Karl Korsch

 

Der Pariser Kommuneaufstand 1871 – Die Russische Revolution 1926

(Juni 1926)


In: Kommunistische Politik, [1. Jg.], Nr.6, Anfang Juni 1926, S. 1-2. [1]
Karl Korsch, Politische Texte (Hrsg. von Erich Gerlach u. Jürgen Seifert), Wien o.D., S.128-135.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Das Paris der Arbeiter mit seiner Kommune wird ewig gefeiert werden als der ruhmvolle Vorbote einer neuen Gesellschaft. Seine Märtyrer sind eingeschreint in dem großen Herzen der Arbeiterklasse. Seine Vertilger hat die Arbeiterklasse schon jetzt an jenen Schandpfahl genagelt, von dem sie zu erlösen alle Gebete ihrer Pfaffen ohnmächtig sind. [2]

Mit diesen feierlichen Sätzen schließt die von Marx geschriebene Adresse des Generalrates der internationalen Arbeiterassociation über jenen ersten glorreichen Versuch zur Errichtung der revolutionären Diktatur des Proletariats, den die damalige Vorhut des ganzen modernen Proletariats, die französischen Arbeiter, am 18. März 1871 unternommen haben und dessen tragisches Ende – der letzte Massenmord an der „Mauer der Föderierten“ auf dem Friedhof Père-Lachaise – eben, ziemlich unbeachtet von der kommunistischen Presse, zum 55. Mal wiedergekehrt ist.

Karl Marx und Friedrich Engels haben diesen ersten welthistorischen Versuch zum siegreichen Durchbruch der proletarischen Revolution nicht nur als den „ruhmvollen Vorboten einer neuen Gesellschaft“ gefeiert. Sie haben daraus auch allerwichtigste Erkenntnisse für die Praxis der internationalen proletarischen Revolution, vor allem die erste aus der geschichtlichen Erfahrung selbst abgeleitete Konkretisierung ihrer Lehre über die Notwendigkeit und das Wesen der proletarischen Diktatur gewonnen. Und bekanntlich hat gerade hier der revolutionäre Erneuerer der Marxschen Theorie und Praxis im 20. Jahrhundert, der Marxist Lenin, am energischsten an die Lehre des Meisters angeknüpft. Er hat in ein und demselben Spätsommer 1917 in seinem Werke Staat und Revolution [3] die Marx-Engelssche Lehre von der proletarischen Diktatur gegenüber den theoretischen Entstellungen, die sie in den Händen der reformistischen und zentristischen „Marxisten“ der Sozialdemokratie erlitten hat, wiederhergestellt, als er in der Vollendung seines Werkes durch die politische Krise des Vorabends der Oktoberrevolution „gestört“ wurde und hinfort seine Hauptkraft der Aufgabe widmen konnte, die „Erfahrungen der Revolution“ mitzumachen und nicht nur darüber zu schreiben.

Er hat in dem Bund der sozialistischen Sowjetrepubliken in Rußland, und bald auch über Rußland hinaus, auf höherer Stufenleiter und in weiterem Maßstabe den Versuch der Pariser Kommunekämpfer erneuert und damit begonnen, die Dritte Kommunistische Internationale, die Internationale der Verwirklichung des Sozialismus und der Errichtung der Diktatur des Proletariats im internationalen Maßstabe, ins Leben zu rufen.
 

Was bleibt von diesem Werk Lenins erhalten für die gegenwarttgen und künftigen revolutionären Kämpfe des internationalen Proletariats?

Es gibt heute in den Reihen der proletarischen Parteien und unter denen, die sich als dazugehorig betrachten, eine wachsende Zahl von Stimmen, die diese ganze gewaltige geschichtliche Wirklichkeit, die heute als Union der sozialistischen Sowjetrepubliken in der Welt steht, kathegorisch verneinen wollen.
 

Ein Teil dieser „Antibolschewisten“ wird gestellt von solchen Leuten, die von der konkreten, „materialistischen“ Dialektik Marxens noch nichts begriffen haben, und die im Grunde jede Wirklichkeit, jede Form der Verwirklichung einer Idee ablehnen und lieber im Reiche des bloßen Wollens und Meinens bleiben, – „einem weichen Element, dem sich alles beliebige einbilden läßt“.

Ein anderer Teil dieser „Antibolschewisten“ wird gestellt von jenen westeuropäischen Spießbürgern des sogenannten „orthodoxen“ Marxismus, die die „russische“ Revolution deshalb ablehnen, weil sie nicht genau nach den Regeln verlaufen ist, die für „die proletarische Revolution“ im Rechenbuch der „orthodoxen“ Marxistischen Schule des internationalen Menschewismus vorgesehen werden. (Sie hätte nach diesen Regeln bekanntlich in Rußland, einem „rückständigen Lande“, überhaupt nicht anfangen dürfen!) Zur Zurückweisung dieser „Marxisten“ genügt es, was Lenin noch im letzten Jahre seines Lebens in den Notizen über Suchanow [4] angemerkt hat über jene „europäischen Spießer“, die gar nichts davon ahnen, daß Revolutionen „überhaupt nicht anders gemacht werden können“, als mit bestimmten, überall verschiedenen „Eigenheiten“, die von den toten Schulregeln derer abweichen, die aus dem Marxismus eine abstrakte Wissenschaft machen wollen. Viel gefährlichere Feinde des Werkes von Lenin aber, als diese tristen Märzhasen, sind die „Antibolschewisten“ einer ganz anderen Spezies, die ihren schändlichen und gefährlichen Anti- bolschewismus dadurch verdecken, daß sie sich selbst „Leninisten“ oder noch lieber „orthodoxe Leninisten“ nennen. Zu diesen allergefährlichsten „Antibolschewisten“ gehören alle die theoretischen und praktischen Führer der RKP [5], der Komintern und aller ihrer Sektionen, die es heute nicht mehr wagen, dein russischen und dem internationalen Proletariat über die wirkliche gegenwärtige Entwicklung in Sowjetrußland und die darin unvermeidlich hervortretenden Widersprüche die Wahrheit zu sagen, die uns Lenin zu jeder Stunde gesagt hat, und die dem Proletariat daher an der Stelle des gegenwärtigen wirklichen Rußland eine leere Fata Morgana vorspiegeln. Auf diesen Weg begab sich im Frühjahr 1925 neben solchen „theoretischen“ Führern wie Bucharin – nach einigem Zögern – auch der gegenwärtige politische Führer der KPdSU, Genosse Stalin. Auf diesem Boden steht heute die große Mehrheit der kommunistischen Parteiführungen in den außerrussischen Sektionen der Komintern, nicht zuletzt die deutsche Thälmannzentrale. [6] Auf diesem Boden stehen die Beschlüsse des 14. russischen Parteitages [7], über die vom russischen ZK, von der Erweiterten Exekutive der Komintern und vom deutschen ZK in den außerrussischen Sektionen der KI jegliche „unerwünschte“ Diskussion bei Strafe des Ausschlusses verboten ist.

Auf diesem Boden steht man, wenn man erklärt, daß im heutigen Sowjetrußland die revolutionäre Diktatur des Proletariats uneingeschränkt fortbesteht, daß dort die sozialistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung teils schon in reiner Form, in den „konsequent sozialistischen“ Staatsbetrieben, verwirklicht ist, teils gerade jetzt ununterbrochen weiter „aufgebaut“ wird, und daß es, „keinen Fall geben kann“, in dem die nationalen wirtschaftlichen und staatlichen Interessen Sowjetrußlands in Widerspruch treten zu der energischsten Vertretung des revolutionären Klasseninteresses des internationalen Proletariats durch die verschiedenen Sektionen der Komintern.

Diese Form der „bolschewistischen“ Bejahung eines Sowjetrußland, das nur in der Idee existiert, ist aber im Grunde nichts anderes, als die „antibolschewistische“ Verneinung des Sowjetrußland, das in Wirklichkeit existiert. Und die Mitglieder der Kommunistischen Partei und sonstige revolutionäre Proletarier, die für dieses Scheinbild der gegenwärtigen russischen Wirklichkeit gewonnen werden, werden nicht gewonnen für die gegenwärtige russische Wirklichkeit. Das macht gerade diese Spielerei des „verkleideten Antibolschewismus“ zu der allergefährlichsten Sorte des internationalen Antibolschewismus.
 

Neben diesen beiden Gruppen von Feinden, die die Wirklichkeit der russischen Revolution offen oder auf dem Umwege eines Betruges oder Selbstbetruges ganz verneinen, gibt es andere, die teilen wollen. Sie wollen, vom Standpunkt der proletarischen Revolution, zwar ein erstes Stück der russischen Revolution (bis zum Brester Frieden?, bis zur NEP?, bis zur neuesten Wendung im Jahre 1925 und 26?) bejahen, aber die spätere Entwicklung verneinen.

Es könnte scheinen, als ob diese „revolutionären“ Kommunisten, die von dem Gesamtprozeß der russischen Revolution nur die erste, „heroische“ Phase bejahen, tatsächlich am treuesten den Spuren jenes Marx folgten, der vor 55 Jahren die große weltgeschichtliche Tragödie des Pariser Kommuneaufstandes feierte und zu einer Quelle revolutionärer Erkenntnisse für die künftige revolutionäre Aktion des Proletariats machte. Ganz gewiß ist es eine besondere Aufgabe der Kommunisten, gerade die großen und heute von uns erst in sehr geringem Grade ausgeschöpften Erfahrungen des unmittelbaren revolutionären Kampfes unserer russischen Vorkämpfer an die gesamte internationale Arbeiterklasse unaufhörlich heranzutragen, die daraus entspringenden Impulse ihrem Herzen, die daraus gezogenen Lehren ihrem Hirn fest und lebendig einzuprägen.

Dies alles aber bedeutet noch keine marxistische, materialistische revolutionäre Stellung zu der konkreten geschichtlichen Wirklichkeit der russischen Revolution. Wer unter dem Gesichtspunkt der proletarischen Revolution nur diese erste Etappe der russischen Revolution bejaht, wo diese als ein unmittelbarer Bestandteil der durch den Weltkrieg ausgelösten proletarischen Weltrevolution begonnen hat, der bejaht in Wirklichkeit auch diese erste Etappe der russischen Revolution nicht als einen Sieg des Proletariats, sondern nur als eine grandiose Niederlage.
 

Sehr nahe verwandt ist dieser „revolutionären“ Einstellung, die von dem geschichtlichen Gesamtprozeß der russischen Revolution nur die erste „heroische“ Phase bejahen, dagegen die dann folgende zweite Phase ablehnen will, eine andere Einstellung, die man heute unter den orthodoxen „Leninisten“ in den verschiedenen Sektionen der Komintern, und besonders auch unter den russischen Genossen, ziemlich häufig antrifft. Diese Einstellung besteht darin, daß man zwar unter vier Augen offen zugibt, daß es sich „jetzt“ in Sowjetrußland natürlich nur noch um eine bürgerliche und bäuerliche Revolution handelt, daß man aber daraus nicht den Schluß zieht, diese „zweite Phase der russischen Revolution“ zu verneinen, sondern im Gegenteil nun erst recht anerkennt.

Wer nun meint, daß das, was „jetzt“ in Rußland geschieht, nur noch eine bäuerliche Angelegenheit sei, kehrt in der Auffassung der ganzen russischen Revolution zurück zu jenem Standpunkt, den Lenin selbst in den Jahren vor dem Ausbruch der zweiten russischen Revolution mit Bezug auf den Klassencharakter dieser Revolution vertreten hat, als er in den Jahren 1905, 1907, 1915 bis ins Jahr 1917 hinein hartnäckig daran festhielt, daß diese russische Revolution ihrem sozialökonomischen Wesen nach eine bürgerliche Revolution wäre.

Die „von den Reformisten im kapitalistischen Rahmen geschaffenen positiven Errungenschaften“ verlieren ihr sozialökonomisches Wesen als bürgerliche Evolution nicht dadurch, daß sie „von der Arbeiterklasse unter dem Schutze der proletarischen Diktatur in der Sowjetunion“ erzielt werden. Es ist also keineswegs eine positive Auffassung der russischen Revolution, sondem auch nur eine andere Form von Antibolschewismus, mit der Genosse Smeral in seinem programmatischen Artikel nach einer wortreichen Anerkennung der revolutionären Bedeutung der „ersten Etappe der großen russischen Revolution“, sich über die jetzige „zweite Etappe“ dieses weltgeschichtlichen Prozesses folgendermaßen ausläßt:

Auch was jetzt in der Sowjetunion geschieht, [...] hat für die weitere Entwicklung der sozialen Weltrevolution eine nicht minder große Bedeutung. [...] Was sind alle „positiven“ Errungenschaften, die die Reformisten im kapitalistischen Rahmen geschaffen haben und auf die sie so stolz sind, gegen die großartigen Resultate, die die Arbeiterklasse unter dem Schutze der proletarischen Diktatur in der Sowjetunion, auf dem Gebiete der nationalisierten Industrie, auf dem Gebiete des Genossenschaftswesens, auf dem Gebiete der großartigen Gewerkschaftsorganisation erzielten! [8]

Indem Genosse Smeral für die Gegenwart und Praxis die „positiven“ und reformistischen „Errungenschaften“ der Arbeiterklasse (und der Bauern, und der städtischen Mittelschichten, und so weiter!) zur entscheidenden Grundlage jener „Einheitsfront“ macht, zu der heute „die Sowjetunion als proletarischer Staat“ die Werktätigen aller Länder aufruft, faßt er den Gesamtprozeß der russischen Revolution tatsächlich unter dem obersten Gesichtspunkt nicht der Revolution, sondern der Evolution.

Die wirkliche Aufgabe, die gegenüber dem ungeheuren weltgeschichtlichen Prozeß der russischen Revolution vom marxistischen, materialistisch revolutionären Standpunkt der Kommunisten gelöst werden muß, besteht darin, gegenüber allen Teilerscheinungen und verschiedenen Phasen dieses geschichtlichen Prozesses den Gesichtspunkt der internationalen proletarischen Revolution theoretisch wie praktisch rücksichtslos festzuhalten und zur Geltung zu bringen. Entwickelt sich die russische Revolution ihrem ökonomisch sozialen Wesen nach auf der Linie der bürgerlichen Revolution, so müssen deshalb die Kommunisten in Rußland, die diese bürgerliche Revolution durchzuführen haben, nicht darauf verzichten, auch in Rußland als internationale proletarische Revolutionäre zu handeln; sie stehen gegenüber jeder derartigen bürgerlichen Revolution notwendig auf dem Standpunkt der weiter getriebenen, „permanenten“ proletarischen Revolution. Steht gegenwärtig in Rußland nur die reformistische Umgestaltung, der fälschlich so genannte „Aufbau des Sozialismus in Sowjetrußland“ auf der Tagesordnung, so sind auch diese Reformen für den Marxisten niemals Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck der Revolution, der proletarischen Revolution der internationalen Arbeiterklasse. Lenin selbst hat bis zuletzt darauf bestanden, daß auch nach dem „Sieg“ des Proletariats in einem Lande die innerhalb dieses Landes bewirkten „Reformen“ (erst recht der bloße Wiederaufbau und Ausbau der Wirtschaft) im internationalen Maßstab nach wie vor ein bloßes „Nebenprodukt“ des revolutionären proletarischen Klassenkampfes bleiben. Jedermann muß sehen, daß dieses Verhältnis zwischen Reformen und Revolution heute in der Komintern praktisch, und großenteils auch schon theoretisch, „revidiert“ und auf den Kopf gestellt ist. Für eine ganze geschichtliche Periode, die Periode der sogenannten „Stabilisierung“, soll praktisch der sogenannte „Aufbau des Sozialismus in Sowjetrußland“ zu dem Hauptzweck gemacht werden, zu dem die internationale proletarische Klassenbewegung nur noch ein dienendes Mittel ist.

Es ist unsere Aufgabe, diese beginnende opportunistische Entartung und Liquidierung der internationalen revolutionären Theorie und Praxis des Kommunismus, die wir, wie jeden anderen Opportunismus, als geschichtliche Erscheinung in dem Entwicklungsprozeß der Kommunistischen Partei mit der Marxschen Lehre, mit der Methode der materialistischen Dialektik begreifen und erklären können, zugleich als den eigentlichen Todfeind des Kommunismus zu bekämpfen und zu vernichten. Hierzu rufen wir, am Gedenktag des tragischen Ausganges des Pariser Kommuneaufstandes, alle Mitglieder der Kommunistischen Weltpartei, die gesamte revolutionäre Vorhut der internationalen proletarischen Klasse.

 

 

Anmerkungen

1. Die Autorschaft von Korsch kann nicht positiv nachgewiesen werden, aber der Artikel enthält Gedanken, die Korsch später immer wieder neu behandelt.

2. K. Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassociation (1871), MEW, Bd.17, Berlin 1962, S.362.

3. W.I. Lenin: Staat und Revolution (1917), Werke, Bd.25, S.393-507.

4. W.I. Lenin: Über unsere Revolution (Aus Anlaß der Aufzeichnungen N. Suchanows), 16./17. Januar 1923, Werke, Bd.33, S.462-467.

5. RKP = Russische Kommunistische Partei.

6. Thälmannzentrale: Das Zentralkomitee, damals auch Zentrale genannt, wurde nach dem Offenen Brief vom August 1926 der Exekutive der Komintern durch die Ernst-Thälmann-Gruppe bestimmt. Vgl. Der Weg der Komintern, Anm.62.

7. Der 14. Parteitag der Russischen Kommunistischen Partei fand vom 18.-31. Dezember 1925 statt.

8. B. Smeral, Der erste Mai und die Sowjetunion, in: Internationale Pressekorrespondenz, Jg.6, Nr.27 (15. April 1926), Mai-Sondernummer 29, S.812.

 


Zuletzt aktualisiert am 23.8.2003