Paul Lafargue

 

Der Darwinismus auf der französischen Bühne [1]

(1889)


Zuerst erschienen in: Die Neuen Zeit, VIII (1889-1890), 184 ff., gezeichnet mit dem Pseudonym „Pablo“.
Neuveröffentlichung: Pauls Lafargue, Essays zur Geschichte, Kultur und Politik (Hrsg. Fritz Keller), Karl Dietz Verlag, Berlin 2004.
Stellen, die mit einem Stern * versehen sind, sind Einfügungen des Herausgebers.
Transkription: Fritz Keller.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


 

„Zu was für schnöden Bestimmungen wir kommen, Horatio!“ – Hamlet

Armer Darwin! Wenn er noch lebte, würde er wohl mitunter von den Folgen seiner Popularität nicht allzu entzückt sein. Die Franzosen sind gerade dabei, ihn zum Vater einer „neuen Gattung von Raubtieren“ zu stempeln, „die die famose Erfindung des Kampfes ums Dasein ausbeuten, um damit jede Schurkerei wissenschaftlich zu rechtfertigen [...]“. „In der Anwendung“, sagt Daudet [2] „sind diese Theorien Darwins ruchlos, da sie die Bestie im Menschen wiedererwecken und den Vierfüßler, der aufrecht stehen gelernt hat, wieder auf allen Vieren gehen lassen“.

Die Leute, die so kühne Behauptungen auf und außerhalb der Bühne äußern, sind keine Narren oder bedeutungslos, sondern Personen von Ansehen und Geist. Auch veröffentlichen sie diese Ansichten nicht aus Lust an Paradoxa oder um sich auf Kosten der Philister zu amüsieren. In voller Nüchternheit und mit dem größtmöglichen Pathos haben sie in den letzten Wochen diese überraschende Wahrheit verkündet. Wehe der wissenschaftliche Theorie, die ihren Weg in das unwissende und beschränkte Gehirn der modernen Belletristen und Journalisten findet.

Unsere Literaten haben den Kampf ums Dasein Darwins nicht aus den Werken des großen Naturforschers kennengelernt. An solche geistige Arbeit sind sie nicht gewöhnt. Nein, sie haben bloß in irgendeiner – sagen wir – Gartenlaube [3] etwas davon läuten hören.

Vor etwa zehn Jahren wurde in Paris eine alte Milchfrau umgebracht. Der Mord fand unter so merkwürdigen Umständen statt, daß er tiefen Eindruck machte und man sich seiner heute noch erinnert. Die Entdeckung der Mörder geschah auf sonderbare Weise. Barré, ein junger Mann, der in geschäftlichen Beziehungen zur Alten stand, bot sich dem Untersuchungsrichter an, ihm bei den Nachforschungen behilflich zu sein, und gab freiwillig die Details über die Gewohnheiten und Lebensverhältnisse der Ermordeten und die Papiere, in denen sie ihr kleines, mühsam erspartes Vermögen von 10.000 Francs angelegt hatte, bekannt. Er hatte mehrere Zusammenkünfte mit dem Richter, der ihm für seine Bereitwilligkeit dankte, ihm bei den Nachforschungen nach dem Schuldigen zu helfen. Da geschah es eines Tages zufällig, daß der Richter, während er ihn aus seinem Zimmer hinausbegleitete, an ihn die Frage richtete: „Sie haben früher einen Vollbart getragen, Monsieur Barré?“ Auf diese einfache Bemerkung hin begann Barrézu zittern und wurde totenbleich. Der Richter legte sofort die Hand auf seine Schulter und rief: „Ich habe den Mörder!“

Barré völlig haltlose geworden, gestand, daß er und sein Freund Lebiez, ein Student der Medizin, das Verbrechen begangen hätten. Die beiden Mörder waren intelligente und gebildete junge Leute im Alter von 24 und 25 Jahren. Lebiez war einer der besten Studenten der Pariser medizinischen Fakultät. Sein Professor, Dr. Vulpian [4], und seine Kollegen glaubten, es müsse da ein grober Irrtum vorliegen, als sie von seiner Verhaftung hörten. Einige Tage nach dem Mord hatte Lebiez einen Vortrag über den Darwinismus gehalten und die Theorien des Kampfes ums Dasein und das Gesetz des Überlebens des den Verhältnissen besser Angepaßten auseinanderzusetzen versucht. Als er erfuhr, er sei verraten, leugnete Lebiez nicht sein Verbrechen, sondern gab folgende Erklärung dafür: Die Milchfrau hätte die 10.000 Francs seinem Freund Barré übergeben, der das Geld ausgab, anstatt Anlagepapier dafür zu kaufen. Die Summe konnte jeden Augenblick zurückgefordert werden, und Barré, der außerstande war, sie herbeizuschaffen, war in Gefahr, wegen Veruntreuung angeklagt und verurteilt zu werden. Lebiez sah, es handelte sich entweder um den gesellschaftlichen Ruin des Freundes, eines vielversprechenden Mannes von guter Herkunft, oder um den Tod eines unbedeutenden und nutzlosen alten Weibes. Er zweifelte keinen Augenblick, wofür er sich zu entscheiden habe, erschlug die alte Frau und zerschnitt ihren Körper nach den Regeln der Anatomie, um ihn beiseite zu schaffen.

Dieser Mord wirkte sensationell. Lebiez war nicht ein vertierter und gedankenloser Bursche, der niederschlug, was sich ihm in den Weg stellte, sondern ein kühler, überlegter Mann, der seinen Plan wohl erwog, konsequent durchführte und mit einer wissenschaftlichen Theorie beschönigte. Er starb entschlossen. Barré mußte auf das Schafott getragen werden, während Lebiez festen Schrittes die Stufen hinaufstieg. Als er den Kopf durch die dafür bestimmte Öffnung der Guillotine gesteckt hatte und das Beil auf ihn fallen sollte, rief jemand aus der Menge: „Bravo, Lebiez!“ Er erhob sein Haupt, und indem er seine Augen dahin richtete, woher die Stimme gekommen war, sagte er deutlich: „Adieu!“

Dieser Mord war Anlaß zu langen und lebhaften Diskussionen. Die Gegner des Darwinismus betrachteten ihn als ein gefundenes Fressen. Sie waren zahlreich und hochangesehen und beeilten sich, eine so gute Gelegenheit auszubeuten, um über die wissenschaftliche Theorie herzufallen, der Vertreter Lebiez gewesen war. Gewisse Kreise von Freidenkern hätten gerne alle Verbrechen religiöser Leute der Religion in die Schuhe geschoben. Die frommen Seelen antworteten nun in derselben Weise und klagten die neue Theorie als eine Schule der Verbrechen an. Sie wurden aufs kräftigste unterstützt von Gelehrten, die Darwin als einen wissenschaftlichen Revolutionär haßten, der kaum ein besseres Schicksal verdiene als die Revolutionäre der Pariser Commune. Ein Bischof, wenn ich nicht irre, Monseigneur Dupanloup [5] verstieg sich so weit, Lebiez’ Begnadigung zu fordern mit der Begründung, er sei ein Opfer der Dawinschen Theorie und die Gesellschaft habe die Pflicht, ihm Zeit zur Reue und um seine Sünden zu büßen zu geben.

Obwohl die Theorie der Entwicklung in Frankreich zuerst entstand – Häckel [6] und die deutschen Darwinianer, ganz abgesehen von den Franzosen, haben die Verdienste eines Buffon [7], Lamarck und Geoffroy de Saint Hilaire gebührend anerkannt, während sie die englischen Darwinianer absichtlich ignorierten – trotzdem begegnete gerade in Frankreich die Anerkennung dieser Theorie den größten Schwierigkeiten. Die französische Wissenschaft schien sich ihres Sprößlings zu schämen, den England adoptiert hatte und pflegte. Die Akademie der Wissenschaften, mit dem achtzigjährigen Flourens [8] an der Spitze ihrer alten, eingetrockneten Mitglieder erklärte der Entstehung der Arten den Krieg: Tiere und Pflanzen waren von Anfang an in ihren heutigen Formen geschaffen worden, in denen sie verharren würden, bis ans Ende der Zeiten. Häckel mußte aus Deutschland nach Paris kommen, die jungen Leute zu sammeln und anzufeuern, die sich der Entwicklungslehre angeschlossen hatten. Seitdem sind Flourens und viele anderen der alten Akademiker gestorben und jüngere und kühnere Naturforscher sind nachgefolgt; aber noch ist der Sieg über die offizielle Wissenschaft nicht völlig errungen. So mußte zum Beispiel Dr. Girad, obwohl berühmt durch seine zahlreichen wissenschaftlichen Entdeckungen, dennoch, weil Anhänger der Evolutionstheorie, lange warten, ehe er zum Professor am Museum von Paris gewählt wurde.

Nun lieben es zwar die französischen Schriftsteller, die Akademie zu verspotten und sich über ihre veralteten Anschauungen lustig zu machen. Und doch ist niemand schneller bei der Hand als sie, sich den Vorurteilen der Vergangenheit anzubequemen und sich vor der Gegenwart und den Vorschriften zu beugen, die diese der Gegenwart für ihr Denken gibt. Ich muß hinzufügen, daß die gute Gesellschaft diesen Mangel an Selbständigkeit und diesen Respekt vor der offiziellen Meinung mit den Schriftstellern teilt, die die geistigen Nahrung für sie herzurichten haben.

Die Ermordung der alten Milchfrau machte die Darwinsche Theorie bei den Journalisten und Belletristen populär, die sich in Frankreich wie anderswo durch Unwissenheit und Mangel an gründlicher Bildung auszeichnen. Unter denen, die bei dieser Gelegenheit mit der Theorie vom Kampf ums Dasein bekannt wurden, war auch Daudet. Wie seine Kollegen faßte er die Sache natürlich viel klarer und einfacher auf als Darwin. „Es kommen mehr Individuen zur Welt als existieren können. Also räumt mich aus dem Wege oder ich räume euch aus dem Wege“. Da hat man die Darwinsche Theorie in einer Nußschale, nach dem scharfsinnigen Daudet: Er ist ein Mann der Wissenschaft, der uns in seinem Stück diese Phrase zum besten gibt. In der Vorrede zu seinem „Kampf ums Dasein“ erzählt uns Daudet, daß er begonnen hatte, ein Buch zu schreiben, halb Roman, halb geschichtliche Darstellung des Wirklichen, genannt „Lebiez und Barré, zwei junge Franzosen unserer Zeit“. Er habe schon zwei Monate daran gearbeitet, da erschien eine französische Übersetzung von Dostojewskis [9] großartigem Roman „Schuld und Sühne“ (Raskolnikow). [10] Der Lebiez des russischen Romanciers hieß Rodion: Anstatt einen Vortrag über den Kampf ums Dasein zu halten wie Lebiez, schreibt Rodion einen Artikel für eine Revue über das Recht zu töten und beweist philosophisch, daß es erlaubt ist, die Welt von Personen zu befreien, die jedermann schaden.

Daudet begriff, daß es für ihn unmöglich sein würde, es dem krankhaften Genie Dostojewskis gleichzutun, dem eine unerreichte Gabe der psychologischen Analyse eigen ist, und er gab seinen historischen Roman auf. Aber die Idee des Kampfes ums Dasein erschien ihm zu interessant, um sie fallenzulassen. Er benutzte die Gelegenheit, sie zu dramatisieren, und am 3. Oktober des vergangen Jahres (*1888) wurde im Théâtre Gymnase dramatique in Paris ein Drama in fünf Akten und sechs Bildern von Alphonse Daudet gegeben, betitelt Der Kampf ums Dasein.

Daudet ist kein Dramatiker von Profession. Erst in letzter Zeit hat er sich der Bühne zugewandt, nicht ohne Geschick. Man muß gestehen, sein Stück hat viele gute Seiten. Es enthält dramatische Situationen, und die Figur von Mari-Anto ist fein gezeichnet.

Paul Astier, der Sohn eines Akademikers, ist Architekt, der bekannt zu werden beginnt. Er hat einen alten Palast wiederherzustellen und gewinnt bei dieser Gelegenheit das Herz und Hand seiner Besitzerin, der Herzogin Padovani (Mari-Anto), die sehr reich, aber hoch in den Fünfzigern ist. Astier dagegen ist jung, aber habgierig und ein Streber. „Darwin ist sein Lieblingsautor“, aber wie Daudet hat er in der „Entstehung der Arten“ nur das falsche Bevölkerungsgesetz des Pfaffen Malthus [11] gefunden. „Es werden mehr Individuen geboren als ihre Existenz finden können“, daraus folgt, daß ein Teil der Menschheit verhungern muß, damit die anderen imstande sind, bequem zu leben. Logischerweise entscheidet sich Astier für das bequeme Leben. Sein Motto lautet: „Die Starken fressen die Schwachen“. Der falsche Tichborne [12], der nicht besonders geistreich war, hatte einen besseren Wahlspruch. „Die Welt“, schrieb er in sehr schlechtem Englisch in sein Tagebuch, „besteht aus zwei Sorten von Menschen: Narren und Betrügern, und die Betrüger müssen von den Narren leben“.

Astiers Ehrgeiz geht dahin, Premierminister zu werden. Er ist bereits Parlamentsmitglied und eine wichtige Persönlichkeit, deren Meinungen etwas gelten. Aber innerhalb von zwei Jahren hat er das Vermögen der Herzogin vergeudet und steht vor dem Ruin. Er möchte die Ehe mit der alten Gattin lösen um eine ganz junge Jüdin zu heiraten. Die Ehe betrachtet er bloß als Weg zum Glück und die Weiber als Stufen auf dem Weg nach oben. Er arrangiert die Sache so gut, daß seine eifersüchtige Mari-Anto ihn in ihrem eigenen Haus beim Ehebruch ertappt. Aber die Herzogin ist eine gute Katholikin und betrachtet die Ehescheidung als Sünde und Schande. Sie begnügt sich, das Mädchen, mit dem sie Astier betrogen hat, eine ihrer Dienerinnen, zu entlassen und sich aufs Land zurückzuziehen. Astier folgt ihr dorthin, heuchelt Betrübnis und Liebe, erlangt ihre Verzeihung und bringt sie nach Paris zurück, wo er bei Gelegenheit ihre Einwilligung zur Scheidung zu erlangen hofft. Aber die Zeit drängt, die junge Jüdin wird ungeduldig und droht, ihm mit ihrem Geld zu entschlüpfen. Astier versucht die Entwicklung zu beschleunigen. Bei einem Fest reicht er seiner Frau ein Glas vergiftetes Wasser, aber von Entsetzen erfaßt, hält er ihren Arm zurück, als sie das Glas zum Mund führt. Die Herzogin errät seine Absicht, und da sie ihm ein Verbrechen zutraut, stimmt sie der Scheidung zu, um ihn von der Versuchung zu befreien. Die Szenen zwischen Mari-Anto und Astier sind sehr schön. In der letzten Szene wird Astier von dem Vater des Mädchens niedergeschossen, als er eben auf dem Gipfel seines Glücks ist und im Begriffe steht, die Jüdin zu heiraten, die ihn wieder zum Millionär machen soll.

Daudet tötet Astier, wie er in der Vorrede schreibt, weil er, Daudet, ein guter Mensch ist und schlechte Menschen nicht leiden kann – seitdem er aufgehört hat, Privatsekretär des Duc de Morny [13] zu sein, eines der größten Schurken der bonapartistischen Clique. Und sein Stück wurde geschrieben, um seine Abscheu vor den „Kampf-ums-Daseinlern“ zu zeigen, den strugglifereurs, wie er sie in seinem schönen Englisch nennt, die „Darwinianer vom Scheitel [14] bis zur Sohle sind, ohne Vorurteile und Skrupel, an Gott nicht glauben und die Polizei nicht fürchten“.

Diese Geringschätzung der Polizei, der letzten Stütze der Moral, durch die Darwinianer, ist eine andere große Entdeckung Daudets. Er führt sie auf Berkeley [15], den schottischen Philosophen, zurück, der daran zweifelte, daß unsere Sinne die Außenwelt getreu wiedergeben, und den Geist als etwas Immaterielles betrachtete, das von materiellen Dingen keine Vorstellung gewinnen kann. Deshalb erklärte er, die Außenwelt bestehe in Wirklichkeit nicht. Daudet schließt daraus messerscharf, daß für den Darwinianer der Polizist nichts Wirkliches, sondern eine bloße Vorstellung ist.

Es scheint uns unglaublich, daß Schriftsteller vom Rang eines Daudet in vollem Ernst Darwin und seine Theorie für die Lebiez, Barré und andere Raubtiere verantwortlich machen, die in unserer Gesellschaft losgelassen werden. Vor der Veröffentlichung des Ursprung der Arten (*1860) lebten wir in einer Gesellschaft, in der Diebstahl und Mord unbekannt waren; und wäre das Buch nie erschienen, so würden wir fortfahren, in einer Gesellschaft zu leben, in der die Menschen nicht in der Ausbeutung, sondern in der Förderung ihres Mitmenschen [16] ihr Vorteil suchen:

– wenn Darwin nicht dieses verhängnisvolle Buch geschrieben hätte!

Die Daudets begreifen nicht, daß unsere gesellschaftlichen Verhältnisse und nicht die Theorien es sind, die den Konkurrenzkampf und dessen Konsequenzen mit Notwendigkeit erzeugen. Weit entfernt, daß der rücksichtslose Kampf aller gegen alle die Folge der Darwinschen Theorie ist, sind vielmehr diese der Anwendung der Gesetze der modernen Konkurrenz auf das Leben der Tiere und Pflanzen entsprungen: Darwin selbst hat erklärt, die ersten Anregung zu seiner Lehre habe er von dem Malthuschen Bevölkerungsgesetz erhalten.

Wir schaudern, wenn wir von Verbrechen wie denen von Lebiez und anderen Mördern lesen, und bleiben gleichmütig angesichts der Scheußlichkeiten, die die Konkurrenz täglich erzeugt. Wie unbedeutend sind die Mordtaten, die vor den Gerichten verhandelt werden, gegenüber den Massenvergiftungen, die die Verfälschung von Lebensmitteln nach sich zieht! Ungefähr um dieselbe Zeit, als Lebiez und Barré die Milchfrau töteten, stand in London ein Fabrikant vor Gericht, weil er Veilchenpulver mit Arsenik und anderen gefährlichen Stoffen vermischt hatte. Pakete von Pulver, die Arsenik enthielten, wurden vorgezeigt. Es wurde nachgewiesen, daß Säuglinge damit vergiftet worden waren, und doch fanden die Geschworenen, der Mann sei unschuldig. Er hatte bloß den Gesetzen der Konkurrenz gehorcht.

In dieser Atmosphäre der Konkurrenz leben wir von der Wiege bis zum Grabe. Diese grausame Wirklichkeit und nicht wissenschaftliche Theorien oder religiöse Anschauungen sind es, die den menschlichen Ton formen, den Egoismus anstacheln und zur übermächtigen Leidenschaft machen. Nicht, daß die Anzahl der Verbrechen unter diesen Umständen zunimmt, ist verwunderlich, sondern daß sie nicht rascher zunimmt. [18]

Aber die moderne Entwicklung, die den Konkurrenzkampf immer schärfer und unerbittlicher gestaltet, die Gemüter immer mehr verroht und die Habgier immer mehr aufstachelt, stumpft einerseits die tierischen Leidenschaften ab, macht die Menschen blutarm und kraftlos. Aus ungestümen Tieren macht sie überlegende, berechnende Menschen, die nicht durch Gewalttat, durch Mord und Totschlag, sondern auf gesetzlichem, unter Umständen nicht weniger grausamen Wege das große Ziel der modernen Zivilisation zu erreichen suchen: Reichtum. Taten wie die von Lebiez und Astier sind nicht das Ergebnis der modernen Wissenschaft, sie sind auch nicht charakteristisch [19] für die moderne Entwicklung. [20]

 

 

Anmerkungen

1. * Erschienen in der Neuen Zeit, VIII (1889-1890), 184 ff., gezeichnet mit dem Pseudonym „Pablo“. Das französische Original wurde nicht publiziert. Mit Daudets Roman Sappho hat Lafargue sich schon früher auseinandergesetzt (Neue Zeit, IV [1885-86], 237ff.).

2. * Der Unterhaltungsschriftsteller Alphonse Daudet (1840-1897) gehört zu den populären französischen Romanciers.

3. * 1853 gegründete illustrierte Wochenzeitschrift mit belehrenden Beiträgen und seichter Unterhaltung, etwa Roman Hedwig Courth-Mahlers.

4. * Der Mediziner Edme Félix Alfred Vulpian (1826-1887) war Professor für Pathologie.

5. * Der Prälat Felix Dupanloup (1802-1878) war auch Direktor des Journals L’ami de la religion [Freund der Religion].

6. * Ernst Haeckel (1834-1919), Schriftsteller, Zoologe und Populärphilosoph.

7. * George Louis Leclerc Comte de Buffon (1707-1888), Zoologe und Botaniker.

8. * Der Professor für vergleichende Anatomie und Naturgeschichte Marie-Jean-Pierre Flourens (1794-1867) war ein Pionier der experimentellen Gehirnforschung.

9. * Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881), russischer Schriftsteller.

10. * Russischer Originaltitel von Schuld und Sühne (1866).

11. * In einer Replik auf anarchistisch-rationalistische Utopien erklärte Thomas Robert Malthus (1766-1834), daß nur der Eigennutz im institutionellen Rahmen von Privateigentum, Ehe und klaren Klassengrenzen das explosive Bevölkerungswachstum verhindern könne.

12. * Roger Charles Tichborne (1829-1854) verschwand auf hoher See in südamerikanischen Gewässern. 1868 gab sich ein Betrüger für ihn aus und versuchte auf diese Weise an die beträchtliche Erbschaft zu kommen.

13. * Sekretär von 1860-1865

14. * Im deutschen Text „Wirbel bis zur Sohle“.

15. * George Berkely (1684-1753), Theologe und Philosoph.

16. * Im deutschen Text „Nebenmenschen“.

17. * Im deutschen Text „Schleuderkonkurrenz“.

18. * Vgl. dazu Lafargues Studie Die Kriminaltität in Frankreich 1840-1886 (Neue Zeit, VII [1889-1890], 11ff., 56ff., 106ff.).

19. * Im deutschen Text „bezeichnend“.

20. * Mit dem Darwinismus als wissenschaftliche Theorie hat sich Lafargue in folgenden Artikeln auseinandergesetzt: Socialism and Darwinism [Sozialismus und Darwinismus] (Progress, II, No.6/December 1883, 343-349); A few words with Mr. Herbert Spencer [Einige Bemerkungen zu ...] (To-Day, No.6/June 1884, 417-427).

 


Zuletzt aktualisiert am 7.2.2004