Alexandra Kollontai


Die erste Beratung der Bäuerinnen
aus dem Gouvernement Tula

(1945)


Geschrieben in den vierziger Jahren.
Der vorliegende Abdruck erfolgte nach dem Manuskript, das im Zentralen Parteiarchiv des IML Moskau aufbewahrt wird.
Nach Ich habe viele Leben gelebt, Berlin 1980, S. 491–495.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Im Winter 1920/21 verstärkte die Frauenabteilung des Zentralkomitees der Partei ihre Arbeit unter den Bäuerinnen, eine Arbeit, die bereits 1919 von Ines Armand begonnen worden war. In Verbindung hiermit wurde 1920 in Tula die erste Gouvernementskonferenz der Bäuerinnen von Delegiertenversammlungen und von eigens zu diesem Zweck auf örtlicher Ebene gewählten Delegierten einberufen. [1]

Als Leiterin der Frauenabteilung des Zentralkomitees der Partei fuhr ich nach Tula, um diese Beratung zu leiten. Begrüßt wurde ich von Mitarbeiterinnen der Frauenabteilung des Gouvernements und der Stadt Tula. Sie waren sehr aufgeregt, wie wohl die Beratung verlaufen würde. Es waren noch schwere Zeiten, und die Arbeit unter den Bäuerinnen hatte erst begonnen.

Untergebracht wurde ich in einem der alten, malerischen Häuschen im ehemaligen Kloster. Das Kloster war weitläufig, bildete gewissermaßen ein eigenes altes Stadtviertel. Da gab es sowohl solide Häuser aus Stein mit Zellen für Mönche höheren Ranges als auch Holzbauten für die einfachen Mönche und die Novizen. Dieser ganze Reichtum des alten Russland stammte aus dem Mittelalter. Es war echte, unverfälschte russische Baukunst, wertvoll auf Grund ihrer Besonderheiten und der Ideen begabter russischer Architekten des Gouvernements Tula. Die Kirchen aus dem 13. Jahrhundert mit strenger Linienführung und schweren Kuppeln, die seltsamen zierlichen Kapellen der Spätzeit mit ihren leuchtenden, leichten Kuppeln. Alles war unglaublich malerisch und farbenfroh – die kleinen Innenhöfe, die hölzernen Wandelgänge und die wenigen schmalen Fenster. Der Blick der Mönche war nach innen gerichtet; sie suchten nicht die Welt und das Leben, und das elende Los des Volkes rührte sie nicht.

Ich konnte mich lange nicht von dem pittoresken Bild des alten Klosters losreißen, doch die Mitarbeiterinnen der Frauenabteilung drängten mich. Sie führten mich in eine ordentlich hergerichtete Zelle mit einem Samowar und überschütteten mich sogleich mit Fragen. Vor mir war schon die Genossin Panowa angekommen, die in der Moskauer Frauenabteilung aktiv tätig war. Sie half den Tulaer Genossen, dieses wichtige Ereignis – die erste Beratung der Bäuerinnen des Gouvernements Tula – vorzubereiten.

Die Zelle gefiel mir sehr, obwohl das schmale Fenster auf einen engen Hof ging. Hier hatten Jahrhunderte hindurch Nonnen gelebt und ihre Seele „gerettet". Nun aber waren in den einstigen Zellen Delegierte untergebracht, die die Partei der Bolschewiki zur ersten Beratung der Bäuerinnen (natürlich gab es auch Arbeiterinnen) des Gouvernements Tula zusammengerufen hatte. Viele waren aus entfernten, abgelegenen Dörfern gekommen und hatten Tula noch nie gesehen. Sie trugen ihre typische hausgewebte Kleidung. Die meisten sahen blühend aus, waren kräftig und rotwangig und hatten strahlend weiße Zähne. Das Haar hatten sie glatt und streng zurück gekämmt, ein buntes Kopftuch darüber. Ihre Gesichter aber drückten Neugier, Verlegenheit und Freude aus. Noch nie waren diese Bäuerinnen auf einer Beratung gewesen. Da konnte einem schon „ein wenig bange" sein. Doch sie nahmen ihren Mut zusammen; schließlich hatten viele an der Front gegen Denikin gekämpft.

Die Beratung dauerte drei Tage. Ihr Ziel war es, die Bäuerinnen zu organisieren, sie in den Aufbau der Sowjets einzubeziehen und sie zu lehren, gegen die Überreste der alten Welt zu kämpfen und ein neues, glückliches sozialistisches Land aufzubauen, wie es Lenin vorschwebte.

Die Frauenabteilungen zogen Arbeiterinnen und Bäuerinnen über Delegiertenversammlungen zum Aufbau der Abteilungen der örtlichen Sowjets heran – im Volkskommissariat für soziale Fürsorge für Sommerkrippen, im Volkskommissariat für Bildungswesen für Schulen und Kindergärten und im Volkskommissariat für Gesundheitswesen für die Unterstützung der werdenden Mütter, den Schutz und die Sicherung der Mutterschaft usw. Delegierte der Frauenabteilungen, Arbeiterinnen und Intellektuelle, wurden für drei Monate als Praktikantinnen in die Abteilungen der Sowjets entsandt (bei Weiterzahlung des Lohns). Nach einer Einarbeitungszeit sollten sie dann als Instrukteure und anschließend als Kontrolleure durch das Gouvernement geschickt werden. In den Delegiertenversammlungen studierten sie die Verfassung der Sowjetmacht sowie die Rechte und Pflichten der Sowjetbürgerin, lernten sie Probleme der sowjetischen Politik und die Aufgaben der Partei kennen, kurz, erhielten sie eine politische Grundausbildung.

Die Arbeit unter den Bäuerinnen war viel komplizierter als die unter den Arbeiterinnen. Man musste ihre Sitten kennen, wollte man die Landbevölkerung nicht gegen die Frauenabteilungen aufbringen. Und eben da machte ich einen Fehler. Als ich auf unserer Beratung in Tula die Kandidatinnen für das Präsidium bekanntgab, nannte ich auch eine Mitarbeiterin der Tulaer Frauenabteilung. Es war eine junge, aktiv als Kommunistin tätige Arbeiterin, die sich in Moskau jedoch Manieren zugelegt hatte, wie sie die Bauern des Tulaer Gouvernements nicht gewohnt waren. Das hatte ihr unverkennbar Misstrauen und Missbilligung seitens der Bauern und besonders der Bäuerinnen eingebracht. Mit kurzgeschnittenem Haar, in kurzem Kleid und mit einer Zigarette im Mund betrat sie die Tribüne. Ins Präsidium wurde sie allerdings nicht gewählt. Doch es kam noch schlimmer. Im Saal erhob sich ein Murren auch gegen alle übrigen Kandidaten. Das brachte uns, die Leitung der Beratung, in eine sehr unangenehme und schwierige Lage. Natürlich wurden wir damit fertig, so dass die Beratung nach der Wahl des Präsidiums reibungslos entsprechend der von uns festgelegten Linie verlief. Mein Referat fand Verständnis und Zustimmung. Ich hatte darin schon die Besonderheiten der neuen Situation berücksichtigt und die Ratschläge der ortsansässigen bolschewistischen Arbeiter beherzigt. Unsere jungen Mitarbeiterinnen der Tulaer Frauenabteilung waren allerdings unzufrieden mit uns und machten uns Vorwürfe, weil wir uns der Mentalität der Bauern angepasst hatten.

Nach meiner Rückkehr berief ich in Moskau sogleich eine Sondersitzung der Frauenabteilung des Zentralkomitees der Partei und der Frauenabteilung des Moskauer Gouvernements ein. Wir arbeiteten eine Instruktion für die Mitarbeiterinnen der Frauenabteilungen aus, die wir in die Gouvernements entsandten, damit sie dort das Netz dieser Abteilungen bei den örtlichen Parteikomitees ausbauten. Die Instruktion enthielt den Hinweis, dass vor der Aufklärungsarbeit, besonders bei der Arbeit unter Bäuerinnen oder nationalen Minderheiten, die örtlichen Arbeitsbedingungen, die Sitten und Gebräuche gründlich studiert werden müssten. Die Instruktion gab ferner an, wie sich eine Mitarbeiterin der Frauenabteilung nicht nur auf Versammlungen, sondern auch im Leben zu verhalten habe. Ich erinnere mich, dass es darin hieß, man solle „sich nicht unbedingt nach der neuesten Mode kleiden" und dürfe, besonders wenn man es mit Bauern zu tun habe, nicht deren Gepflogenheiten missachten. Man müsse imstande sein, die Aufgaben der Partei konsequent zu erfüllen und die Frauen im Staatsaufbau zu unterweisen, ohne dabei jedoch die Bevölkerung vor den Kopf zu stoßen. Das sei bei der Arbeit unter den Frauen des Ostens und anderer nationaler Minderheiten besonders wichtig.

Heute noch, nach vielen Jahren, erinnere ich mich an diese Beratung der Bäuerinnen in Tula, die eine bedeutsame Etappe in unserer Arbeit war.

Und wie schön war Tula, dieses alte Zentrum der Industriearbeiter, die Stadt der russischen Metallarbeiter, die stolz auf ihre Arbeit und ihr Können waren. Unvergessen auch die Mönchszellen mit den großen, warmen Öfen und dem einladenden Samowar auf dem Tisch, wo wir Tee mit herrlich duftendem Honig tranken.

In Tula habe ich vieles dazugelernt. Meine Erfahrungen habe ich dann den Mitarbeiterinnen der Frauenabteilungen in ganz Sowjetrussland weitervermittelt.

*

Anmerkung

1. Bei der Datierung ist wahrscheinlich ein Fehler unterlaufen. Gemeint ist offensichtlich die erste Gouvernementskonferenz der parteilosen Arbeiterinnen und Bäuerinnen im Oktober 1921 in Tula. Auf dieser Konferenz hielt Alexandra Kollontai ein Referat über die Mitwirkung der Arbeiterinnen und Bäuerinnen beim Aufbau der Sowjetmacht.


Zuletzt aktualisiert am 31. Juli 2020