Alexandra Kollontai


Die erste Sozialunterstützung

(1927)


Zum ersten Mal veröffentlicht 1927 in der Zeitschrift Krasnaja Niwa (Rotes Feld), Nr. 45.
Der vorliegende Abdruck erfolgte nach dem Buch Erinnerungen an Wladimir Iljitsch Lenin, Bd. 3, Moskau 1960, russ.
Nach Ich habe viele Leben gelebt, Berlin 1980, S. 432–436.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Der Oktober 1917 war trüb und windig. Im Park vor dem Smolny bogen sich die Baumkronen im Wind, und im Smolny selbst mit seinen endlosen, an einen Irrgarten erinnernden Korridoren und den großen, hellen, grässlich leeren Sälen wurde so angestrengt wie nie zuvor in der Welt gearbeitet.

Zwei Tage war es her, seit die Sowjets die Macht übernommen hatten. Das Winterpalais befand sich schon in den Händen der Arbeiter und Soldaten. Die Regierung Kerenski existiert nicht mehr. Doch jeder von uns war sich im klaren darüber, dass dies nur die erste Stufe auf der mit Schwierigkeiten gespickten Leiter war, die zur Befreiung der Werktätigen und zur Errichtung der neuen, in der Welt noch nie dagewesenen Arbeiterrepublik führte.

Das Zentralkomitee der Partei der Bolschewiki hatte sein Domizil in einem kleinen Seitenzimmer aufgeschlagen, mit einem einfachen Tisch in der Mitte, Zeitungen an den Fenstern und auf dem Fußboden und ein paar Stühlen. Ich weiß nicht mehr, weshalb ich damals eigentlich hingegangen war, doch in Erinnerung geblieben ist mir, dass mich Wladimir Iljitsch nicht einmal eine Frage stellen ließ. Sowie er mich sah, entschied er, dass ich etwas Dringenderes tun müsste als das, was ich gerade selbst zu erledigen gedachte.

„Fahren Sie gleich los und übernehmen Sie das Ministerium für staatliche Fürsorge. Das duldet keinen Aufschub.“

Wladimir Iljitsch war ruhig, beinahe fröhlich. Er scherzte noch über irgendwas und widmete sich gleich darauf wieder den anderen, die Weisungen oder Informationen einholen wollten.

Ich weiß nicht mehr, warum ich allein fuhr. Ins Gedächtnis hat sich mir nur eingeprägt, dass es ein nasskalter Oktobertag war, an dem ich vor dem Ministerium für staatliche Fürsorge in der Kasanskaja-Straße vorfuhr. Ein großer, stattlicher Portier mit grauem Bart und in betresster Uniform öffnete die Tür und musterte mich von Kopf bis Fuß.

„Wer ist im Augenblick von Ihrer Leitung im Hause?“ erkundigte ich mich.

„Gesuche werden heute nicht mehr angenommen“, fiel mir der stattliche Alte in der betressten Uniform ins Wort.

„Ich komme ja auch gar nicht deswegen. Wer von Ihren leitenden Beamten ist denn nun da?“

„Sie verstehen wohl kein Russisch?! Die Sprechzeit für Bittstellerinnen ist von eins bis drei. Und jetzt geht es, wie Sie sehen, auf fünf zu.“

Ein Wort gab das andere.

„Das kenne ich schon. Alle sagt ihr, ihr seid keine Bittstellerinnen. Doch lässt man euch herein, gibt’s von oben einen Rüffel.“

„So begreifen Sie doch, ich komme in Staatsangelegenheiten. Wo ist hier die Kanzlei? Der Diensthabende?“

Es half nichts. Die Sprechstunde war vorbei, er durfte niemanden mehr hereinlassen.

Ich versuchte, trotz des Verbots an ihm vorbei die Treppe hinaufzugehen. Doch der sture Alte pflanzte sich wie ein Baum vor mir auf und ließ mich keinen Schritt weiter.

So fuhr ich unverrichteter Dinge wieder davon, um zu einer Kundgebung zu eilen. Die Kundgebungen waren in jenen Tagen nämlich das wichtigste, die Hauptsache. Dort, in der Menge der armen Leute aus der Stadt und der Soldaten, entschied sich das Sein oder Nichtsein der Sowjetmacht, entschied sich, ob sie von den Arbeitern und den Bauern im Soldatenrock unterstützt oder von der Bourgeoisie niedergerungen würde.

Am nächsten Morgen klingelte es in aller Frühe in der Wohnung, in der ich Unterkunft gefunden hatte, als ich aus Kerenskis Gefängnis kam. Das Klingeln hörte nicht auf. Wir öffneten. Da stand so ein richtiger Bauer, mit langem Pelz, Bastschuhen und Bart.

„Ist das hier bei dem Kommissar des Volkes Kollontai? Ich muss ihn sehen. Hier ist ein Zettel für ihn von ihrem Oberbolschewiken, von Lenin.“

Ich schaute hin und sah auf dem Fetzen Papier tatsächlich die Handschrift Wladimir Iljitschs:

„Zahlen Sie ihm aus den Geldern der staatlichen Fürsorge so viel, wie ihm für ein Pferd zusteht.“

„Für ein Pferd? Was für ein Pferd?“

Der Bauer berichtete in aller Ruhe. Noch unter dem Zaren, vor dem Februar, hatte man sein Pferd fürs Militär beschlagnahmt und ihm versprochen, ein „hübsches Sümmchen“ dafür zu zahlen. Doch die Zeit ging dahin, ohne dass von dem Entgelt auch nur eine Spur zu sehen gewesen wäre. Da machte sich das Bäuerlein auf nach Petrograd und klopfte zwei Monate lang an die Türen aller Institutionen der Provisorischen Regierung. Allein vergeblich. Man schickte ihn bald hier-, bald dorthin, von einem Amt zum nächsten. So schmolz sein bisschen Geld dahin, und auch mit seiner Geduld war er am Ende. Auf einmal aber hörte er, es gebe da Leute, Bolschewiki, die würden den Arbeitern und Bauern alles zurückgeben, was ihnen Zar und Gutsbesitzer weggenommen hatten und was das Volk während des Krieges hergeben musste. Nur einen Zettel von Lenin, dem Oberbolschewiken, brauche man. So hatte denn das Bäuerlein Wladimir Iljitsch im Smolny ausfindig gemacht, ihn in aller Herrgottsfrühe aufgesucht und seinen Zettel bekommen, den er mir nun zeigte, jedoch nicht aus der Hand gab.

„Sowie ich mein Geld habe, bekommen Sie ihn. Bis dahin aber behalte ich ihn. Das ist sicherer.“

Was sollte ich nur mit diesem Bauern und seinem Pferd tun? Das Ministerium war doch noch in den Händen von Beamten der Provisorischen Regierung. Es war fürwahr eine seltsame Zeit: Die Macht lag schon in den Händen der Sowjets, es gab den bolschewistischen Rat der Volkskommissare, doch die Institutionen rollten wie entgleiste Eisenbahnwagen weiter in Richtung der Politik der Provisorischen Regierung.

Wie das Ministerium übernehmen? Mit Gewalt? Dann rennen sie davon, und man hätte keine Mitarbeiter.

Wir entschieden anders. Eine Delegiertenversammlung des Verbandes der unteren (technischen) Angestellten sollte einberufen werden. Vorsitzender war der Mechaniker Jegorow. Der Verband war von besonderer Art – ein Sammelsurium verschiedener Berufe, alle, die als technisches Personal für das jeweilige Ressort arbeiteten, Boten, Krankenschwestern, Heizer, Rechnungsführer, Schreiber, Mechaniker, Arbeiter und Arbeiterinnen der Kartenfabrik, Wächter und Arzthelfer.

Wir besprachen ganz sachlich die Lage. Dann wählten wir einen Rat und zogen am nächsten Morgen los, das Ministerium zu übernehmen.

Wir betraten das Gebäude. Wieder der Pförtner mit den Tressen. Er sympathisierte nicht mit den Bolschewiki und war der Versammlung ferngeblieben. Sein Blick zeigte Missbilligung, doch immerhin ließ er uns vorbei. Wir stiegen die Treppe hinauf, während uns auch schon ein Menschenstrom entgegenkam – Beamte, Tippfräulein, Buchhalter, Vorsteher. Sie liefen, rannten, ohne sich auch nur nach uns umzusehen. Wir die Treppe hinauf, sie hinunter. Die Sabotage der Beamten hatte begonnen. Nur ein paar Leute waren geblieben. Sie erklärten, sie seien bereit, mit uns Bolschewiki zusammenzuarbeiten. Wir gingen in die Arbeitsräume, in die Kanzlei des Ministeriums. Leer. Die Schreibmaschinen standen verlassen, Schriftstücke lagen herum. Die Eingangs- und Ausgangsbücher aber waren nicht da. Eingeschlossen. Keine Schlüssel, auch die für die Kasse nicht.

Wer hat sie? Wie sollten wir ohne Geld arbeiten? Die staatliche Fürsorge ist eine Einrichtung, in der die Arbeit immer weitergeht. Da waren die Waisenhäuser, die Kriegsinvaliden, die Werkstätten für Prothesen, die Krankenhäuser und Heilstätten, die Anstalten für Aussätzige, Erziehungsheime, Mädchenpensionate, Blindenheime … Ein riesiges Betätigungsfeld! Von allen Seiten wurde einem da zugesetzt, wollte man etwas. Und wir hatten keine Schlüssel. Am hartnäckigsten aber war das Bäuerlein, das mit Lenins Zettel erschienen war. Jeden Morgen, kaum dass es tagte, stand er vor der Tür.

„Was ist denn nun mit dem Geld für mein Pferd? War wirklich ein gutes Tier. Wenn es nicht so kräftig und ausdauernd gewesen wäre, würde ich nicht soviel Aufhebens um das Geld machen. Da ich nun aber einmal das Papier von Ihrem obersten Bolschewiken habe, werde ich doch nicht aufgeben. Ich werde es schon bekommen, und wenn ich noch ein halbes Jahr herumlaufen muss.“

Und er bekam es.

Die Beamten gaben die Schlüssel nicht heraus. Sie sagten: „Wir wissen nicht, wo sie sind. Suchen Sie selbst.“ So mussten wir den einen oder anderen festnehmen.

Zwei Tage später fanden sich die Schlüssel dann. Die erste Zahlung, die aus der Kasse der sozialen Fürsorge, damals noch des Volkskommissariats für staatliche Fürsorge, getätigt wurde, war das Entgelt für ein Pferd, das die zaristische Regierung auf betrügerische Weise und mit Gewalt einem Bauern weggenommen hatte und für das der hartnäckige Landmann auf Lenins Anweisung hin die volle Entschädigung erhielt.


Zuletzt aktualisiert am 27. Juli 2020