Karl Korsch

 

Die sozialistische Formel für die Organisation der Volkswirtschaft

(Dezember 1912)


Aus Die Tat, IV/9 (Dez. 1911), S.507-509.
Karl Korsch, Politische Texte (Hrsg. von Erich Gerlach u. Jürgen Seifert), Wien o.D., S.17-21.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Es wird einer späteren Generation höchst merkwürdig vorkommen, mit einer wie einfachen Formel der Sozialismus unserer Tage auskommen konnte und wieviele verschiedene und teilweise gegensätzliche Bestrebungen sich unter dieser einen Formel zusammenfanden. „Vergesellschaftung der Produktionsmittel“ lautet die einfache Formel, mit welcher der Sozialismus bisher gearbeitet hat und mit welcher er in Deutschland voraussichtlich noch längere Zeit auskommen wird: die gemeinsame Formel für Staatssozialisten, Syndikalisten, Genossenschaftler und mannigfache andere Richtungen.

Fragt man einen Sozialisten, was er unter „dem Sozialismus“ versteht, so wird man als Antwort im besten Falle eine Schilderung „des Kapitalismus“ erhalten, und die Bemerkung, daß „der Sozialismus“ diesen Kapitalismus durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel beseitigen werde. Aller Nachdruck liegt dabei auf der Negative, daß der Kapitalismus beseitigt werden soll; auch der Ausdruck „Vergesellschaftung der Produktionsmittel“ bedeutet zunächst weiter nichts als die Verneinung des Privateigentums an Produktionsmitteln. Sozialismus bedeutet Antikapitalismus. Der Begriff „Vergesellschaftung der Produktionsmittel“ hat einen klaren negativen Sinn; nach der positiven Seite hin ist er leer und nichtssagend.

Diese Inhaltslosigkeit der sozialistischen Formel für die Organisation der Volkswirtschaft war und ist so lange unschädlich, als die praktische Wirksamkeit des Sozialismus auf die Bekämpfung und Beseitigung von bestehenden Mißständen beschränkt ist. Sie wird schädlich, sobald der Augenblick gekommen ist, wo der Sozialismus irgendwo irgendwie die Regierung antritt und nun aufgefordert wird, die sozialistische Organisation der Volkswirtschaft zu vollziehen. Würde dieser Augenblick heute irgendwo eintreten, so würde er den Sozialismus unvorbereitet finden; der Sozialismus müßte bekennen, daß er eine ausreichende Konstruktionsformel für die Organisation der Volkswirtschaft noch nicht gefunden hat.

Für Deutschland ist dieser Augenblick noch lange nicht gekommen, und vielleicht haben deshalb die deutschen Sozialdemokraten recht, wenn sie eine detaillierte Formulierung ihres positiven volkswirtschaftlichen Programms bisher ablehnen.

Auch füy England bestände vielleicht heute noch kein praktisches Bedürfnis, den Begriff „Vergesellschaftung der Produktionsmittel“ durch eine genauere und ausführlichere Formel zu ersetzen, wenn nicht vom Auslande, von Frankreich her, eine Invasion gekommen wäre, welche den alten Sozialismus in seinem befestigten Besitzstande zu erschüttern beginnt: die Invasion des Syndikalismus (= gewerkschaftlicher Anarchosozialismus). [1] Nun aber wird der immanente, durch die Formel „Vergeseilschaftung der Produktionsmittel“ nur oberflächlich zugedeckte Gegensatz offenbar. Man kann ihn nicht übersehen, weil er klar zutage liegt, und auch darum, weil die Syndikalisten selbst sich ihres Gegensatzes zum alten Sozialismus deutlich genug bewußt sind: Staat und Kommunen erscheinen den Syndikalisten als absolut, untaugliche Mittel zur sozialistischen Wirtschaftsgestaltung. Der Staat, oder doch die Kommunen im dezentralisierten Staat, waren aber gerade die Organisationen, denen die Mehrzahl aller älteren Sozialisten den Besitz und die Verwaltung sämtlicher Produktionsmittel zugedacht hatte!

Ist die Ungenügendheit der Formel „Vergesellschaftung der Produktionsmittel“ einmal an diesem einen Punkte erkannt, so fällt es nicht schwer, ihre sonstigen Mängel und Widersprüche zu entdecken. Und wir sehen, daß auch da, wo bisher schon die kapitalistischen Formen durch „sozialistische“ verdrängt worden sind und eine „Vergesellschaftung der Produktionsmittel“ wirklich stattgefunden hat, dieser Prozeß sich auf so mannigfach verschiedene Weise vollzogen hat, daß der Ausdruck „Vergesellschaftung“ diese verschiedenen Formen nur noch darum alle decken kann, weil er eben selbst gar keinen bestimmten Inhalt hat. Das Wort von der „Vergesellschaftung der Produktionsmittel“ ist eine nichtssagende Formel, welche die verschiedenen Formen der erstrebten und bisher verwirklichten sozialistischen Wirtschaftsgestaltung nicht wirklich vereinigt, sondern nur zu einer scheinbaren Einheit zusammenfaßt. Dem aber, der die Inhaltslosigkeit dieses Worts erkannt hat, hilft es nichts mehr, wenn er seine Augen willkürlich schließt: er muß Stellung nehmen zu der Frage, in welcher von den verschiedenen denkbaren Ausführungsweisen er die Wergesellschaftung“ der Produktionsmittel durchgeführt wissen will. Mit anderen Worten: er muß über die Formel von der „Vergesellschaftung der Produktionsmittel“ hinaus zu einer für positive Zwecke brauchbaren Konstruktionsformel für die sozialistische Organisation der Volkswirtschaft durchdringen.

Diesem wahrhaft zeitgemäßen Bemühen dient die neueste große Unternehmung der „Fabian Society“ [2], das unter der Leitung von Beatrice Webb jetzt zusammengetretene „Committee of Inquiry on the Control of Industry“. Die Veranstalter dieser Unternehmung sind durchdrungen von der Uberzeugung: „Lebhafte Schilderung und beredsame Beschimpfung des jetzigen Zustands der Gesellschaft haben ihre Rolle ausgespielt. Durch die chaotische Verwirrung der heutigen sozialistischen Meinungen über alle konstruktiven Vorschläge, verbunden mit unserer eigenen Unfähigkeit, mit einiger Einmütigkeit und Deutlichkeit unsere Forderungen mit Bezug auf die künftige Organisation von Industrie und Handel zu prazisieren, werden wir allen Einfluß auf die intellektuelle Jugend verlieren ... Der Sozialismus hat mit Bezug auf den Aufbau der kommenden sozialen Neuordnung große Erwartungen erregt. Können wir diesen Erwartungen nicht mit sorgfältig entworfenen und geprüften Einzelvorschlägen begegnen, so wird uns die kommende Generation der Denker und Arbeiter für intellektuell bankrott erklären.“

Ein Einwurf gegen dieses großzügige Unternehmen liegt nahe: „unwissenschaftlich“ und „utopisch“! Aber man muß die Art und Weise sehen, wie der ganze Plan ausgeführt werden soll und seine Ausführung schon begonnen wird, um zu erkennen, daß hier Beobachtung, Experiment, theoretisches Studium, Phantasie und Urteilskraft zu einer Arbeit zusammenwirken, die von utopischem Subjektivismus ebensoweit entferne ist, wie die tatsachentreueste Beschreibung vergangener oder gegenwärtiger Verhältnisse. Über 100 Menschen wirken nach einem einheitlichen Plane zusammen in der Beschaffung des Materials, welches von vornherein unter bestimmten, von Zeit zu Zeit zu verändernden und anders zu gruppierenden Gesichtspunkten geordnet wird (Zettelsystem). Die Ergebnisse der Arbeit jedes einzelnen kommen in der einfachsten und praktischsten Weise zur Kenntnis aller andern. Man stelle sich einmal vor, eine wie große Menge von geistiger Energie hier freiwillig und unentgeltlich in den Dienst einer einzigen Idee gestellt wird!

Man wird dem dereinstigen Bericht dieses Komitees mit den größten Erwartungen, auch in Deutschland, entgegensehen dürfen. Denn auch für Deutschland tut es not, daß sich die Sozialisten über diese Frage klarer werden. Nicht weil zu erwarten steht, daß sie demnächst aufgerufen werden, den sozialistischen Zukunftsstaat zu begründen. Aber darum, weil demnächst wohl auch bei uns die so viel einfacheren und dem Fabrikarbeiter so viel näher liegenden Forderungen des Syndikalismus [3] die herrschenden Dogmen des Marxismus erheblicher - erschüttern werden. Dann wird es gelten, gegenüber der beginnenden Zersetzung ein neues Mittel zu finden, welches die sozialistische Bewegung Deutschlands zugleich innerlich zusammenhält und von anderen Bewegungen unterscheidet. Dieses neue Mittel kann aber kein anderes sein, als eine bestimmte, überlegte und geprüfte Formel, die zum Ausdruck bringt, welche von allen denkbaren Organisationen der Volkswirtschaft es verdient, die „sozialistische“ zu heißen und von „Sozialisten“ gefördert zu werden.

 

 

Anmerkungen

1. Zur damaligen Zeit erschienen in England mehrere Schriften, die eine Grenzlinie für die Labour Party gegenüber dem Syndikalismus zogen: J.R. Mac Donald, Syndicalism: A Critical Examination, London 1912, Philip Snowden, Socialism and Syndicalism, London 1912.

2. Zur Fabian Society vgl. Edgar Reichel, Der Sozialismus der Fabier, Heidelberg 1947; A.M. Mc Briar, Fabian Socialism and English Politics, Cambridge 1962; siehe auch Karl Korsch, Die Fabian Society, in: Tat, Jg.4., Nr.8 (Nov. 1912), S.422-427, Auszüge sind abgedruckt in: Karl Korsch, Kommentare zur Deutschen „Revolution“ und ihrer Niederlage (Rotdruck Bd.II), s’Gravenhage 1972, S.8f.; s. dort S.8-12 auch Anmerkungen zu Korsch, Die sozialistische Formel ...

3. Erich Gerlach, Die Entwicklung des Marxismus von der revolutionären Philosophie zur wissenschaftlichen Theorie proletarischen Handelns bei Karl Korsch in: Karl Korsch, Marxismus und Philosophie, hrsg. v. Erich Gerlach, Frankfurt/Main 1966, S.9, überinterpretierte diesen Satz, wenn er meinte, Korsch „werte“ den Syndikalismus „als die authentisch proletarische Konzeption des Sozialismus“. Michael Buckmiller, Marxismus als Realität, in: Arbeiterbewegung. Theorie und Geschichte, Jahrbuch 1. Über Karl Korsch, hrsg. von Claudio Pozzoli, Frankfurt/Main 1973, weist nach, daß Korsch damals die Position der Fabier vertrat. Wichtig bleibt dennoch, daß sich Korsch schon 1912 mit dem Syndikalismus beschäftigte, in ihm eine „Invasion“ sah, „welche den alten Sozialismus in seinem befestigten Besitzstande zu erschüttern beginnt“ und von den „so viel einfacheren und dem Fabrikarbeiter so viel näher liegenden Forderungen des Syndikalismus“ spricht.

 


Zuletzt aktualisiert am 23.8.2003