Karl Kautsky

Mein Verhältnis zur Unabhängigen
Sozialdemokratischen Partei

Ein Rückblick

(1922)


Ursprünglich veröffentlicht von Tony Breitscheid Verlag, Berlin 1922.
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Transkription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.





I. Im Kriege

Es scheint mir an der Zeit zu sein, den Genossen rückschauend Rechenschaft abzulegen über die Haltung, die ich in der USP seit ihrem Beginn bis heute eingenommen habe. Das wird nicht eine rein persönliche Darstellung werden, sondern ein Beitrag zur Parteigeschichte.

Der Ursprung der USP ist auf die Meinungsgegensätze zurückzuführen, die im Weltkrieg innerhalb der Sozialdemokratie Deutschlands wie in der eines jeden anderen am Kriege beteiligten Landes auftauchten.

Zum Teil komplizierten sich diese Differenzen allerdings mit einem Gegensatz, der vor dem Kriege in der deutschen Sozialdemokratie während des preußischen Wahlrechtskampfes aufgetreten war. Die große Mehrheit der deutschen Sozialdemokratie hatte in diesem Kampfe versucht, die alte, bewährte Taktik der Partei fortzuführen, die man als „Ermattungsstrategie“ bezeichnen durfte. Engels hatte sie noch kurz vor seinem Tode 1895 gebilligt, und Bebel bis zu seinem Tode verfochten. Sie stellte uns die Aufgabe, unter steter Beschäftigung und Ermüdung des Gegners und stetem Ausbau unserer eigenen Positionen jedem seiner Versuche auszuweichen, uns zur Entscheidungsschlacht zu provozieren, und diese so lange hinauszuschieben, bis wir Kraft genug gewonnen hatten, den Endkampf erfolgreich auszufechten. Es war die gegebene Taktik für eine Partei, die dem Feind zur Zeit an Kraft noch nachstand, aber ebenso wohl durch die ökonomische Entwicklung wie durch den täglichen Kleinkampf immer mehr erstarkte, indes die Uebermacht des Gegners von Tag zu Tag zusammenschrumpfte. So war uns bei kluger Zurückhaltung bis zum geeigneten Moment der Sieg sicher. Nur vorzeitiges Losschlagen konnte ihn gefährden.

Bei allen Gegensätzen zwischen Rechts und Links, Revisionisten und Radikalen, war dies die allgemeine Taktik der deutschen Sozialdemokratie von ihren Anfängen an.

Da tauchte eine neue Strömung in ihr auf unter dem Eindruck der ersten russischen Revolution 1905. Diese hatte die große Kraft erwiesen, die dem Massenstreik zur Auslösung der Revolution innewohnen konnte, selbst in einem ökonomisch so rückständigen Lande wie Rußland.

Fast die gesamte internationale Sozialdemokratie war darin einig, die Bedeutung des Massenstreiks anzuerkennen und in ihm eine Bereicherung unseres Arsenals zu erblicken, eine Waffe, die in kritischen Momenten uns den Sieg sichern konnte.

Aber eine Reihe von Elementen auf der äußersten Linken unserer Partei sahen im Massenstreik noch mehr: ein Mittel, das uns erlaubte, von der bisherigen Politik abzugehen und .die Offensive zu ergreifen, um eine Entscheidungsschlacht schon unter den damals gegebenen Machtverhältnissen zu provozieren. Sie waren blind dafür, daß die deutschen, Verhältnisse von den russischen gründlich verschieden waren und daß in Rußland selbst der Massenstreik nur unter bestimmten Umständen nach dem verlorenen Krieg siegreich zu wirken vermochte. Daß die Temperatur der deutschen Arbeiterbewegung eine Desperadopolitik durchaus nicht begünstigte, mußten allerdings selbst jene tatenlustigen Elemente zu ihrem Verdruß anerkennen. Doch sahen sie darin nicht das Ergebnis der deutschen Verhältnisse, sondern bloß eine Wirkung des Bremsens einzelner verräterischer Führer. Bebel und ich wurden als Verräter behandelt, weil wir es ablehnten, eine Politik mitzumachen, die darauf abzielte, künstlich Unruhen hervorzurufen, die unfehlbar scheitern mußten. Gerade ihre Niederschlagung sollte dann die zu kühle Temperatur der deutschen Arbeiterbewegung zur Siedehitze steigern und so den großen Ausbruch herbeiführen.

In dieser Situation traf uns der Weltkrieg. Er trennte sofort die deutsche Sozialdemokratie in zwei Lager, die einander aufs leidenschaftlichste bekämpften. Die große Mehrheit hielt es für notwendig, sich hinter die Reichsregieriung zu stellen und ihr die Kriegskredite zu bewilligen. Die einen taten es, weil sie der Regierung glaubten, die den Schein erweckte, als sei das friedliebende Deutschland von seinen Gegnern überfallen worden. Daß damit das deutsche Volk von seiner Regierung belogen wurde, steht heute fest. Die veröffentlichten Dokumente lassen gar keinen Zweifel darüber, daß Oesterreich und im Bunde mit ihm Deutschland durch ihre serbische Politik die Kriegsgefahr heraufbeschworen. Gestritten kann nur noch darüber werden, ob die Regierungen der Habsburger und Hohenzollern an dem durch die Kriegsgefahr frivol heraufbeschworenen Ausbruch des Weltkrieges allein schuldig sind oder ob die Kriegstreiber, die sich zweifellos auch in den Staaten der Entente fanden, durch die deutsch-österreichische Politik so gestärkt wurden, daß sie Schritte veranlassen konnten, die die Erhaltung des Friedens erschwerten.

Von einem Ueberfall Deutschlands durch die Entente kann heute kein ernsthafter Mensch mehr sprechen. Beim Ausbruch des Krieges jedoch wurde es allgemein in Deutschland geglaubt und es hat in hohem Grade die Stimmung für die Bewilligung der Kriegskredite gefördert.

Manche waren kritischer, doch erklärten iste, die Frage der Schuld am Kriege ließe sich erst nach seiner Beendigung mit ausreichender Sicherheit beantworten. Die augenblicklich dringendste Frage sei aber die, welche Folgen der Kriegsausgang nach sich ziehen werde. Sie mußten vernichtend sein für den Besiegten. Um das deutsche Volk zu retten, hieß es daher mit aller Zähigkeit Durchhalten zum Siege.

Es war eine kleine Minderheit in unserer Partei, die entgegen diesen Anschauungen für die Ablehnung der Kriegskredite eintrat. Und auch diese Minderheit war sich keineswegs einig. Die bereits erwähnten Radikalen hatten schon einige Zeit vor dem Kriege die Ansicht verfochten, wenn es zu einem solchen komme, werde und müsse dessen Ausbruch mit der Revolution beantwortet werden. Meine Auffassung, daß der Beginn eines Krieges der ungeeignetste Zeitpunkt dazu sei, daß wir die Revolution als Abschluß des Krieges bei den Besiegten zu erwarten hätten, daß sie aber kein Mittel darstelle, einen Krieg zu verhindern, wurde mit Hohnlachen zurückgewiesen. Als es nun in Wirklichkeit doch so kam und an Stelle revolutionärer Auflehnung bei den Massen allenthalben Kriegsbegeisterung emporlohte, allerdings Begeisterung für den Krieg vermeintlicher Abwehr, nicht für den der Eroberung, da wurde das von jenen radikalen Elementen nicht als Beweis meiner richtigen Voraussicht, sondern meiner konterrevolutionären Charakterlosigkeit gebucht. Als ob der Ausbruch der Revolution von mir abgehangen hätte und durch meine Auffassung verhindert worden wäre. Nun erst recht aber arbeiteten jene Radikalen auf den baldigen Ausbruch revolutionärer Bewegungen hin, um dadurch die Kriegführung zu lähmen und dem Krieg ein rasches Ende zu bereiten. Allerdings taten sie praktisch nicht viel anderes für die Herbeiführung der Revolution, als daß sie diejenigen unter den Ablehnern der Kriegskredite ausgiebig beschimpften, die an die Möglichkeit einer sofortigen Revolution in diesem Stadium des Krieges, wenigstens in Deutschland, nicht glaubten.

Die große Mehrheit der Ablehner der Kriegskredite stand nicht auf dem revolutionären Standpunkt dieser Art, so sehr sie auch davon überzeugt war, daß der Abschluß des Krieges große innerpolitische Erschütterungen nach sich ziehen müsse. Zu ihnen gehörte auch ich. Wir wollten ebenfalls die rascheste Beendigung des Krieges herbeiführen, aber nicht durch revolutionäre Erhebungen, die uns unwahrscheinlich erschienen und die nur Erfolg hätten haben können als spontane Ausbrüche, die vom Willen der führenden Sozialisten ganz unabhängig waren.

Aber das deutsche Proletariat war eine zu gewaltige Macht, als daß die deutsche Regierung hätte hoffen können, den Krieg zu gewinnen im Gegensatz zu dieser Macht, die ihren offensichtlichen Ausdruck fand in der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion.

Von der Fraktion verlangten wir, daß sie der Regierung ihre Bedingungen stelle. Wir waren einig darin mit der Mehrheit der Partei, daß eine Niederlage Deutschlands nicht nur für die Regierenden, sondern auch für das Proletariat verhängnisvoll werden müsse, aber wir fürchteten nicht minder den Sieg, der Deutschland zum Kerkermeister aller seiner Nachbarn und zum bestgehaßten Volk der Welt machen mußte. Jeder Diktatfrieden mußte verderblich werden, möchte er von hüben oder drüben diktiert werden, und jedes Streben nach einem solchen Frieden mußte den Krieg bis zum Weißbluten der Völker ausdehnen.

Wir forderten daher von der Regierung die Bereitwilligkeit zu einem Frieden der Verständigung. Nur dadurch war eine baldige Beendigung des Krieges und ein Frieden möglich, der niemand vergewaltigte und versprach, dauernd zu währen. So lange die Regierung sich weigerte, offen und ohne Umschweife ihre Bereitwilligkeit zu einem solchen Frieden zu erklären, waren ihr die Kriegskredite zu verweigern. Allerdings, wenn eine entgegenkommende Erklärung der deutschen Regierung nicht ein entsprechendes Echo bei den Gegnern und vor allem nicht bei deren sozialistischen Parteien gefunden hätte, wenn die deutsche Bereitwilligkeit zum Verständigungsfrieden auf einen unbeugsamen Vernichtungswillen der Gegner gestoßen wäre, dann hätten wir wohl oder übel die Regierung in dem dann unzweifelhaften Abwehrkampf durch Bewilligung der Kriegskredite unterstützen müssen so lange, bis die feindlichen Mächte zum Verständigungsfrieden geneigt waren.

Das war eine ganz andere Auffassung als die der äußersten Linken, die ihren Ausdruck fand in den Publikationen des Spartakusbundes. Aber noch in anderer Beziehung unterschieden wir uns von diesem.

Schon vor dem Kriege hatte die extreme Linke begonnen, die Einheit der Partei als Fessel zu empfinden, deren Abstreifung sie willkommen geheißen hätte. Jetzt, nach der Abstimmung über die Kriegskredite, erschien ihnen die Sozialdemokratische Partei als eine Bande schurkischer Verräter, mit denen Gemeinschaft zu halten ganz unmöglich war.

Die große Mehrheit der Opposition in der Partei wußte dagegen die Bedeutung der Einigkeit hoch zu schätzen. Wie sollten wir den großen Aufgaben gerecht werden, die der Krieg und dessen Beendigung uns auferlegen mußten, wenn wir uns spalteten und unsere Kraft dadurch empfindlich minderten? Wohl standen wir augenblicklich in einem tiefgehenden, leidenschaftlichen Gegensatz zur großen Mehrheit nicht nur der Fraktion, sondern des Proletariats, aber wir durften erwarten, dieses Verhältnis der Kräfte umzukehren, wenn uns nur einigermaßen die Möglichkeit der Vertretung unserer Auffassungen vor der Oeffentlichkeit gegeben war. Also nicht Spaltung, sondern Propagierung unseres Standpunktes innerhalb der Partei war unsere Parole.

So bildeten die Ablehner der Kriegskredite keineswegs eine einheitliche, sondern eine recht heterogene Masse. Sie barg große Gegensätze in sich, die aber äußerlich nicht scharf getrennt waren, schon deshalb nicht, weil die offene Darlegung der verschiedenen Auffassungen der Ablehner durch den Kriegszustand aufs äußerste erschwert war.

Dazu kam aber noch eine starke Differenz innerhalb des, sagen wir, rechten Flügels der Ablehner der Kriegskredite. Sein unbestrittener Führer war Hugo Haase, dessen Weitblick, theoretisches Interesse und Verständnis, dessen Unerschrockenheit und Selibstlosigkeit wir alle freudig anerkannten.

Nur in einem Punkte konnte ich meinem lieben Freunde Haase nicht zustimmen: in seiner .Haltung gegenüber den Spartakusleuten. Auch ich hielt es für überflüssig, gegen sie unter dem Druck des Kriegsrechts zu polemisieren. Ich ignorierte ihre zahllosen und ausgiebigen Beschimpfungen. Aber Haase ging weiter. Er suchte stets nach einem modus vivendi mit den Spartakisten; ihn schreckten weder ihre Beschimpfungen ab, noch ihre Perfidien, deren sie sich schon damals, wie seither so oft, schuldig machten. Das mochte großzügig gedacht sein. Aber er übersah dabei die großen sachlichen Gegensätze, die beide Richtungen trennten. Von der Mehrheit der Partei schied uns meiner Anschauung nach nur die Haltung im Kriege, die mit diesem vorübergehen mußte. Der Gegensatz zum Spartakismus dagegen hatte schon vor dem Kriege bestanden, hatte sich durch diesen vertieft, er bekam immer mehr Züge jener Geistesrichtung, die wir heute als Bolschewismus kennen. Dieser Gegensatz war viel schärfer und dauernder als der zwischen uns und der Parteimehrheit. Wohl konnte Platz und Bewegungsfreiheit für uns alle sein in der Gesamtpartei. Aber als besondere Richtung in ihr mußten wir eine scharfe Trennungslinie zwischen uns und den Spartakisten ziehen.

In dieser Auffassung begegnete ich mich mit Wurm und Bernstein. Sie bildete einen Differenzpunkt zwischen Haase und mir, den wir anfangs bei unserer sonstigen vollständigen Übereinstimmung im Denken kaum merkten, der aber im Laufe der Jahre doch für uns fühlbar wurde, wenn auch Außenstehende ihn wohl übersahen.
 

II. Die Spaltung

Der Einfluß der Spartakisten auf die Opposition innerhalb der Partei war anfangs minimal. Doch wuchs er im Fortgang des Krieges, namentlich in der Richtung, daß er die Tendenzen auf Spaltung der Partei immer mehr erstarken ließ.

Sie wurden freilich durch den Kriegszustand sehr begünstigt. Eine Opposition kann innerhalb einer Partei nur dann dauernd verbleiben, wenn sie nicht nur das Endziel und die wichtigsten taktischen Grundsätze mit der Mehrheit gemein hat, sondern auch vollste Freiheit der Propaganda für ihre besonderen Auffassungen genießt.

Diese Freiheit wurde durch den Kriegszustand im Verein mit einer von den leitenden Parteiinstanzen aufs straffste gehandhabten Parteidisziplin aufs äußerste eingeengt. So empfanden immer weitere Kreise der Opposition die Partei nicht mehr als ein Mittel des Kampfes um unsere Ideale, sondern nur noch als ein Mittel der Hemmung dieses Kampfes. Damit gewann der Gedanke der Loslösung von der Partei an Kraft, während bei Ausbruch des Krieges noch jeder von uns die Einheit der Partei über alles gestellt hatte. So sehr, daß selbst Karl Liebknecht am 4. August 1914 im Plenum für die Kriegskredite stimmte, die er in der Fraktion aufs entschiedenste abgelehnt hatte, und daß Haase, der desgleichen tat, sich nach starkem Sträuben schließlich überreden ließ, die Motivierung der Zustimmung zu den Kriegskrediten, die er verwarf, selbst als Vorsitzender der Partei und der Fraktion vorzulesen.

Aber das dauerte nicht lange. Zuerst waren es Liebknecht und Rühle, die sich zu Sonderaktionen im Reichstag gedrängt fühlten, der einzigen offenen Tribüne, die uns geblieben war. Neben ihnen ballte sich aber auch der Haupttrupp der Opposition in der Reichstagsfraktion immer mehr zu geschlossenem Vorgehen zusammen, was schließlich dazu führte, daß sie (ohne Liebknecht und Rühle) eine besondere Gruppe bildete, die „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft“. Ob dabei von der Opposition immer taktisch klug verfahren worden war, bleibe hier ununtersucht. Die Abspaltung der Arbeitsgemeinschaft war unter den gegebenen Umständen wohl unvermeidlich. Aber keineswegs ohne schwere Nachteile. Denn die Opposition selbst wurde dadurch zerklüftet.

Jedem Sozialdemokraten, ja jedem Proletarier ist seine Organisation teuer, er weiß, daß er nichts ist ohne sie. Ein großer Teil der Opposition innerhalb der Fraktion machte daher deren Spaltung durch Bildung der Arbeitsgemeinschaft nicht mit. Im Dezember 1915 hatten bereits 43 Genossen in der Fraktion für Ablehnung der Kriegskredite gestimmt. Aber im Plenum waren es nur 20, die sie ablehnten, und als es dann im März 1916 zur Bildung der Arbeitsgemeinschaft kam, schlossen sich ihr nur 18 an. Und dieser Kreis hat sich nicht mehr wesentlich erweitert. Vom August 1914 bis zum Dezember 1915 war die Zahl der Gegner der Kreditbewilligung von 14 auf 43 gestiegen. Man hätte erwarten dürfen, die Opposition werde bald die Mehrheit in der Fraktion bekommen – nun wurde diese Entwicklung durch die Bildung der Arbeitsgemeinschaft unterbrochen. Der größte Teil der Opposition blieb in der Fraktion, in der er, zahlenmäßig geschwächt und seiner energischsten Elemente beraubt, seitdem keine Rolle mehr spielte. Das Uebergewicht des rechten Flügels in der alten Fraktion wurde durch die Spaltung enorm gefördert: Geschwächt wurde dagegen die Opposition. Sie zerfiel nun in drei Gruppen: Spartakisten, Arbeitsgemeinschaft und Opposition innerhalb der alten Fraktion. Die Bewegungsfreiheit, die die ersten beiden Gruppen bekamen, wurde mit der Schwächung der Gesamtopposition teuer erkauft. Aber, wie gesagt, so bedauerlich das war, es ließ sich unter den gegebenen Umständen kaum vermeiden.

Noch widerstrebte die Opposition, abgesehen von den Spartakisten, der Spaltung der Partei. Es mußte noch ein Jahr bittersten inneren Zwistes unter fortschreitender Mundtodmachung der Opposition in der Parteipresse vergehen, ehe der Gedanke der Loslösung von der Partei in ihr weitere Kreise ergriff. Doch war keineswegs die Gesamtheit der Genossen, die der Arbeitsgemeinschaft anhingen, bereits dazu entschlossen, als im April 1917 die Konferenz der Opposition nach Gotha einberufen wurde, nicht zur Bildung einer neuen Partei, sondern zum festeren Zusammenschluß der Opposition innerhalb der Partei.

Ich war nicht sehr begeistert davon, daß man die größtem An-strengungen gemacht hatte, die Spartakisten zu dieser Tagung heranzuziehen, die alle Rechte eines Genossen von uns beanspruchten, ohne irgendeine der Pflichten eines solchen uns gegenüber auf sich zu nehmen; die bestimmend auf unsere Beschlüsse einwirken wollten, ohne sich selbst je an sie zu kehren. Die Größe ihrer Anmaßung stand in umgekehrtem Verhältnis zur Zahl ihrer Anhänger.

Schon in Gotha selbst empfand ich ihren Einfluß auf unsere Beschlüsse sehr unangenehm. Die Konferenz war einberufen worden als eine der Opposition innerhalb der Sozialdemokratischen Partei. Alle ihr von den Einberufern vorbereiteten Enunziationen wurden von uns abgefaßt als solche der Opposition innerhalb der Sozialdemokratie. Da tauchte plötzlich in Gotha der Vorschlag auf, wir sollten uns konstituieren als Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands.

Vergebens sprachen Eisner, Bernstein und ich gegen diesen Vorschlag, der die offene Spaltung mit ihren verhängnisvollen Konsequenzen bedeutete. Gegen uns sprachen Ledebour, Herzfeld, Heckert, und sie gewannen die Mehrheit, 77 gegen 42 Stimmen. Wären die Anhänger der Arbeitsgemeinschaft unter sich geblieben, ohne Zuziehung der Spartakisten, das Ergebnis wäre wohl ein anderes gewesen.

Nach dieser Abstimmung legten Bernstein, ebenso Wurm und ich uns die Frage vor, ob wir uns dieser neugeschaffenen Partei mit gutem Gewissen anschließen dürften. Daß die Spaltung in mancher Beziehung schädlich wirken werde, darüber waren wir uns klar, die wir bereits so manche Parteispaltung mitgemacht hatten. Aber nachdem sie einmal nicht mehr zu hindern war, fragte es sich, ob wir uns nicht zu völliger Unfruchtbarkeit und Untätigkeit verurteilten, wenn wir uns von jenen trennten, mit denen wir in der damals entscheidenden Frage, der Kriegsfrage, einig waren, und ob wir nicht durch diese Trennung uns in ein falsches Licht vor der Internationale setzten, die uns höher stehen mußte als die Landespartei.

So entschlossen wir uns, den verhängnisvollen Schritt mitzumachen, aber leicht wurde er uns nicht. In der Kriegspolitik blieben wir mit der Masse der neuen Partei im besten Einvernehmen, dagegen vertieften sich bald unsere Bedenken gegen ihr Verhältnis zum Spartakismus, das sich keineswegs gleichblieb, sondern von dem man auch sagen konnte:

„A bisserl a Lieb und a bisserl a Treu
Und a bisserl a Falschheit war allweil dabei.“

Die Ehe zwischen Unabhängigen und Spartakisten glich gar sehr jener, die Tolstoi in seiner Kreutzersonate beschrieb.

Seit dem Staatsstreich des Bolschewismus am Oktober 1917 erstand mit einem Male eine ganz neue Denlkweise, die allerdings im Grunde nur die Wiederbelebung eines Gemisches sehr alter vormarxistischer, Weitlingscher, Blanquistischer, Bakuninscher Anschauungen war. Dank ihren imposanten äußerlichen Erfolgen in Rußland gewannen die bolschewistischen Ideen gewaltigen Einfluß nicht bloß auf die Spartakisten, sondern auch auf einen erheblichen, rasch wachsenden Teil der Unabhängigen. Es gab nur wenige unter uns, die sich ganz von ihnen freizuhalten wußten. Selbst viele der kritischsten unter den Unabhängigen gaben nur zu, daß der Bolschewismus für Deutschland nicht passe. Aber sie konstatierten das mit Bedauern, denn daß er Rußland dem Sozialismus entgegenführe, erschien ihnen als ausgemacht. Die bolschewistische Mode griff reißend um sich in den unabhängigen Reihen.

Sobald es möglich wurde, aus den widersprechenden Nachrichten, die über den Bolschewismus zu uns drangen, zu einem sicheren Ergebnis zu kommen, habe ich es für meine dringendste Aufgäbe gehalten, der Hirnverkleisterung entgegenzuwirken, die von den russischen Machthabern mit allen Mitteln im europäischen Proletariat betrieben wurde. Seit meiner ersten Schrift darüber, die im Sommer 1918 erschien, über Die Diktatur des Proletariats, habe ich keinen Zweifel darüber gelassen.

Meine unabhängigen Genossen haben mich daran nicht gehindert, sie haben auch nur vereinzelt gegen mich polemisiert, aber sie haben doch in ihrer Mehrheit lange Zeit diese Seite meines Wirkens sehr unzeitgemäß, als eine Störung des revolutionären Prozesses und eine Hemmung seiner Energie empfunden. Später sind manche entschieden auf meine Seite getreten, aber bis heute gilt bei vielen meiner unabhängigen Genossen der Bolschewismus als die Verkörperung der russischen Revolution. Und doch haben die Bolschewiks nichts anderes getan, als diese Revolution zuerst anzutreiben, um sie dann zu überfallen, zu knebeln, zu plündern und schließlich totzuschlagen. Jetzt sind sie daran, sie zu begraben. Aber ein erheblicher Teil der proletarischen Massen Europas merkt noch immer nichts davon.
 

III. Die deutsche Revolution

Im Oktober 1918 kam der militärische Zusammenbruch in Bulgarien und in Oesterreich, er zog den Zusammenbruch der deutschen Westfront unaufhaltsam nach sich. Es war nicht die Weltrevolution, die einen Frieden der Verständigung brachte, sondern der militärische Zusammenbruch brachte die Revolution bei den Besiegten und den Diktatfrieden für sie. Damit war eine völlig neue Situation gegeben. Der Krieg hatte die Spaltung herbeigeführt, mit dem Kriege war ihre Ursache verschwunden. Dem Proletariat war die politische Macht zugefallen. Sie festzuhalten war nur möglich bei voller Einigkeit in seinen Reihen. Hatte ich bis dahin, seit dem August 1914, meine Hauptaufgabe darin gesehen, mitzuwirken an den Bestrebungen für rascheste Herbeiführung eines Verständigungsfriedens zwischen den Nationen, so sah ich vom November 1918 an meine Hauptaufgabe darin, alles zu unterstützen, was einen Frieden der Verständigung zwischen den sozialdemokratischen Parteien, mit einem Wort, was ihre Einigung herbeiführen konnte. In der USPD den Boden dafür zu bereiten, war nun mein stetes Bestreben.

Auch in dieser neuen Situation stand die USP nicht einheitlich da. Der größte Teil erkannte, daß es jetzt nicht an der Zeit sei, den Bruderkampf fortzuführen. Das Spalten geht freilich leichter als das Zusammenschließen. An eine sofortige Wiedervereinigung war nicht zu denken. Ich wurde mit Entrüstung zurückgewiesen, als ich zu einigen meiner Freunde, davon sprach. Aber die meisten sahen doch ein, daß die Revolution verloren gehe, wenn nicht die USP und die SPD zusammenwirkten, Es kam zur paritätischen Besetzung der Regierung.

Leider war nur ein Teil der USP so vernünftig. Ein anderer stand völlig im Banne der bolschewistischen Ideen und suchte die bolschewistischen Methoden gedankenlos nachzuahmen.

Die Bolschewiks hatten in Rußland seit dem Ausbruch, der Revolution ihre Aufgabe darin gesehen, den Bürgerkrieg zu eröffnen, nicht etwa bloß gegen die Großgrundbesitzer und Kapitalisten, sondern ebenso sehr gegen die anderen sozialistischen Parteien, die wohl einen erheblichen Teil des Proletariats hinter sich hatten, gegen die man aber die Wut der Soldaten und Bauern entfesselte. Das war eine Infamie vom Standpunkte des Sozialismus und der Revolution aus gesehen, aber es war ein Akt teuflischer Schlauheit, vom bornierten Sekteninteresse der bolschewistischen Partei aus betrachtet.

Die Spartakisten, bald Kommunisten genannt, und die ihnen sympathisierenden Unabhängigen glaubten, in Nachäffung des Bolschewismus in Deutschland das gleiche tun au können. Aber was in Rußland wenigstens vom beschränkten Sekteninteresse aus als höchst schlau erschien, gestaltete sich in Deutschland selbst von diesem Standpunkt aus zur höchsten Unvernunft. Denn die Bundesgenossen, die in Rußland von Lenin gegen die ihm widerstrebenden Proletarier aufgeboten wurden, die Soldaten und Bauern, waren in Deutschland dazu nicht zu gebrauchen, unter den so ganz anders gearteten Verhältnissen. In Rußland war Lenin unterstützt worden durch die Friedenssehnsucht der Soldaten, denn nach der Märzrevolution 1917 war der Krieg weitergegangen. Die deutsche Revolution vorn November 1918 fiel dagegen zusammen mit der Beendigung des Krieges. Die Kommunisten hatten da den Soldaten nichts mehr zu bieten. In Rußland war ferner Lenin unterstützt worden durch den Landhunger der Bauern, die dort noch eine revolutionäre, nach Umsturz begierige Schicht ausmachten. In Deutschland sind die Bauern schon längst die Grundsäule des Konservatismus, geworden.

Unter diesen Umständen als kleine Minderheit im Proletariat im Gegensatz zu dessen Mehrheit Lenin spielen zu wollen, war der Gipfel der Torheit. Er wurde leider nicht bloß von den Spartakisten erklommen, die sich bald nach der Revolution von den Unabhängigen trennten und diesen als gesonderte kommunistische Partei gegenüberstanden, sondern auch von einem Teil derjenigen, die in der unabhängigen Sozialdemokratie verblieben.

Unsere Partei bot damals einen grotesken Anblick, wie vielleicht noch keine andere Partei in der Weltgeschichte. Ihr rechter Flügel stand in der Regierung und ihr linker arbeitete am Umsturz derselben Regierung. Und was das merkwürdigste ist: die Partei ging nicht sofort darüber aus dem Leim. Aber was sie zusammenhielt, war nicht mehr ein gemeinsames Programm, eine gemeinsame Taktik, sondern nur noch der aus der Kriegszeit überkommene gemeinsame Haß gegen die Mehrheitssozialisten. Getreu der alleinseligmachenden Moskauer Schablone forderten unsere Linkser alle Macht für die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte. Die Soldatenräte erwiesen sich als ein zweischneidiges Schwert, zu Bauernräten kam es zum Glück nicht. Die Arbeiterräte hätten von großem Vorteil werden können, wenn man vermocht hätte, sich auf eigene Füße zu stellen und von dem russischen Vorbild loszureißen, wie man es in Wien tat. Dort dienten die Arbeiterräte dazu, die gesamte Arbeiterschaft zu gemeinsamem Wirken zusammenzufassen. Noch nützlicher hätten sie in Deutschland werden können, angesichts der Zerklüftung unseres Proletariats, die der Krieg geschaffen. So begrüßte ich auch freudig den Kongreß der Arbeiterräte, der vor Weihnachten 1918 in Berlin zusammentrat. Ich hoffte, er werde den Apparat zur Einigung des Proletariats scharfen.

Leider hatte ich die Rechnung ohne unseren linken Flügel gemacht. Nach bolschewistischem Muster wollte er Arbeiterräte als ein Mittel zur Herrschaft zu gelangen. Als er die bittere Erfahrung machen mußte, daß die große Mehrheit auf Seite der Rechtssozialisten stand, verlor er alles Interesse an diesen Arbeiterräten und proklamierte fortan die Forderung aller Macht für die revolutionären Arbeiterräte, das heißt, für solche, die nach seiner Pfeife zu tanzen gewillt waren.

Als der Kongreß einen Zentralrat einsetzte, der als oberste Instanz im Reiche die Regierung zu kontrollieren hatte, da gelang es den Männern der äußersten Linken, die unabhängigen Delegierten des Kongresses zu bewegen, daß sie eine Wahl in den Zentralrat ablehnten. Im Verein mit dem linken Flügel der Rechtssozialisten hätten sie in diesem Rat bestimmend wirken können auf den Fortgang der Revolution. Sie glaubten wunder wie revolutionär zu wirken, wenn sie draußen blieben, damit die Spaltung von neuem unterstrichen und die Schwächung des Proletariats in den Tagen der Revolution fortsetzten.

Haase hat sich damals die Haare gerauft vor Verzweiflung über die Dummheit seiner Parteigenossen, die er nicht zu verhindern vermochte.

Da der Zentralrat nun ganz in den Händen der Rechtssozialisten lag, erschien Haase und seinen Kollegen auch ihre Position in der Regierung unhaltbar. Sie traten aus, zur großen Genugtuung unserer Linkser, derselben, die heute Wirth stürzen wollen, um ihn durch eine Arbeiterregierung zu ersetzen, die aber damals, als wir eine rein sozialistische Regierung hatten, nicht ruhten, bis sie gesprengt war. Dieses unsinnige Toben, das uns nicht vom Fleck brachte, nannte man das „Weitertreiben der Revolution“.

Nachdem man leichten Herzens alle Machtpositionen in der Regierung aufgegeben hatte, entdeckte man plötzlich, daß die Behauptung des Berliner Polizeipräsidiums, das in die Hände des Unabhängigen Eichhorn gelangt war, eine Lebensfrage für die Revolution darstelle. Darum kam es nun im Anfang Januar .1919 zu blutigen Kämpfen, die ganz ziel- und planlos waren, aber gelegentlich den Charakter eines bewaffneten Aufstandes zum gewaltsamen Sturz der Regierung annahmen.

Damals zeigte sich’s wieder, aus wie gegensätzlichen Elementen die USP bestand. Was in keiner anderen Partei möglich gewesen wäre, geschah in ihr. Ihr linker Flügel in Berlin im Verein mit den Spartakisten tat bei den Unruhen tatkräftig mit, indes die Parteivertretung den Kampf beizulegen suchte und dazu Vermittler sowohl zur Regierung wie zu den rebellischen Genossen entsandte. Wir (ich gehörte zu den Vermittlern) erreichten es in der Tat, die beiden Teile an den Verhandlungstisch zu

bringen. Wäre es gelungen, zu einem Frieden der Verständigung zu kommen, er hätte von größtem Segen für unsere Sache und den Fortgang der Revolution werden müssen. Sein Zustandekommen mußte eine tiefe Kluft auftun zwischen der großen Masse der Unabhängigen, die der Verständigung zustimmten, und den Unversöhnlichen, die keine Verständigung wollten. Er mußte die besonnensten Elemente der Unabhängigen den Rechtssozialisten nähern und damit die Einigung fördern.

Durften diese doch damals den Triumph verzeichnen, daß dieselben radikalen USP, die es abgelehnt hatten, sich in den Zentralarbeiterrat hineinwählen zu lassen, jetzt an diesen Zentralrat bei ihrem Konflikt mit der Regierung als an die entscheidende Instanz appellierten.

Aber es kam zu dieser Verständigung nicht. Die Regierung der Volksbeauftragten war unklug genug, als Vorbedingung für jedes weitere Verhandeln die Räumung des Vorwärts durch die Aufständischen zu verlangen. Das war überflüssig, denn der Vorwärts bildete keine wichtige strategische Position, und seine Räumung wurde selbstverständlich, sobald man sich geeinigt hatte. Aber nicht minder überflüssig war es von der Gegenseite, die Räumung abzulehnen, da die Position, wie gesagt, für die Aufständischen von keinem Vorteil war. Wenn ich mich recht erinnere, gaben die revolutionären Obleute sogar zu, daß sie an der Besetzung gar nicht beteiligt seien und sie nicht wünschten.

Trotzdem scheiterten, an dieser leeren Prestigefrage die Verhandlungen. Ich gehörte damals zu jenen Vermittlern, die beiden Seiten zuredeten, nachzugeben. Hier wie dort erfolglos.

Ich erinnere mich noch, dem Zentralrat aufs eindringlichste vorgehalten zu haben, welch Unheil er heraufbeschwöre, wenn er die Verständigung scheitern lasse.

„Ihr seid wohl in der Lage“, so sagte ich ungefähr, “des Aufstandes mit Militärgewalt Herr zu werden. Aber denkt daran, wieviel Blut das kosten wird und wie sehr Ihr dadurch den Militarismus in den Sattel erheben werdet. Erinnert Euch der blutigen Maiwoche der Pariser Kommune. Die damalige Schlächterei hat einen tiefen Abgrund aufgerissen zwischen dem Proletariat Frankreichs und den Siegern, einen Abgrund, der sich noch ein Menschenalter später aufs nachdrücklichste geltend machte, als Gallifet mit Millerand zusammen in die Regierung ging. Wollt Ihr jetzt solche tödliche Feindschaft setzen zwischen Euch und einem großen und leidenschaftlichen Teil des deutschen Proletariats? Kommt es zur Verständigung, dann seid Ihr die moralischen Sieger. Die große Masse des deutschen Proletariats wird Euch dankbar, sein. Kommt es zu blutiger Niederwerfung, dann seid Ihr nur militärisch die Sieger: Politisch und moralisch erleidet Ihr eine schwere Einbuße.“

Es half alles nichts. Ohne Ergebnis ging man auseinander, die Kanonen und Maschinengewehre begannen ihre furchtbare Tätigkeit, die entfesselte Soldateska wuchs der Regierung über den Kopf und tobte sich in den scheußlichsten Bestialitäten aus, wie in der Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs. Noske erlangte den Ruf eines deutschen Gallifet, und die Einigung des deutschen Proletariats wurde in weite Ferne gerückt.

Die USP bekam aber nun eine Kraft, die sie bis dahin nicht gehabt hatte. Wäre es im Januar zur Verständigung gekommen, unsere Partei hätte angesichts der schroffen Gegensätze in ihrem Innern das nicht lange überlebt. Sie wäre auseinandergefallen. Das Blutbad vom Januar gab ihr wieder einen neuen Zusammenhalt.
 

IV. Seit der Revolution

Der unglückselige Ausgang der Januarunruhen verlieh der USP bald erhöhtes Ansehen bei den Arbeitermassen, indes er die Werbekraft der SPD erheblich beeinträchtigte. Diese erschien im Bunde mit bürgerlichen Elementen als Anwenderin militärischer Gewalt gegen proletarische Bewegungen, indes die USP in die Lage kam, die Demokratie zu verteidigen. Nicht als Kündigerin von Gewaltanwendung, sondern als Verfechterin der Demokratie gewann sie wachsendes Vertrauen im Proletariat. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 bekam die USP etwas über zwei Millionen Stimmen, Anderthalb Jahre später, im Juni 1920, gelang es ihr, bei der Reichstagswahl weit mehr als das Doppelte aufzubringen, fast fünf Millionen Stimmen. Die Rechtssozialisten dagegen gingen im gleichen Zeitraum von elf Millionen auf 5.600.000, also auf die Hälfte, zurück.

Das war die stolzeste, erfolgreichste Zeit der USP. Damals konnte man wirklich erwarten, die so bitter notwendige Einigung des Proletariats werde sich auf dem Wege seiner Sammlung unter der unabhängigen Fahne vollziehen.

Aber leider beruhte die Lebenskraft der USP nicht auf ihren eigenen Leistungen, sondern auf den Fehlern ihrer Gegner. Sobald diese weitere grobe Fehler vermieden, hörte das Wachstum der USP auf. Heute glaubt wohl kein ernsthafter Politiker mehr, daß es ihr gelingen werde, die SPD zu überflügeln und auf diesem Wege das Proletariat zu einigen.

Das Grundleiden der USP war von ihrem Anbeginn die Gegensätzlichkeit ihrer Bestandteile. Eine sozialistische Partei, die das gesamte Proletariat umfaßt, vermag wohl zu einem hohen Grade sehr gegensätzliche Elemente zu verdauen. Nicht aber eine Partei, die als bloße Vertreterin einer bestimmten Richtung innerhalb des Sozialismus auftritt.

Das war nach der Revolution deutlich zutage getreten. Jene Phase, die wir kurz als das Noskeregime bezeichnen können, half, wie vorher der Kriegszustand, die Gegensätze innerhalb der Partei etwas überbrücken, aber je mehr wir wieder normale Verhältnisse bekamen, desto störender machte sich in der USP der bolschewistische Einschlag fühlbar, um so mehr, da er an Einfluß in der Partei ständig wuchs. Nur mühsam hatte sich noch Haase in den letzten Monaten seines Lebens des kommunistisch gefärbten Andrangs der Mehrheit seiner Genossen erwehrt. Nach seinem Hinscheiden beherrschten diese schrankenlos die Partei.

Ihr Einfluß erschien noch größer als er wirklich war, dank der neuen Taktik der Führer des sozialdemokratischen Flügels der USP. Sie hielten es für hoffnungslos, dem bolschewisierenden Element theoretische Vernunft beizubringen. Das erschien ihnen aber auch weit weniger wichtig, als seine Erziehung zu praktischer Vernunft. Und das hoffte man unter dem Drang der Verhältnisse zu erreichen, wenn man es vermied, die Linke durch entschiedene Ablehnung des theoretischen Kommunismus gegen die Rechte aufzubringen. Durch Nachgiebigkeit in der Form hoffte man sich in der Sache eher durchzusetzen. Diese diplomatische Schlauheit war leider sehr verfehlt, denn das Denken des Menschen ist eben nicht ein leerer Zeitvertreib, auch das, wenn man so sagen darf, gedankenloseste Denken nicht, sondern es hat bei tatenlustigen Menschen sehr ernsthafte Konsequenzen.

Heute liegt die Verfehltheit der Politik der Rechten der USP klar zutage. Im Herbst 1919 dagegen erschien sie den meisten meiner Freunde noch sehr vielversprechend.

Nur so war es möglich, daß auf dem Leipziger Parteitag vom November 1919 das Aktionsprogramm einstimmig angenommen werden konnte, durch das die Unabhängige Sozialdemokratische Partei ihre Abkehr von dem sozialdemokratischen Programm vollzog und sich auf den Boden des Rätesystems stellte. Daß der Bolschewismus, den das Leipziger Aktionsprogramm verkündete, kein klarer, sondern ein höchstverschwommener war, bedeutet keine Verbesserung.

Ich war von diesem Ergebnis äußerst niedergeschmettert. Auf die Leipziger Beschlüsse hatte man ja gefaßt sein müssen, aber daß dieses Programm ohne jegliche Widerrede von allen Anwesenden geschluckt werden konnte, das erschütterte mich aufs tiefste.

Ich hatte mich 1917, nachdem die Spaltung nicht mehr zu vermeiden war, der Unabhängigen Sozialdemokratie angeschlossen, dagegen die Idee der Rätediktatur von Anfang an aufs schärfte bekämpft. Und ich war nicht gewillt, die Schwenkung meiner Pärtei zur Idee dieser Diktatur mitzumachen.

Das Ausscheiden aus der USP, in der ich mich nun sehr vereinsamt fühlte, wäre gerechtfertigt gewesen. Alber unsereiner kann doch außerhalb einer proletarischen Partei nicht leben. Und zur SPD zu gehen, hätte mich damals noch große Ueberwindung gekostet. Nicht bloß waren die Wunden der Noskezeit noch nicht völlig vernarbt, ich hätte auch den Uebertritt allein vollziehen müssen. Keiner meiner Freunde in der USP, mit denen ich in schwerer Zeit Schulter an Schulter gefochten, wäre mir gefolgt. Ich hätte fortan gegen sie kämpfen müssen, die mir doch in der Gesamtpartei am nächsten standen und mit denen ich sachlich völlig übereinstimmte, ausgenommen ihre diplomatische Taktik gegenüber dem Bolschewismus innerhalb der Partei.

Ich suchte daher eine andere Art des Austritts aus der USP und trachtete, Deutschland überhaupt den Rücken zu kehren und ein Land aufzusuchen, in dem ich eine ungespaltene Sozialdemokratie und damit ein gesundes Parteileben vorfand. Ich faßte den Entschluß, nach Oesterreich, dem Ausgangspunkt meiner Parteitätigkeit vor bald fünfzig Jahren, auszuwandern.

In den Vorbereitungen dazu traf mich die Einladung nach Georgien, die ich mit Freuden akzeptierte, die mich aber viele Monate, von August 1920 bis Mai 1921, von Deutschland fernhielt.

Als ich zurückkehrte, fand ich nicht mehr die alte USP vor. Alle Diplomatie und die Einstimmigkeit in der Annahme des Leipziger Aktionsprogramms hatten nichts geholfen. Gerade in dem Moment, als ich nach Georgien abreiste, war es zum Konflikt der Gegensätze in der USP gekommen, der dann in Halle im Oktober 1920 seinen Austrag fand. Das Auseinanderfallen der USP, das seit der Beendigung des Krieges unvermeidlich geworden und nur durch die gewaltsame Niederschlagung der Januarunruhen und ihrer Konsequenzen hinausgeschoben worden war, vollzog sich jetzt. Allerdings in unvollkommener Weise. Es trennten sich nicht Sozialdemokraten und Kommunisten, .sondern auf der einen Seite standen Kommunisten, die sich blindlings dem Moskauer Kommando unterwarfen, auf der anderen Seite Sozialdemokraten und verschämte Kommunisten, die sich von den ausgesprochenen Kommunisten hauptsächlich dadurch unterschieden, daß sie ihre Selbständigkeit Moskau gegenüber wahren wollten.

Die Tagung von Halle hatte also die heterogene Zusammensetzung der USP nicht aufgehoben, sondern nur das kommunistische Uebergewicht in ihr geschwächt.

Immerhin hatte das genügt, daß die USP wieder als sozialdemokratische Partei gelten konnte. Das Leipziger Aktionsprogramm wurde für sie ein toter Buchstabe. Da inzwischen auch die Erinnerungen an den Noskekurs schwächer wurden, jede Aussicht auf eine Erneuerung der Revolution und auf die Weltrevolution schwanden, was immer man darunter verstehen .mochte; da immer offenkundiger wurde, daß wir in eine Epoche der Reaktion eingetreten sind, die mehr als je den engsten Zusammenschluß des Proletariats erheischte; da unsere nächsten politischen und sozialen Aufgaben unter diesen Umständen immer mehr der Abwehr als dem Angriff galten – angesichts aller dieser Wandlungen mehrten sich die Fälle, in denen beide sozialdemokratischen Parteien zusammenarbeiten mußten und die praktische Politik der beiden zeigte immer mehr übereinstimmende Züge.

Angesichts dieser Situation begann ich wieder in der USP festen Boden unter den Füßen zu fühlen. Was ich seit Beginn der Revolution angestrebt, die Einigung der beiden sozialdemokratischen Parteien, dafür schienen jetzt die Bedingungen zu reifen. Jetzt aus der USP oder aus Deutschland herauszugehen, wäre ganz ungerechtfertigt gewesen. Nun hieß es, erst recht in der Partei bleiben, um für die Einigung zu wirken.

Aber ich hatte die Kraft des kommunistischen Einschlages unterschätzt, der noch in der US. verblieben war. Viele unserer äußersten Linken waren der 3. Internationale nicht deshalb ferngeblieben, weil sie an der Ersprießlichkeit des Räteprogramms zweifelten, sondern nur deshalb, weil sie eifersüchtig über ihrer Selbstherrlichkeit wachten. Wehrten sie aber deshalb schon die organisatorische Vereinigung mit den ihnen theoretisch so nahestehenden reinen Kommunisten ab, so mußten sie erst recht die Vereinigung mit den Sozialdemokraten von sich weisen, die von der Rätediktatur nichts wissen wollten. Für manchen von ihnen war es sicher keine bloße leere Redensart, sondern sehr ernsthaft gemeint, wenn es im Leipziger Aktionsprogramm hieß:

„Das Bekenntnis in Wort und Tat zu den Grundsätzen und Forderungen dieses Programms ist die Voraussetzung zur Einigung der Arbeiterklasse.“

In Wirklichkeit stellt jeder, der diesen Satz ernst nimmt, der Einigung des Proletariats, wenigstens in Deutschland, unüberwindliche Hindernisse entgegen.

Und dementsprechend haben die Väter des Leipziger Programms auch gehandelt. Sie konnten nicht offen die Einigung ablehnen, die ein dringendes Bedürfnis für alle Proletarier geworden ist. Gleich den Kommunisten müssen auch sie von der Einigungsfront reden, aber gleich diesen verstehen sie unter der Einigung nicht die Verschmelzung der sozialistischen Organisationen zu einem Gesamtkörper, sondern die Zusammenfassung des Proletariats unter ihrer Leitung. Jede andere Art der Einigung lehnen sie ab. Das heißt, sie fordern die. Einigung mit den [De]ppen und wälzen ihr tagtäglich neue Hindernisse entgegen.

Je stärker der Einigungsgedanke, desto energischer ihr Widerstand gegen ihn und sie haben dabei zweifellos große Erfolge erzielt, dank dem Umstand, daß die wahrhaften Sozialdemokraten in der USP, die es aufrichtig mit der Einigung meinen, auch jetzt wieder bei der verfehlten, diplomatischen Taktik blieben, bloß auf eine der Einigung günstige Praxis hinzuwirken und zu vermeinen, daß sie diese leichter durchsetzten, wenn sie auf einen offenen Kampf gegen die Saboteure der Einigung verzichteten.

So bot der jüngste Leipziger Parteitag das gleiche Bild wie sein Vorgänger. Die schärfsten Gegensätze kamen dort zusammen, prallten aber nicht offen aufeinander. Die Vertreter der Opposition begnügten sich damit, im stillen Kämmerlein der Kommission dahin zu wirken, daß das Manifest des Kongresses eine Fassung erhielt, die ihnen gestattete, es in ihrem Sinne auszulegen.

Damit war der Konflikt natürlich nicht aus der Welt geschafft, wohl aber der Masse der Parteigenossen der falsche Schein beigebracht, daß die ganze Partei einmütig hinter der Parteileitung stehe, und damit die Position der Opposition erheblich verschlechtert.

Wie der einstimmigen Annahme des Leipziger Aktionsprogramms von 1919 der Krach von Halle, folgte der einstimmigen Annahme des Manifestes schon wenige Wochen darauf der Krach in der Redaktion der Freiheit. Aber was bei offenem Auftreten in Leipzig ein Kampf um eine große Sache geworden wäre, nahm nun die kleinliche Form eines persönlichen Konfliktes zwischen der Parteileitung und einigen Redakteuren an, eines Konfliktes, den die Masse der Genossen angesichts der vorherigen Einstimmigkeit nicht verstand.
 

V. Auf zur Einigung

Was nun?

Wollen die Genossen der Opposition es bei ihren bisherigen Aeuße-rungen bewenden lassen? Dann sind sie politisch tot, was nicht nur in ihrem persönlichen Interesse, sondern weit mehr noch im Interesse unserer Sache höchlichst zu bedauern wäre, denn zu ihnen gehören einige der besten Köpfe der deutschen Sozialdemokratie überhaupt. Sie ist nicht so reich an Kräften, daß säe so leichthin auf jene verzichten könnte.

Sollen die kaltgestellten Mitglieder der Opposition einfach aus der Partei austreten, in der ihnen die Wirküngsmöglichkeiten, wenn nicht ganz abgeschnitten, so doch sehr beengt sind?

Auch das kommt nicht in Frage, denn das hieße, vorzeitig die Flinte ins Korn werfen.

Aber eines müssen sie tun, was sie schon längst hätten tun müssen: offen das Banner der Sache entrollen, für die sie kämpfen: das der Einigung. Nicht das der Einigung in irgendeinem höheren Sinne, in dem sie die Verewigung der Spaltung bedeutet, sondern das Banner der wirklichen und wahrhaften Einigung, das der sofortigen Verschmelzung der beiden sozialdemokratischen Organisationen. Jede andere Form der Einigung bedeutet bloß ein Ausweichen und Hinausschieben, bedeutet bloß ein Sabotieren der wirklichen Einigung. Wer zu dieser nicht bereit ist, der hindert die Einigung, der schwächt das Proletariat, der hindert es an der Ergreifung der politischen Macht, der ist ein Feind des Proletariats und der Revolution, wie sehr er auch von Proletarierfreundschaft triefen und mit revolutionären Donnerworten die Luft erfüllen mag.

Die Einigung miuß unser Panier sein, für sie muß der Kampf entbrennen. Nicht etwa für oder gegen Koalitionspolitik, oder für oder gegen das Steuerkompromiß. Es gilt vielmehr au zeigen, daß die Einigung über diesen Fragen steht, daß keine von ihnen so wichtig ist, wie die Einigung, daß Meinungsverschiedenheiten über sie die Einigung nicht hindern dürfen. Wer die Einigung der beiden Parteien hinausschiebt, bis alle Meinungsverschiedenheiten solcher Art zwischen ihnen verschwunden sind, der will sie für immer unmöglich machen. Und wir dürfen mit der Einigiung nicht länger zögern. Schon zu lange hat die Spaltung des Proletariats gelähmt.

Es handelt sich bei der Einigung nicht etwa darum, zu verbrennen, was man bisher angebetet und umgekehrt. Das wäre keine Einigung, sondern eine Kapitulation. An eine solche denkt kein Mensch.

Bei jeder wahrhaften Einigung, die wir bisher in der Parteigeschichte zu verzeichnen hatten, sind beide Teile bei ihren Ueberzeugungen geblieben. Nach der Einigung von, 1875 fuhren die Lassalleaner fort, die Politik, die sie bis dahin getrieben, für richtig zu halten. Und das gleiche war der Fall bei den Eisenachern. Weder Jaurès noch Guesde haben ihre Vergangenheit verleugnet, als ihre Parteien sich 1905 vereinigten. Und wenn ich heute zur Einigung rufe, habe ich keineswegs die Absicht, meine Anschauungen über die Kriegspolitik und den Noskekurs zu revidieren. Wenn 1875 und 1905 die Einigung möglich wurde, geschah es nicht wegen einer Gesinnungsänderung von links und rechts, sondern weil die Faktoren, die trennend gewirkt hatten, aufhörten, unsere Praxis zu bestimmen. Das gilt auch jetzt. Wie immer wir über die Kriegskredite und Noske denken mögen, für die Probleme der Gegenwart ist das an Bedeutung sehr zurückgetreten. Und das gleiche gilt auch von dem dritten Faktor, der neben den beiden genannten die Spaltung bisher förderte, dem kommunistischen Geist, der sich überall als Spaltbazillus erwiesen hat. Seiner werden und müssen wir in unseren Reihen Herr werden. Das heißt aber nichts anderes, als den Boden bereiten für die Einigung der beiden sozialdemokratischen Parteien. Denn nur noch der kommunistische Einschlag bei uns hindert den Zusammenschluß.

Wäre es aber nicht besser, wenn wir uns schon einigen wollen, alle drei Parteien zu einigen und die Kommunisten, mit in die neue Gemeinschaft einzuschließen? Wenn das gelänge, hätte ich auch dagegen nichts einzuwenden, wie ich auch in Rußland einen Ausweg aus der Sackgasse der heutigen bolschewistischen Politik in einem Koalitionsministerium sähe, in dem alle sozialistischen Parteien vertreten wären.

Aber damit das möglich wird, müßten die Kommunisten sich gründlich ändern, während zwischen den Massen der SPD und der USP eine Vereinigung ohne solche Aenderung möglich wäre.

Die Propagierung kommunistischer Ideen in einer sozialistischen Gesamtpartei würde ich nicht fürchten. Der wäre kein Erfolg beschieden. Was aber das Zusammenwirken mit den Kommunisten, wie sie sind, unmöglich macht, ist ihre Unduldsamkeit und ihr Jesuitismus. Sie streben nach Zertrümmerung jeder proletarischen Organisation, die sich nicht ihrer Herrschaft unterwirft, und kein Mittel der Lüge und der Gewalt ist ihnen zu schlecht, zu diesem Ziele zu kommen. Mit „Kameraden“ dieser Art zusammenwirken zu wollen, heißt Selbstmord begehen.

Mehr noch als durch ihre Theorien, die nur Gelegenheitstheorien sind und mit den Gelegenheiten wechseln, unterscheiden sich die Kommunisten von den Sozialdemokraten durch ihre diktatorische Gestaltung des Parteilebens, die unverrückbar die gleiche bleibt.

Es gibt eine doppelte Auffassung der Aufgaben einer sozialistischen Partei: eine vormarxistische und eine marxistische Auffassung.

Vor Marx erschien die sozialistische Bewegung, nicht als Ergebnis des Klassenkampfes, sondern des Strebens nach einer vollkommenen, idealen Gesellschaft. Jeder Utopist, der das Bild einer solchen entwarf, sammelte eine Schule um sich, die sich im Ziel und dem Weg dahin von den anderen Sozialisten absonderte und sie bekämpfte. Diese Absonderung und gegenseitige Bekämpfung übernahmen vom unpolitischen Utopismus die ersten sozialistischen Parteien. Die Parteizensplitterung war eine Kinderkrankheit des Sozialismus. Die Zersplitterung der Arbeiterbewegung durch die sozialistischen Parteien war so groß, daß viele Arbeiter sich deshalb von ihnen abwandten, die erkannten, daß die Kraft des Proletariats nur in seiner Geschlossenheit liege. Zum Teil liegt es daran, wenn zeitweise in England, wie .in Frankreich große Arbeitermassen von den sozialistischen Parteien nicht wissen wollten und ihr Heil ausschließlich in den Gewerkschaften sahen.

Marx und Engels waren die ersten, die bewußt die sozialistische Bewegung auf den Klassenkampf begründeten. Schon im Kommunistischen Manifest verlangten sie die „Organisation der Proletarier zur Klasse und damit zur politischen Partei“. Und in der Inauguraladresse der Internationale erklärte Marx, daß „die Befreiung der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden muß“, nicht etwa durch einen revolutionären „Vortrupp“, dem die Arbeiterklasse wie Schafe einem Leithammel nachzulaufen hat.

Von diesem Standpunkt aus erklärte schon das Kommunistische Manifest, daß die „Kommunisten“ jener Zeit, das heißt, die Marxisten, „keine besondere Partei gegenüber den anderen Parteien bilden“. Als aber später der Chartismus in Engliand zerfiel, in Frankreich und Deutschland die sozialistischen Parteien in wüstem Bruderkrieg einander gegenüberstanden, indes nur die Gewerkschaften große Massen in sich vereinigten, da kam Marx ebenfalls, wie jene eben erwähnten Arbeiter zu der Auffassung, die Gewerkschaften hätten die proletarische Klassenpartei zu bilden. Im Jahre,1869, nach der Spaltung der deutschen Sozialisten in I.assalleaner und Eisenacher, äußerte sich Marx zu dem Hauptkassierer des Deutschen Metallarbeiterverbandes:

„Alle politischen Parteien, mögen sie sein, welche sie wollen, ohne Ausnahme, begeistern die Masse der Arbeiter nur eine Zeitlang vorübergehend, die Gewerkschaften hingegen fesseln die Masse der Arbeiter auf die Dauer. Nur sie sind imstande, eine wirkliche Arbeiterpartei zu repräsentieren.“ (Vgl. Volksstaat vom 27. November 1869.)

Was in England durch die Labour Party verwirklicht wurde, betrachtete Marx damals als die einzig mögliche Form, um allenthalben große Arbeiterparteien zu schaffen und die Gesamtbewegung über das Elend der Parteizersplitterung und der beständigen Umbildungen und Neubildungen von sozialistischen Parteien zu erheben.

Aber 1875 kam in Deutschland die Einigung der beiden sozialistischen Parteien, noch nicht auf der Grundlage eines marxistischen Programms, aber doch auf der Grundlage der Erkenntnis des Klassenkampfes. Diese neue geeinigte Partei gab sich einen Rahmen, der weit genug war, daß sich die verschiedenen Richtungen des kämpfenden Proletariats in ihm zusammenschließen konnten zu gemeinsamem Wirken, ohne daß eine die andere vergewaltigte.

Nicht die angelsächsische Form der Labour Party, sondern die deutsche Form der Sozialdemokratie wurde vorbildlich für die gesamte Arbeiterbewegung des europäischen Festlandes, als die seinen Bedingungen am besten entsprechende Form, das Proletariat als Klasse und politische Partei zu organisieren und die Zersplitterung zu überwinden, die daraus entstand, daß jede Richtung sich gesondert organisierte. Der Rahmen der deutschen Sozialdemokratie bedeutete nicht die Aufhebung der verschiedenen Richtungen sozialistischen Denkens und Strebens, sondern nur die Aufhebung ihrer Sonderorganisationen und ihres rücksichtslosen Kampfes gegeneinander. Er bedeutete die Zusammenfassung dieser Richtungen in einem gemeinsamen Organismus, in dem jede von ahnen volle Freiheit der Propagierung ihrer besonderen Auffassungen haben muß, aber auch jede in der Aktion sich der Mehrheit zu beugen und mit ihr herzlich zusammenzuwirken hat.

Alle heute bestehenden sozialistischen Parteien in Europa – außer England – wurden nach dem Beispiel der deutschen Sozialdemokratie geformt. Unter dem Einfluß dieses Beispiels wurden alle Spaltungen in der sozialistischen Bewegung überwunden, als letzte die in Frankreich 1905. Nur in Rußland erhielt sich unter dem Einfluß der Rückständigkeit seiner ökonomischen und politischen Verfassung die vormarxistische Form des Parteilebens mit seiner Zersplitterung und seinen Bruderkämpfen.

Der Krieg hat dann, wie wir gesehen, auch die deutsche sozialistische Bewegung zersplittert; diese Zersplitterung wurde erhalten und gesteigert durch den Einfluß, den das revolutionäre Rußland gewann. Die meisten ändern sozialistischen Parteien Europas waren glücklicher daran, sie haben sich trotz Krieg und Bolschewismus die Einheit zu erhalten gewußt.

Wenn wir jetzt die Einigung für Deutschland fordern, ist es nicht etwas Außerordentliches. Wir fordern nur, daß das deutsche Parteileben wieder die Formen annimmt, die Marx überall für den Sieg des Proletariats heischte und die sich allenthalben bereits durchgesetzt haben und die Kraft der sozialistischen Bewegungen bilden, auch bei jenen Parteien, die der USP am nächsten stehen. In den Parteien der Wiener Arbeitsgemeinschaft arbeiten „Reformisten“ und „Revolutionäre“ zusammen – wenn man diese Bezeichnungen noch weiter gebrauchen will, die mir seit der Revolution überholt erscheinen. In Oesterreich arbeiten Renner und Ellenbogen in der gleichen Partei mit Fritz Adler und Otto Bauer, in der Schweiz Grimm und Greulich, in Frankreich Longuet und Renaudel. Und in Italien finden wir desgleichen Turati und Serrati in der gleichen Partei. Wir verlangen nichts, als was dort bereits vorhanden ist.

Dieselben Gegensätze, die bei uns bestehen, finden sich auch in jenen Ländern. Aber zum Unterschied von uns führen sie dort sie nicht zur Bildung getrennter Organisationen, sondern werden innerhalb der gleichen Organisation ausgefochten.

Als in Oesterreich die Sozialdemokratie in die Koalition hineinging, empfand gar mancher der Genossen lebhafte Bedenken gegen diesen Schritt. Aber man hütete sich, es darob zur Spaltung kommen zu lassen. Das hätte die Sache, nur verschlechtert. Und wieder, als unsere Partei dort aus der Koalition herausging, hielten das nicht wenige unserer Genossen für verfehlt. Aber als ein noch weit größerer Fehler wäre ihnen eine Spaltung erschienen.

Wir fordern also mit der Einigung nichts Unerhörtes, nichts, was nicht bei den uns nächststehenden Bruderparteien bereits bestände.

Wir wiederholen es: die Einigung bedeutet nicht die Kapitulation. Sie bedeutet nicht das Aufgeben der eigenen Ueberzeugungen, sondern nur das Aufheben des Verfechtens dieser Ueberzeugungen innerhalb einer kleineren Organisation.

Die Einigung bedeutet, daß jeder von uns die Möglichkeit bekommt, zu einem weitaus größeren Kreise als bisher, zu der großen Mehrheit des Gesamtproletariats nicht als Organisationsfremder, nicht als Feind, sondern als Genosse zu sprechen und daher mit größerer Bereitwilligkeit und geringerer Voreingenommenheit gehört zu werden.

Es sind dieselben Proletarier bei der SPD wie bei uns; sie leben in derselben Klassenlage, haben dieselben Interessen, die gleichen Gegner. Wer von uns daran zweifelt, sie bei voller Freiheit der Propaganda für seine Anschauungen zu gewinnen, bekundet damit im Grunde nur einen Zweifel an der Güte seiner Sache oder an den Fähigkeiten seiner Person.

Einzelne mögen ihren persönlichen Einfluß durch die Einigung verlieren. Die große gemeinsame Sache der Befreiung des Proletariats kann dadurch nur gewinnen. Gelingt es uns, mit der Parole der sofortigen Einigung Eindruck auf größere Teile der USP zu erzielen, dann haben wir praktisch Wichtiges geleistet. Gelingt es uns nicht, dann ist wenigstens für mich die Konsequenz klar, gegeben.

Für mich steht es fest: Die große Mehrheit der Mitglieder der USP stellt wohl einen höchst wertvollen Teil der Gesamtarmee des deutschen Proletariats dar. Sie hat sich um dessen Befreiungskampf wohl verdient gemacht. Aber die Zeit ist vorbei, wo sie in dem Zustand der Absplitterung von der Gesamtpartei noch nützlich wirken könnte. Ihre isolierte Existenz kann unserer großen Sache nur noch schaden, nichts mehr nützen.

Dagegen werden die Massen der USP und ihre sozialdemokratischen Vertreter durch ihre Vereinigung mit der SPD diese nicht nur zahlenmäßig erweitern, sondern auch anfeuernd und belebend auf sie wirken, die Werbekraft der neugeschaffenen Gesamtpartei vergrößern, ihre politische Wucht stärken, so den Moment beschleunigen, in dem das deutsche sozialistische Proletariat im Reiche die politische Macht ergreift, und seine Fähigkeit vermehren, diese Macht zweckmäßig und erfolgreich anzuwenden und festzuhalten.

Mögen die Kommunisten der verschiedensten Schattierungen in der Zersplitterung des Proletariats sein Heil und das ihre suchen. Unsere Parole muß sein: Es lebe die geeinigte Sozialdemokratie!


Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012