewährleisten. Daß die moderne Demokratie das noch nicht tut und nicht gegen zeitweise politische Katastrophen schützt, rührt daher, daß sie gleichzeitig das Produkt und der Todfeind der ökonomisch herrschenden Macht ist, des industriellen Kapitalismus.“
 

b) Die Bedeutung der Demokratie für den Aufstieg des Proletariats

Die oben wiedergegebenen Ausführungen von 1917, die ich heute vollinhaltlich unterschreibe, zeigen wohl zur Genüge, was daran ist, wenn Trotzki schreibt, daß ich „das Prinzip der Demokratie als absolut und unwandelbar anerkennend, von der materialistischen Dialektik zum Naturrecht zurückging“.

Ich lege vielmehr dar, daß die Demokratie unter den heutigen ökonomischen und technischen Verhältnissen eine historische Notwendigkeit ist, eine Notwendigkeit für das Proletariat wie für den Staat selbst. Ahnungslos zeichnete ich im Vorhinein das Schicksal des bolschewistischen Staatswesens, wenn ich darauf hinwies, daß die Aufgaben eines modernen Staatswesens viel zu mannigfache und gewaltige sind, als daß sie einfach bureaukratisch, ohne eifrige Mitarbeit der Gesellschaft und deren freieste Kritik ausreichend erledigt werden könnten. Daß ohne Demokratie die Korruption und Engherzigkeit der Bureaukratie wachsen und die Machtmittel des Staates verkommen.

Trotzki mag die hier gegebene Entwicklung für falsch erklären. Dann möge er sie gefälligst widerlegen. Aber es ist zu bequem, sich die Widerlegung dadurch zu ersparen, daß er mich zu einem Naturrechtler stempelt. Solange icht nicht widerlegt bin, bleibe ich dabei, daß der Fortschritt der Demokratie unwiderstehlich ist, wie der des Proletariats, weil er aus der gleichen ökonomischen Quelle entspringt, dem Fortschritt der Großindustrie und des Verkehrswesens, der unaufhaltsam ist. Zeitweise Rückschläge ändern am Gesamtresultat nichts.

Meine obigen Ausführungen zeigen aber nicht bloß die Unwiderstehlichkeit der demokratischen Bewegung, sie beweisen auch, daß ich mir dessen wohl bewußt war, daß die Demokratie nicht den Sieg bedeutet, sondern nur die Herstellung eines Kampfterrains. Daß sie nicht das Schlaraffenland ist, in dem die gebratenen Tauben des Sozialismus dem Proletariat von selbst ins Maul fliegen.

Sie ist die unentbehrliche Reitbahn, in der das Proletariat reiten lernt, um im Trotzkischen Bilde zu bleiben. Trotzki selbst sieht sich gezwungen, zuzugeben:

„Im Laufe von Jahrzehnten kämpfte und entwickelte sich das Proletariat Frankreichs, Deutschlands und der anderen wichtigsten Länder, indem es die Institutionen der Demokratie ausnutzte und auf ihrer Grundlage machtvolle politische Organisationen schuf.“ (S. 17)

Trotzdem soll die Demokratie vom „Marxismus“ als „Bewegmechanismus“ der Bourgeoisie „entlarvt“ worden sein. Dieselbe Demokratie, um die das Proletariat im Kampfe gegen die Bourgeoisie rang, von der Bewegung der englischen Chartisten, und der Februar-Revolution 1848 der Pariser Arbeiter an, bis zu den Wahlrechtskämpfen der letzten Jahrzehnte in Belgien, Österreich, Preußen.

Trotzki gibt zu, daß der „bürgerlich-demokratische Staat im Vergleich zum Absolutismus günstigere Bedingungen für die Entwicklung der Werktätigen schafft“. Aber, fügt er hinzu, er

„beschränkt auch diese Entwicklung durch die Grenzen der bürgerlichen Legalität, indem er in den Oberschichten des Proletariats opportunistische Gewohnheiten und legalistische Vorurteile künstlich anhäuft und befestigt. Die Schule der Demokratie erwies sich als vollständig unzureichend, um in dem Augenblick, als die Kriegskatastrophe drohte, das deutsche Proletariat zur Revolution anzuspornen. Dazu war die barbarische Schule des Krieges, der sozialimperialistischen Hoffnungen und einer beispiellosen Niederlage nötig. Nach diesen Ereignissen, die in der ganzen Welt und sogar im Erfurter Programm manches verändert haben, mit Gemeinplätzen über die Bedeutung des demokratischen Parlamentarismus für die Erziehung des Proletariats zu kommen, heißt, in politische Kindheit zurückfallen. Darin besteht eben das Unglück Kautskys“ (S. 17, 18).

Ich armer, kindischer Mensch muß bekennen, so unglücklich zu sein, das Schlagende in Trotzkis Argumentation nicht herausfinden zu können. Ich behaupte, die Demokratie ist unerläßlich als Staatsform, um im Proletariat die Kraft und die Fähigkeit seiner Selbstbefreiung zu entwickeln. Das soll nicht wahr sein, die Demokratie soll das Proletariat einschläfern und entnerven. Das haben die bakunistischen Anarchisten schon vor einem halben Jahrhundert Marx gegenüber behauptet. Wodurch ist deren Anschauung seitdem richtiger geworden?

Die jeweilige Energie des Klassenkampfes hängt nicht von der Staatsverfassung, sondern von der Schärfe der Klassengegensätze ab, die in letzter Linie nicht von politischen, sondern ökonomischen Verhältnissen bestimmt wird. Man sehe sich augenblicklich England an, und die Lächerlichkeit der Behauptung, daß die Demokratie die Proletarier einschläfert, wird sofort klar. Es ist richtig, die deutschen Proletarier haben der drohenden Kriegskatastrophe nicht mit der Revolution begegnet, aber wir haben nie behauptet, daß die Demokratie den Eintritt der proletarischen Revolution gerade in dem Moment verbürge, der uns als der erwünschteste erscheine.

Der Demokratie gegenüber erscheint Trotzki „die barbarische Schule des Krieges“ als bessere Erzieherin des Proletariats. Aber leider hat der Krieg zwei sehr verschiedene Seiten – Sieg und Niederlage. Nicht durch den Krieg wurde die Revolution herbeigeführt, sondern durch die Niederlage.

In den Siegerstaaten hat der Krieg die Arbeiter nicht revolutionär, sondern siegestrunken gemacht. Er hat dort fast allenthalben, namentlich in Frankreich, England, Amerika die sozialistische Bewegung im ersten Jahre nach dem Kriege aufs äußerste geschwächt.

In den Staaten der Besiegten hat die Niederlage die Armeen aufgelöst und damit vorübergehend dem Proletariat zur Macht verholten. Aber der Krieg hat es gleichzeitig in feindliche Fraktionen gespalten, hat viele seiner Schichten moralisch, intellektuell, physisch degradiert, Kriminalität und Grausamkeit, den blinden Glauben an die Gewalt und die Erfüllung der Köpfe mit den sinnlosesten Illusionen aufs höchste gesteigert. So vermochte das Proletariat nirgends die eroberten Machtpositionen zu behaupten, am allerwenigsten in Rußland, wo es sie an eine neue Bureaukratie und eine neue Armee bald abgeben mußte.

In der Tat, den Kriegsmann als Erzieher zum Sozialismus zu betrachten, das ist eine Idee, würdig eines Kriegsministers, nicht aber eines Sozialisten.

Wie kommt aber der Krieg überhaupt hier in die Argumentation hinein? Wir fragen, welche Staatsverfassung den Interessen des Proletariats am besten entspricht, und wir bekommen die Antwort: Nicht die Demokratie, sondern der Krieg und die Niederlage. Ja, ist denn der Krieg eine Verfassung? Aber vielleicht dürfen wir den Gedanken Trotzkis dahin formulieren, daß er dem Absolutismus, gemildert durch den Meuchelmord, entgegenstellt die Demokratie, gemildert durch den Krieg und die Niederlage. Nur diese erfreulichen Erscheinungen scheinen ihn mit der Demokratie versöhnen zu können.

Das heißt, mit der Demokratie im bürgerlichen Staat. Als echter Bolschewik verlangt Trotzki die Demokratie nur vom Gegner. Auch auf Menschlichkeit und Anstand machen die Bolschewiks stets nur bei den andern Anspruch.

Die Kommunisten aller Länder entrüsten sich maßlos über jede Regierung, die ihnen nicht vollste Freiheit der Presse, der Versammlungen und Vereinigungen usw. bietet. Aber für die Forderung solcher Freiheit in einer Sowjetrepublik haben sie nur Hohn übrig. Trotzki bemerkt mir gegenüber:

„Ein Punkt beunruhigt Kautsky, den Verfasser einer übergroßen Anzahl von Büchern und Artikeln: das ist die Preßfreiheit. Ist es zulässig, Zeitungen zu verbieten?“ (S. 44)

Ich muß gestehen, daß ich mich in diesem Punkte sehr schuldbewußt fühle. Ich habe allerdings eine übergroße Anzahl Bücher und Artikel geschrieben, und das alte Laster ist bei mir schon so tief gewurzelt, daß ich fürchte, es nicht mehr loszuwerden. Aber die Bolschewiks haben es auch zu spät entdeckt, nämlich erst, als ich anfing, an ihnen Kritik zu üben. Bis dahin haben sie mich in meiner Untugend bestärkt, indem sie eifrig mithalfen, meine Arbeiten zu übersetzen und zu verbreiten. Der bolschewistische Staatsverlag druckt und verbreitet heute noch „eine übergroße Anzahl“ meiner Bücher. – Meine sämtlichen Werke sind für russisches Staatseigentum erklärt worden.

Ebenso neu, wie der Anstoß, den die Bolschewiks an meiner Fruchtbarkeit nehmen, ist aber bei Trotzki die Anschauung, die Preßfreiheit sei eine Sache, an der nur die Literaten, und zwar nur aus persönlichen Gründen interessiert seien. Diese Anschauung ziert ihn erst, seitdem er aufgehört hat, Literat zu sein und Kriegsminister ist.

In Wirklichkeit ist natürlich die Preßfreiheit, ebenso wie jede andere politische Freiheit von äußerster Wichtigkeit für die Volksmassen, für ihre Bildung und Informierung. Sie werden politisch nur dann klar sehen können, wenn der Regierungspresse eine unabhängige Presse gegenübersteht, die in voller Freiheit alle Mißstände an den Tag zu bringen, alle Erscheinungen des Staatslebens von den verschiedensten Seiten zu beleuchten vermag. Es ist ganz verkehrt, zu glauben, daß die Freiheit parlamentarischer Diskussion, Freiheit der Presse und der Organisation nur dort notwendig seien, wo das Proletariat kämpfe, nicht dort, wo es herrsche.

Auch eine herrschende Klasse ist nie identisch mit der Regierung und ihren Behörden. Auch sie bedarf der Freiheit der Kritik gegenüber der Regierung und der Möglichkeit einer selbständigen, von der Regierung unabhängigen Informierung.

Ich habe schon in meinem Artikel von 1917 darauf hingewiesen, daß die Aufgaben des modernen Staates so mannigfache sind, daß sie rein bureaukratisch ohne Mitwirkung der Gesellschaft und ihrer verschiedenen Organe und ohne möglichst viel Selbstverwaltung auf den verschiedensten Gebieten nicht befriedigend zu lösen sind.

Noch weit mehr als vom jetzigen bürgerlichen muß das aber von einem proletarischen Staatswesen gelten, dem eine Fülle neuer Aufgaben zu den alten hinzu aufgeladen wird. Hier wird die vollste Demokratie erst recht notwendig, einmal um jeder bureaukratischen Verknöcherung, Verschleppung, Komplizierung und Korruption entgegenzuwirken und dann, um in den Massen die Fähigkeiten zu entwickeln, deren sie bedürfen, um erfolgreich an der Lösung der Staatsaufgaben mitzuwirken. Wohl werden solche Fähigkeiten in demokratischen Staaten schon heute entwickelt, aber doch in bescheidenen Grenzen. Die riesenhaften Aufgaben des Sozialismus erfordern mehr. Ehe man ein Pferd besteigt, müssen gewisse Vorbedingungen gegeben sein, soll man sich im Sattel behaupten können. Das haben wir gesehen. Aber die Qualitäten eines vollkommenen Reiters kann man erst erwerben, wenn man im Sattel sitzt. Das Proletariat wird noch viel zu lernen haben, wenn es an der Macht ist. Und darum bedarf es dann erst recht der Demokratie.

Heute gibt es in Rußland nur eine Regierungspresse, nur von der Regierung begründete oder geduldete Buchverlage; die Regierung verfügt über alle Druckereien und alles Papier, so daß nicht einmal, wie zur Zeit des Zarismus, eine illegale Presse möglich ist. Es liegt im Belieben der Regierung, welche Parteien sie dulden will, Gewerkschaften und Genossenschaften unterliegen behördlicher Bevormundung: Das ist ein Zustand, der die geistige Entwicklung der Massen nicht nur nicht fördert, sondern aufs äußerste lähmt, sie immer unfähiger macht, ihre Befreiung und die Entwicklung sozialistischer Institutionen durchzuführen, die nur das Werk der Arbeiterklasse und nicht einer Bureaukratie oder einer Parteidiktatur sein können.
 

c) Die Bedrohung der Demokratie durch die Reaktion

Warum aber soll die politische Herschaft des Proletariats unverträglich sein mit der Demokratie, die es zu seinem Klassenkampf im bürgerlichen Staate braucht?

Zwei Gründe werden dafür angegeben:

Von den beiden Gründen schliefet der eine den andern aus. Trotzdem werden sie nicht selten in einem Atem zur Herabsetzung der Demokratie in kommunistischem Munde gebraucht. Ernsthaft zu nehmen ist nur der zweite, der im Grunde nichts anderes ist, als eine Anerkennung der Bedeutung der Demokratie für das Proletariat und ihrer Gefährlichkeit für das Kapital.

Mit der Möglichkeit, daß die herrschenden Klassen die Demokratie abzuschaffen suchen, wenn sie ihnen unbequem wird oder gar ihre Existenz bedroht, haben wir stets gerechnet, doch sahen wir darin nicht einen Grund, die Demokratie gering zu schätzen, sondern nur einen, sie mit Nägeln und Zähnen zu verteidigen. Wir hielten es nicht für ausgeschlossen, daß aus dem Kampf um die Demokratie der entscheidende Kampf um die Macht im Staate entspringen konnte. Wir suchten nach Mitteln, den herrschenden Klassen erfolgreich zu begegnen, wenn sie die Demokratie gewaltsam beseitigen wollten. Daß die Demokratie nicht mit den Mitteln des Stimmzettels gegen brutale Gewalt zu schützen sei, wußten wir natürlich auch. Je mehr die Sozialdemokratie in der Demokratie und durch die Demokratie selbst bei recht unvollkommener Freiheit erstarkte, desto mehr beschäftigte uns die Frage der Mittel zur Verteidigung der Demokratie. Es war eines unserer wichtigsten Probleme schon mehr als ein Jahrzehnt vor dem Kriege. Nicht in der bewaffneten Insurrektion, sondern im Massenstreik sahen wir das beste Mittel. Doch hielten wir ihn nur dort für wirksam, wo er im Kampfe gegen eine Regierung angewandt wurde, die zur Vergewaltigung der Demokratie schritt. Wir hätten es für einen Unsinn gehalten ihn zum Sturz einer Regierung anzuwenden, die sich auf die ausgesprochene Mehrheit der Bevölkerung stützt. Wollte man etwa den Versuch machen, in einem agrarischen Lande eine bäuerliche Mehrheit durch den Massenstreik zu vergewaltigen, müßte er versagen.

Die spezifisch proletarischen Machtmittel sind wohl geeignet zum Schutz der Demokratie, nicht aber zu ihrer Vergewaltigung.

Diese Auffassung haben wir schon vor dem Kriege gewonnen und wir halten sie auch heute für richtig. Es scheint uns aber, als stehe, trotz zeitweiliger Rückschläge, die Demokratie fester, als wir früher annahmen.

In den Staaten, in denen das allgemeine Wahlrecht vom Proletariat erobert ward, hat niemand mehr daran gedacht, es ihm wieder zu nehmen.

Im Deutschen Reich hat es Bismarck als Waffe zum Kampf gegen die Bourgeoisie dem Volk geschenkt. Als er sah, er habe sich verrechnet und das allgemeine Wahlrecht trage weniger dazu bei, die Liberalen zu schwächen als die Sozialisten zu stärken, bereute der Mann von Blut und Eisen es tief, das Wahlrecht falsch eingeschätzt zu haben, ebenso wie es ein halbes Jahrhundert nach ihm ein anderer Blut- und Eisenmann, Trotzki, tut. Aber er wagte nicht mehr, es abzuschaffen. Nur an die Preß-, Vereinsund Versammlungsfreiheit machte er sich heran, um sie für die Sozialisten aufzuheben. Das allgemeine Wahlrecht mit seinen Wahlkämpfen und seiner parlamentarischen Immunität blieb dagegen, und der Verkehr im großindustriellen Deutschland war schon zu sehr entwickelt, als daß es nicht möglich gewesen wäre, allen Verboten ein Schnippchen zu spielen. Durch das allgemeine Wahlrecht wurde das Sozialistengesetz überwunden.

Der Krieg, der der Demokratie stets ungünstig ist, hat in allen kriegführenden Staaten vorübergehende Einschränkungen der demokratischen Freiheiten gebracht, nur nicht des Wahlrechts. Das wurde vielmehr durch ihn und seine Nachwirkungen noch erweitert, auch in England, trotz der steigenden Furcht vor dem Proletariat.

Eine solche sieghafte Kraft besitzt der demokratische Gedanke in allen Ländern eines entwickelten Kapitalismus.

Das wird leicht begreiflich, wenn man bedenkt, daß die Demokratie den Bedürfnissen nicht bloß des Proletariats, sondern auch anderer großer Volksmassen entspricht Und im Proletariat selbst sind alle seine Schichten an der Demokratie interessiert, nicht bloß die sozialistisch Denkenden.

Hinter der Demokratie steht also eine viel größere Kraft als hinter dem Sozialismus: Die Demokratie beginnt ihren Siegeszug vor diesem und sie vermag sich mitunter erfolgreich auch unter Umständen zu behaupten, unter denen die sozialistischen Parteien zurückweichen müssen.

Es wäre ganz verfehlt, aus den augenblicklichen Verhältnissen so rückständiger Staaten wie Rußland und Ungarn Schlüsse auf die Aussichten der Demokratie im industriell entwickelten Westen zu ziehen. Wo aber dennoch durch ein zufälliges Zusammentreffen ungünstiger Faktoren die Demokratie vorübergehend verloren gehen sollte, werden die sozialistischen Parteien viel bessere Aussichten auf Erfolg haben, wenn sie dort trachten, vor allem die Demokratie als Basis ihres Kampfes wieder herzustellen, als wenn sie versuchen, der augenblicklichen Diktatur das Ziel ihrer Parteidiktatur entgegenzusetzen.

Der zweite der beiden hier erwähnten Einwände spricht also durchaus nicht dafür, die Demokratie geringschätzig zu behandeln.
 

d) Die Entwaffnung der Bourgeoisie

Und nun der andere der Einwände, der sagt, der Sozialismus sei nur realisierbar als Sache einer Minderheit, also nicht auf demokratischem Wege.

Für die deutschen Sozialisten stimmten bei der Wahl von 1871 nur etwas über ein Prozent der Wahlberechtigten; sie sind heute schon nahe daran, die Mehrheit zu bekommen, hätten sie ohne die jammervolle Spaltung vielleicht schon erlangt. Und sie sollten sie nie erringen können?

Aber freilich, die Kommunisten zählen jede sozialistische Partei, die nicht nach ihrer Pfeife tanzt, zu den Gegenrevolutionären. Und daß die Kommunisten keine Aussicht haben, jemals in einem zivilisierten Lande die Mehrheit zu bekommen, glaube ich auch. Insofern haben sie vollauf Ursache, gegen die Demokratie Mißtrauen zu hegen.

Welche Methode wollen sie aber der demokratischen entgegensetzen? Ihre Formel ist sehr einfach: Bewaffnung der Kommunisten, Entwaffnung aller andern.

Das Rezept ist von verblüffender Durchschlagskraft Eine Partei, die allein die Waffen in der Hand hat, der die ganze übrige Bevölkerung wehrlos gegenübersteht, kann im Staate machen was sie will – bis sie zusammenbricht. Denn allzu lange kann man auf Bajonetten bekanntlich nicht sitzen und mit den Waffen in der Hand kann man wohl den Produktionsprozeß gründlich stören, nicht aber ihn auf eine neue Basis stellen und in Gang bringen. Dazu gehört die tatkräftige Mitwirkung mindestens der Produzenten. Ist diese erreichbar, wozu sie vorher durch die Beseitigung der Demokratie und bewaffnete Vergewaltigung gegen sich erbittern? Doch auf die Frage des Arbeitszwangs kommen wir noch in einem andern Zusammenhang zu sprechen.

Die Schwierigkeit, als Minderheit der arbeitenden Volksmasse dieser eine neue Produktionsweise aufzuzwingen, ist jedoch nicht die erste, die für die Methode der ausschließlichen Bewaffnung der Revolutionäre auftaucht. Die entscheidende Schwierigkeit stellt sich schon beim ersten Schritt ein. Er erfolgt unter der Voraussetzung, daß die Revolutionäre nur eine Minderheit der Bevölkerung bilden. Diese Minderheit bekommt unzweifelhaft die Übermacht, wenn sie allein die Gewehre in der Hand hat. Aber das Rezept sagt leider nichts darüber, wie die Gegenpartei, die in der Mehrheit ist, entwaffnet werden soll. Und das ist doch der springende Punkt.

Der normale Zustand in einem modernen Staat ist der der allgemeinen Wehrpflicht. Hier sind alle Klassen mit Waffen versehen. Gott ist aber bekanntlich ein Freund der stärkeren Bataillone. Können die Soldaten frei über ihre Waffen verfügen, so wird die Mehrheit entscheiden, einerlei, ob an den Stimmzettel oder an die Gewalt appelliert wird.

Die Sache gestaltet sich für die Revolutionäre, wenn diese eine Minderheit sind, noch schlimmer dadurch, daß es bei einer Truppe nicht bloß auf die Bewaffnung, sondern auch auf die Führung ankommt. Und die ist fast ausschließlich in der Hand der Gegner.

Wollen sich die Revolutionäre bei einem Appell an die Waffe behaupten, werden sie bei gleichmäßiger Bewaffnung der ganzen Bevölkerung eine viel größere Mehrheit sein müssen, als beim Appell an den Stimmzettel. Gar mancher, der gern einen sozialistischen Stimmzettel abgibt, wird sich’s überlegen, gegen die militärische Disziplin offen zu rebellieren. Es ist ganz sinnlos, zu glauben, eine proletarische Partei, die bei demokratischem Verfahren in der Minderheit sei, habe bessere Aussichten, wenn sie versuche, die Mehrheit zu entwaffnen.

Das gilt unter normalen Verhältnissen. Nun hat der militärische Zusammenbruch östlich des Rheins abnorme Zustände hervorgerufen, die Armeen aufgelöst und große Teile der Zivilbevölkerung mit Waffen versehen. In Rußland, wo die Bauern zunächst revolutionär und die Soldaten für jene Partei am begeistertsten waren, die ihnen sofortigen Frieden um jeden Preis versprach, da gelang es den Bolschewiks, die Mehrheit der bewaffneten Macht um sich zu scharen, ihre Gegner zu entwaffnen und schließlich eine ihnen ergebene Armee zu schaffen, mit der sie ihre waffenlosen Gegner niederhielten, trotzdem diese die Mehrheit der Bevölkerung bilden. Die Bolschewiks haben also sicher alle Ursache, das Verdikt der Demokratie zu scheuen und ihm die Methode der Bewaffnung der Revolutionäre und Entwaffnung ihrer Gegner entgegenzustellen.

Doch hier, wie auch sonst, lieben sie es, aus ihrem ganz unerhörten Ausnahmsfall eine Regel zu machen, die überall anzuwenden ist, und ihre scheinbaren Erfolge verführen gedankenlose Erfolganbeter aller Art außerhalb Rußlands dazu, die bolschewistische Schablone überall zur Anwendung bringen zu wollen. Das Organ dieser Schabionisierung ist die dritte, die kommunistische Internationale.

Aber schon in Deutschland versagt die Schablone. Dort sind die Bauern reaktionär, nicht revolutionär, die bürgerlichen Klassen auch weit stärker und kampflustiger als in Rußland. Sie alle versahen sich nach der Auflösung der Armee ebenso mit Waffen, wie es viele Arbeiter taten. Was von dem Rest der Armee noch übrig blieb, stellte sich auch nicht, wie in Rußland, den Bolschewiks (Spartakisten oder Kommunisten) sondern deren Gegnern zur Verfügung.

Es war unter diesen Umständen natürlich sehr gut, daß die Arbeiter Waffen in der Hand behalten hatten und nicht wehrlos ihren Feinden gegenüberstanden. Hätten sie die Waffen behalten, um einen gewaltsamen Vorstoß der Reaktion zum Umsturz der demokratischen Republik abzuwehren, so wäre das sehr am Platze gewesen.

Aber die deutschen Kommunisten setzten sichs in den Kopf, als kleine Minderheit ihre Waffen, im Gegensatz zur Demokratie, in kleinen, lokalen Putschen anzuwenden, die nicht bloß mit ihrer Niederschlagung, sondern auch mit der Entwaffnung der Arbeiterschaft endeten. Die deutschen Kommunisten haben praktisch nichts anderes erreicht, als die Entwaffnung der Revolutionäre und die Bewaffnung der Gegenrevolutionäre. Wenn diese jetzt ihre Waffen verlieren, so ist das der Entente zuzuschreiben und nicht der Taktik der deutschen Schüler Trotzkis.

Nicht im Appell an die Waffen, sondern in der Aufrechterhaltung der Demokratie liegt die beste Hoffnung des deutschen Proletariats. Und erst recht gilt das von den Siegerstaaten.

Ich hoffe, alles das genügt, zu zeigen, daß mein Eintreten für die Demokratie nicht eine „jämmerlich Utopie“ ist, wie Trotzki sich ausdrückt (S. 24), nicht ein „metaphysischer Sündenfall“, nicht die sentimentale Schrulle eines weltfremden Ideologen, sondern daß sie dem Studium der realen geschichtlichen Entwicklung und der realen Bedingungen des proletarischen Klassenkampfes, also sehr „materialistischer Dialektik“ entspringt.

Auf der andern Seite gebe ich gerne zu, daß sich in der Trotzkischen Verachtung der. Demokratie nicht eine Spur von Natur- oder sonstigem Recht, nicht eine Spur von kantianischer oder sonstiger Ethik findet, aber auch keine Spur marxistischen Denkens, sondern bloßes Bedürfnis, sich mit allen Mitteln an der Macht zu erhalten, die seine Partei dank einem ihr günstigen Zusammentreffen von Umständen an sich zu reißen vermochte. Auch das ist eine Art Materialismus. Aber keine, der die Zukunft gehört.



Zuletzt aktualisiert am: 8.1.2012