Paul Lafargue

 

Die französische Sprache vor und nach der Revolution

II. Die Sprache vor der Revolution

Nach der Auflösung der französischen Akademie am 18. Juli 1793 [13] beschloß der Konvent am ersten Ergänzungstag des Jahres III (1795),

das Exemplar des Wörterbuchs der französischen Akademie, das mit Randnoten versehen in der Bibliothek des Ausschusses für das öffentliche Unterrichtswesen liege, sei den Verlegern Smits, Maradan & Cie. zur Veröffentlichung zu übergeben; [...] besagte Verleger sollten mit dazu von ihnen ausersehenen Männern der Wissenschaft die für die Arbeit notwendigen Vereinbarungen treffen, unter der Bedingung, daß 15.000 Exemplare gedruckt und eine bestimmte Anzahl davon den staatlichen Bibliotheken überlassen würden.

Im Jahre VI (1797/98) erschien diese Ausgabe, die fünfte des Wörterbuchs der Akademie, im Buchhandel zum Preise von 24 Livres (zirka 20 Mark): die Herausgeber hatten an die Spitze ein Vorwort, an das Ende einen Nachtrag gestellt, die nicht mehr von den Mitgliedern der hingeschiedenen Akademie herrührten. Die Vorrede enthielt Ketzereien, die Voltaire die Haare noch ganz anders zu Berge getrieben hätten als etwa die Rückkehr der Jesuiten.

Man hat es für gut befunden, heißt es hier, nicht die Sprache der feinen Welt als höchste, entscheidende Autorität anzurufen, denn die feine Welt denkt und spricht schlecht [...] und schließlich ist der Unterschied zwischen der feinen Sprache, die den sehr wunderlichen Phantasien der feinen Welt entspricht, und der guten Sprache, die aus den natürlichen Beziehungen der Wörter und Begriffe besteht, ganz außerordentlich.

Voltaire hatte einmal gesagt, er sei

betrübt darüber, daß in Sachen der Sprache wie auch in anderen wichtigeren Gebräuchen der Pöbel die Edelsten und Besten der Nation leite.

Der Nachtrag enthielt 336 Wörter, die die Revolution geschmiedet oder eingebürgert hatte: er konstatierte damit den Sieg jenes „Pöbels“.

Neuerer wie Konservative waren mit dieser Auflage des Wörterbuchs in gleichem Maße unzufrieden. Die Neuerer – und ihrer waren nicht wenige – machten den Herausgebern zum Vorwurf, die Spalten zweier Bände einer ganzen Menge neuer Wörter verschlossen zu haben. Um gegen diese lexikographischen Ausweisungen zu protestieren, veröffentlichte Mercier [14] (1740-1814), der schon vor der Revolution einen Kampf gegen Sprache und Literatur des Jahrhunderts Ludwigs XIV. geführt hatte, im Jahre 1801 seine Néologie, sein „Wörterbuch 2.000 neuer Wörter“; 1831 ließ eine Sprachgesellschaft einen „Nachtrag zum Wörterbuch der Akademie erscheinen“, „enthaltend zirka 11.000 neue Wörter, neue Bedeutungen und technische Ausdrücke, die Gebrauch und Wissenschaft seit 1794 in die Umgangssprache eingeführt haben und die nicht im Wörterbuch der Akademie stehen“. Diese Sprachgelehrten täuschten sich; die übergroße Mehrzahl ihrer neuen Wörter war schon vor 1794 im Gebrauch gewesen.

Auf der anderen Seite entrüsteten sich die Puristen, die Sprachreiniger; sie forderten einen „Senat zur Konservierung der Sprache“. Der Abbe Morellet [15], „der älteste der alten Knaben, der mit achtzig nicht hält, was er mit sechzig versprochen“, erwiderte auf die gleichmachenden Theorien der Herausgeber des Wörterbuchs,

im Wörterbuch der französischen Akademie sei die Umgangssprache niederzulegen, so wie sie in der Klasse der durch Rang, Vermögen und Bildung hervorragenden Bürger gesprochen werde.

In edlem Zorne fährt er fort:

In diesem Wörterverzeichnis (dem Anhang mit den 336 neuen Wörtern) finden Wörter wie enragé [toll], motionner [einen Antrag stellen], révolutionner [aufwiegeln], sansculotte, sans-culottide [Sanskulottentag] ihre Anerkennung, barbarische oder gemeine Ausdrücke, die das Wörterbuch der französischen Sprache nicht besudeln sollten, Eintagsfliegen, die sie sind, und Ausfluß einer Art revolutionären Jargons oder Argots, nur dazu da, den Torheiten und Verbrechen der revolutionären Regierung [16] zum Ausdruck zu dienen [...]. Soll ich, fährt er hitzig fort, aus den abscheulichen Artikeln des Wörterbuchs Wörter zitieren wie fournée, ein weibliches Hauptwort, das die Karrenladungen der zur Guillotine verurteilten Individuen bezeichnete, wie guillotine, lanterner [an der Laterne aufhängen], mitraillade [Massenhinrichtung durch Kanonenfeuer], noyade [Massenersäufung], septembriseur [Septembermörder], septembrisade [Septembermord]? Die Grausamkeit und Gemeinheit, die diese Ausdrücke in der Revolution Fuß fassen ließen, sollten sie aus der Gesellschaft der anständigen Leute verbannen, auf immer sind sie aus dem Wörterbuch zu tilgen, wie Blutflecken aus den Gemächern eines Palastes. Kann man das für möglich halten, daß es Gelehrten, ja Mitgliedern unserer großen literarischen Körperschaft, des Institut national de France, einfallen konnte, so abscheulichen Wörtern den offiziellen Segen zu geben? [17]

Ärger noch als Morellet tobte Gabriel Feydel; sein Zorn entlud sich nicht allein über den Nachtrag mit den Revolutionswörtern, sondern über das ganze Werk der erwähnten Akademie überhaupt. Das Wörterbuch sei beschmutzt durch Ausdrücke aus dem

Argot der Spielhöllen, der Kaschemmen, der Kneipen und der Buhlknaben Heinrichs III. [18] [...] durch Artikel, scheußlich zu lesen, die die Friseurin einer Akademikersgattin oder das Kindermädchen eines Akademikers zu Urhebern haben [...] durch Kuhmagd- und Marketenderinnenausdrücke, die mit französischer Feinheit nichts zu tun haben, würdig der Fräulein Gorgibus [19], wie man sie nur in Vorzimmern aus dem Munde von Dienstboten zu hören kriegt [...] durch starke Ausdrücke von Näherinnen und Barbierjungen, denen die Kundschaft vergessen hat, ein Trinkgeld zu geben [...] durch den Jargon von Marktweibern, die ihren Witz zeigen wollen [...] durch die Sprache von Stubenmädchen, Dirnen und Waschweibern, die dem Nationalcharakter einfach ins Gesicht schlägt. [...] durch Redensarten, die höchstens in den Mund eines Arbeiters gehören [...] durch Redensarten von Schweinehirten, Barbieren und vom gemeinsten Pöbel, die für ein Gemüseweib passen und die man in Räuber- und Diebsnestern verfaulen lassen sollte. [20]

Genug von diesen Beispielen, die jedoch notwendig waren, um den Leser instand zu setzen, sich selbst ein Urteil darüber zu bilden, wie die Puristen über die französische Sprache dachten, aus der sie die Sprache aller jener Franzosen verbannt sehen wollten, die sich dem Spiele ergeben hatten oder die sich als Barbiere, Marktfrauen, Wäscherinnen, Schneider usw ihr Brot verdienten.

Die Puristen waren in Verzweiflung: Legionen roher, gemeiner und niedriger Wörter belagerten die Festung, in der sich die feine Sprache der guten Gesellschaft verschanzt hielt, eroberten sie und warfen das Werk zweier Jahrhunderte aristokratischer Geistesblüte über den Haufen. Wie der Staat, die Gesellschaft, das Eigentum und die Gebräuche, so wurde auch die Sprache im Feuer der Revolution umgegossen. Die Sprachhistoriker tun dieser sprachlichen Renaissance kaum Erwähnung, die den Gebildeten in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts so viel zu schaffen machte. Sie verfallen in denselben Irrtum wie die Akademiker von 1835 und unterschätzen die Tragweite dieser plötzlichen Revolution, denn die französische Sprache blieb scheinbar

dieselbe, das heißt ebenso verständlich [...] während sie bis in die ersten Jahre des Jahrhunderts Ludwigs XIV. niemals fixiert worden war. Bis dahin mußten dieselben Dinge von Jahrhundert zu Jahrhundert immer wieder in einem neuen Französisch neu geschrieben werden, das bald wieder alt wurde und aus der Mode kam. Schrieb man ein älteres Manuskript in unserer Sprache ab, so mußte man es manchmal halb übersetzen. Lange Zeit hielt man die letzte der späteren Versionen Joinvilles [21] für den Urtext, da sie bald so veraltet war, daß sie den Eindruck des Originals hervorbrachte. [22]

Derselbe Prozeß hatte sich unter der Revolution vollzogen. Neue Wörter und Ausdrücke stürmten in solcher Menge auf die Sprache ein, daß man die Zeitungen und Schriften dieser Zeit, hätte man sie den Höflingen Ludwigs XIV. verständlich machen wollen, hätte übersetzen müssen.

Nach der Revolution setzte jedoch eine Bewegung der Reaktion ein, die feine Sprache suchte wieder ihren Einfluß auf die herrschenden Klassen zurückzuerobern und aus ihrem Schoße all die Neubildungen zu entfernen, die sich wie Diebe eingeschlichen hatten. Nach reiflicher Erwägung hüteten sich auch die kühnsten Schriftsteller ängstlich vor

den männlichen Ausdrücken republikanischer Sprache, die ihnen vier, fünf Jahre lang vertraut gewesen waren. Es liegt etwas in ihr, das die monarchistische Sprache auf immer verdunkelt. [23]

Mercier kündigte selbst an, er habe

aus seinem Wörterbuch, bis auf wenige Ausnahmen vielleicht, alle Wörter ausgemerzt, die auf die Revolution Bezug haben. Die meisten sind starke, kraftvolle Ausdrücke und entsprechen schrecklichen Gedanken; die meisten sind kraus und wunderlich, dem Strudel der Ereignisse angepaßt; wenn die Winde heulen und der Sturm das Schiff peitscht, so fluchen die Matrosen, aber dennoch führen sie die rettenden Manöver aus.

Doch allen Puristen zum Trotz war die Sprachschöpfung der Revolution nicht mehr ungeschehen zu machen; die Fessel aus blankem Stahl, die die Sprache gefangengehalten hatte, war gesprengt, die Freiheit war ihr zurückerobert.

Um jedoch über die Art und Bedeutung dieser Wiedergeburt der französischen Sprache urteilen zu können, müssen wir uns erst über die Auffassung klar werden, die die Wissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts von der Sprache hatte. Ich will daher den Leser zuerst mit den Anschauungen der damaligen Schriftsteller bekannt machen.


Im Mittelalter hausten die Adligen auf ihren Schlössern, inmitten ihrer Vasallen und Hörigen, erst die Politik der Monarchen führt sie in Paris zusammen. Der König ist nun das Zentrum, das sie anzieht, und sie bilden seinen Hof. Sie verlieren ihre alte feudale Selbständigkeit, zerreißen alle Bande, die sie mit den andern Klassen verknüpfen, und bilden eine Kaste, die sich vom übrigen Volk absondert, ihm schließlich ganz fremd wird und sich nach Versailles, der Adelshauptstadt, zurückzieht. Der Adel lebte nicht das Leben der Bourgeoisie, geschweige denn des niederen Volkes, er schuf sich seine eigenen Sitten, Gewohnheiten und Anschauungen, die eben so sehr von denen der großen Mehrzahl des Volkes abwichen, wie seine Privilegien von den Rechten und Pflichten des Bürgers und Handwerkers verschieden waren. So kam es ganz von selbst dazu, daß er sich wie in der Kleidung so auch in Gebräuchen und Redeweise von den übrigen Bürgern unterschied. Die Sprache der Adligen, die sie wie eine unübersteigbare Mauer um sich auftürmten, trennte sie von den anderen Klassen, ebenso wie die Feinheit ihrer Manieren, ihre zeremoniöse Etikette und selbst ihre Art, sich bei Tische zu bedienen und zu essen. [24]

Die gekünstelte Sprache, die den Aristokraten kennzeichnete, wurde nicht mit einem Male geschaffen wie jene Weltsprache, die Leibniz [25] schon lange vor den Volapükisten [26] erfunden hatte. Sie wurde abgeleitet aus der Volkssprache, die Bourgeois und Handwerker, Stadt und Land sprachen. Dieser selbe Spaltungsprozeß hatte sich ehedem auch in der lateinischen Sprache vollzogen: zur Zeit des zweiten Punischen Krieges trennte sich in Rom der „sermo nobilis [die Adelssprache]“, vom „sermo plebejus [der Plebejersprache]“.

Die Sitten und Gebräuche der feinen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts bewirkten, daß die Zahl der Wörter in der gekünstelten Sprache, die Mercier die monarchistische nannte, die er besser die aristokratische getauft hätte, gering war. Der Adel kannte keine Beschäftigung als das Waffenhandwerk und hatte natürlich nicht das geringste Interesse daran, Ausdrücke kennenzulernen, die den verschiedenen Berufen eigen waren. Daher fand man in den ersten Auflagen des Wörterbuchs der Akademie wohl zahlreiche Ausdrücke der Heraldik [27], während die Fachausdrücke der verschiedenen Gewerbe fast völlig ausgeschlossen waren. Diese Ausschließung war eine der Hauptveranlassungen zu dem Kampfe, den Furetière [28] gegen die Akademie führte.

Ich kann es größeren Gelehrten überlassen, darzustellen, wie sich allmählich die Sprache der guten Gesellschaft immer weiter entwickelte. Nur einen Punkt will ich hervorheben, auf dessen Bedeutung nicht genug hingewiesen werden kann: Es geschah durch systematisches Zurechtstutzen der Volkssprache, daß sich die Sprache der Schriftsteller des Zeitalters Ludwigs XIV. bildete, die im 18. Jahrhundert

so verbreitet war und der lateinischen Sprache den Ruhm streitig machen konnte, die Sprache zu sein, die alle Völker in stillschweigender Übereinkunft lernen, um sich verstehen zu können. [29]

Diese besondere Ehre wurde der aristokratischen Sprache nur zuteil, weil Frankreich damals das einzige große Land in Europa war, in dem der Adel, um seinen Lehensherrn geschart, einen großen Hof bildete und es zu einer Feinheit und Eleganz brachte, die von den Aristokraten ganz Europas bewundert und nachgeäfft wurde. Die Romane von d’Urfé [30], der Inbegriff aristokratischer Lebensart, drangen überall hin, sogar bis in die fernsten Winkel Norwegens.

Die Adligen, mehr Krieger als Gelehrte,

hatten nicht die törichte Anmaßung und Vermessenheit einiger gelehrter Herren, daß unser gemeines Volk zu ungeschickt sein soll zu aller guten Wissenschaft und Gelehrsamkeit; [31]

ohne sich viel den Kopf zu zerbrechen, entlehnten sie ihm kurzerhand die Wörter, Ausdrücke und Wendungen, die sie im täglichen Verkehr brauchten, wobei freilich kritisch gesiebt und nur eine sehr beschränkte Zahl behalten wurde: Erst wenn sie gewogen und wieder gewogen, genehmigt und gestempelt waren, wurden sie für würdig erachtet, in der feinen Gesellschaft und den von ihr begönnerten Werken zu zirkulieren. Die Literaten, wenigstens jene, die um die Gunst der Gesellschaft buhlten und die nach dem strengen, aber gerechten Ausspruch eines Kritikers nur „die angenehmen Unterhalter der Gesellschaft“ waren, sahen sich gezwungen, dieser auserlesenen Sprache zuliebe die starke, aber rohe Sprache eines d’Aubigné und Montluc [32]aufzugeben, die man nicht mehr zu kennen vorgab.

Herausgerissen aus ihren Burgen und in Paris vereint, gaben sich die Adligen alle Mühe, ihre Schweinigel-Manieren [33] zu vergessen und sie gegen höfische Sitten zu vertauschen. Das Roden und Lichten des dichten, kraftvollen und verschlungenen Urwaldes, als den das 15. Jahrhundert die Sprache hinterlassen hatte, ging also Hand in Hand mit der Zurechtstutzung der rohen Manieren der Feudalherren und der Verfeinerung ihres Geschmackes. Diese Abschleifung der alten feudalen Gewohnheiten und Sprechweisen ging im Anfang des 17. Jahrhunderts vor sich in einer Unzahl von Vereinigungen, Salons, Alkoven und Damenschlafzimmern (ruelles) [34], die vom Faubourg St. Germain bis in die Tiefen des Marais (des Templeviertels im Nordosten von Paris) zu finden waren und die der Grand Dictionnaire des précieuses [* ou la Clef de la langue des ruelles (1606)] [35] von Somaize [36] mit befriedigter Genugtuung aufzählt: tonangebend war das Hôtel de Rambouillet, der Mittelpunkt dieser Reform der Sprache. [37] Anfangs fand der Adel in seinen eigenen Reihen die Lehrer, die er brauchte, er brachte auch Schriftsteller von bleibendem Werte hervor wie La Rochefoucauld [38], die beiden Frauen Madame de Sévigné [39] und de La Fayette [40] und andere, was ihm in der Folge versagt blieb. Trotzdem gesellte er sich, um sein Erziehungswerk zu gutem Ende zu führen, einen Stab von „Silbenstechern [regratteurs de mots]“ und „rabulistischen Schulfüchsen [pédants chicaneurs]“ bei, Vaugelas [41], Balzac [42], Voiture [43], die Boileau [44] in seiner „Art poétique“ auf eine Stufe mit Racine und Molière stellte, Godeau [45], Coëffeteau [46], Chapelain [47], den Stiefvater der „Pucelle“, der Jungfrau von Orleans [48], und den Pater Bouhours [49], der in dem Bestreben, die Sprache zu bereichern, sie nur noch ärmer machte, und andere längst vergessene Größen: sie alle gehörten der 1635 gegründeten Akademie an und posaunten ihr edles Vorhaben in alle Welt hinaus, die Sprache von „ihrem gascognischen Akzent zu befreien [dégasconner la langue]“ – das heißt, sie jeder provinziellen Herbheit [50] zu berauben. Hätte Voltaire damals gelebt, er hätte sich gewiß in diese gelehrte Gesellschaft von Preziösen aufnehmen lassen; er glaubte nämlich,

es sei Corneilles [51] Unglück gewesen, daß er in der Provinz erzogen wurde, weil man zu oft sprachliche Verstöße bei ihm fände. [52]

Doch gab es auch Schriftsteller, die, da sie sich diesem Reinigungsprozeß des Hôtels de Rambouillet und seiner Anhängsel, der Damenschlafzimmer und der Akademie, nicht unterwerfen wollten, mit den Schmeichelnamen „Libertins [53]“, „Schmutzliteraten“, „Dichter mit Kupfernasen [poètes de la trogne rouge]“ gebrandmarkt wurden. Von feurigem Temperament, stürmischem, ungebundenem Schwung und kecker philosophischer Überlegenheit, verschmähten sie es nicht, sich der alten, noch nicht „degasconnierten“ Sprache zu bedienen und in gutbürgerlichem, „bodenständigem [pédestre]“ Stil zu schreiben: sie wandten sich an ein Publikum, das sich aus gebildeten Bürgerlichen und aus unerzogenen und unerziehbaren Adeligen zusammensetzte.

Die Geschichte der verschiedenen Auflagen des Wörterbuches der Akademie gibt uns genau den Entwicklungsgang der aristokratischen Sprache. Die ersten Akademiker, die sich in kindlichem Enthusiasmus als „Wortarbeiter“ bezeichneten, „die an Frankreichs Erhöhung arbeiten“ (ihre Nachfolger unter der Regierung Ludwigs XIV. hatten nur den einen Ehrgeiz, „alle Wörter und alle Silben unsterblich zu machen, die dem Ruhme ihres erlauchten Schutzherrn geweiht waren“), gerieten in große Verlegenheit, als es sich darum handelte, ein Verzeichnis der Sprache aufzustellen. Ihre Manier, die Wörter zu klassifizieren, hielt sie im Anfang auf: Die erste Auflage des Wörterbuches der Akademie gruppierte die Wörter nach Familien. Diese Art der Anordnung, die seitdem auf gegeben worden ist, ist neuerdings von Dr. Freund [54] in seinem Gesamtwörterbuch der lateinischen Sprache wieder aufgenommen worden; wollte man ein systematisches philologisches Wörterbuch der französischen Sprache begründen, so müßte man wieder auf sie zurückkommen.

Die Akademiker hatten noch eine zweite, ungleich ernstere Schwierigkeit zu überwinden: es waren die Wörter auszulesen, denen man die Ehre angedeihen lassen konnte, im Wörterbuch zu figurieren. Nach langem Hin und Her wurde entschieden, es seien nur Ausdrücke zulässig, die durch Schriftsteller von Ruf offiziell eingeführt seien, und zu diesen bekannten Schriftstellern zählten natürlich in erster Linie die Akademiker selber. Aber zwei von ihnen, die soeben selig verblichen waren, waren als völlig Unbekannte gestorben. In der Liste der auserwählten Schriftsteller, die ihnen das Material liefern sollten, prangten Namen wie Amyot [55], Montaigne [56], Desportes [57], Charron [58], die Königin Margarete [59], Ronsard, Marot [60] und andere, aber sie bemerkten bald, daß diese Schriftsteller trotz ihres Wortüberschwanges eine unendliche Menge von Wörtern und Ausdrücken nicht gebraucht hatten, die im Verkehr des täglichen Lebens unentbehrlich waren; sie mußten wohl oder übel reuevoll zur Umgangssprache zurückkehren, wollten sie nicht ein bloßes Verzeichnis der Wörter berühmter Schriftsteller geben, die, wie Pellisson [61] sagte, „in ein paar Jahren Barbaren wurden“, sondern das Wörterbuch der Sprache ausarbeiten. Die erste Auflage ist weit mehr Entwurf als wirkliches Lexikon.

Als es sich um die Vorbereitungen zur zweiten Auflage von 1717 handelte, stolperten die Akademiker über eine neue Schwierigkeit. Der Adel schuf ebenso wie die Leute aus dem Volke Argotausdrücke [62], wie zum Beispiel „sabler le vin [den Wein hinuntergießen]“, „battant l’œil [Morgenhäubchen]“, „falbala [Falbel, Volant]“, „fichu [Halstuch], „ratafia [Branntwein]“; sollte man solchen Ausdrücken das Recht auf Einreihung ins Wörterbuch verleihen? Nach langem Schwanken kamen die Akademiker zu dem Urteil,

daß ein Wort, sobald es in der Sprache eingebürgert ist, sich auch das Heimatsrecht im Wörterbuch erworben hat. Oft könne man eher ohne das Ding auskommen, das ein Wort bedeute, als ohne das Wort, das zu seiner Bezeichnung erfunden worden sei, so bizarr das auch erscheinen mag. [63]

Voltaire, Aristokrat bis in die Spitze seiner Feder, kannte solche Bedenken nicht: „Was dem Adel der Sprache schadet, sind nicht die Sprachfehler der guten Gesellschaft [...] Das ist vielmehr die affektierte Vorliebe mittelmäßiger Autoren, von ernsten Dingen im Konversationston zu plaudern“. [64] Die Akademiker von 1717 stellten in ihrem Vorwort die Regeln auf, die jedem Lexikographen hätten zur Richtschnur dienen sollen.

Es scheint, heißt es da, unter den Wörtern einer Sprache eine Art Gleichheit zu bestehen wie unter den Bürgern einer und derselben Republik [...] und wie der gemeine Soldat und der kleinste Handwerker ebensogut Bürger sind wie der General und der Bürgermeister, ungeachtet ihrer verschiedenen Beschäftigungen, so sind auch die Wörter, die zur Bezeichnung der gemeinsten, verächtlichsten Dinge dienen, ebensogut französische Wörter und nicht weniger französisch als die Worte ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Tapferkeit‘, wenn diese auch die ersten Tugenden bezeichnen.

Ein Jahrhundert später, 1817, 23 Jahre nach der Revolution, hätten diese Akademiker keine solche Sprache mehr verwendet. Aber um nicht das Andenken der Akademie mit der Beschuldigung demagogischer Theorien zu beschweren, wollen wir schleunigst hinzufügen, daß die Akademie damit nicht etwa beabsichtigte, ihr Wörterbuch für volkstümlichen Redensarten zu öffnen, sondern daß sie nur den „bizarren Ausdrücken“ der guten Gesellschaft Zugang gewähren wollte, mochten sie auch zuweilen nach Kneipe und Bordell duften. Zu Richelieus [65] und Mazarins [66] Zeiten suchte der Adel, der sich noch nicht ganz in die Lebensweise der feinen Welt zu schicken wußte, gern die lockere Gesellschaft der „Wüstlinge und kupfernasigen Dichter“ auf, um sich von den Strapazen der feinen Sitte und der Langeweile der Etikette zu erholen und in den Kneipen von der offiziellen Würde auszuruhen. Während aber die Akademie sehr gewagte Worte der Adligen aufnahm, konnte der Dichter La Fontaine, der ständig an den Sitzungen teilnahm, doch nicht die Aufnahme der ihm bekannten Wörter durchsetzen, die er bei Marot und Rabelais gefunden hatte.

Das Vorwort zur dritten Auflage (1740) zeigt, wie sehr sich inzwischen die Sachlage geändert hat: die feine Sprache ist in Gefahr, strengste Wachsamkeit tut not. Die Akademie denkt nicht mehr daran, alle Wörter zum Range gleichberechtigter Bürger einer Republik zu erheben; im Gegenteil, sie erklärt,

sie habe es stets für nötig befunden, ihr Wörterbuch auf die Umgangssprache zu beschränken, die die feine Welt spricht und die unsere Redner und Dichter gebrauchen.

Sie entwickelte ganz unverhohlen ihre aristokratische Auffassung von der Sprache, die nicht die der Bürger und Handwerker, sondern die der guten Gesellschaft und der von ihr protegierten Schriftsteller sei. Die Akademie, die sich einbildete, „die Sprache gehöre ihr wie die Barbierkunst den Barbieren“ (Furetière), näherte sich Bossuets [67] Ideal, der wünschte,

eine ständige souveräne Körperschaft solle eingerichtet werden, deren auf die Billigung des Publikums [soll heißen des Hofes] gestütztes Ansehen die Ungereimtheiten im Zaume halten könnte.

Daher erklärte auch die Vorrede zur dritten Auflage,

da anständige Leute sich hüteten, Ausdrücke zu gebrauchen, die ihnen die Erregung eingegeben hat oder die die Schamhaftigkeit verletzten, so habe man solche Worte von der Aufnahme ausgeschlossen.

Noch nicht zufrieden mit diesem Ausschließungsdekret, legten die Akademiker zum erstenmal die Wörter fest, die poetischer und gehobener Stil gebrauchen dürfe, und jene, die für den Hausgebrauch reserviert blieben. Man dachte im 18. Jahrhundert, die Sprache habe ihre höchste Vollendung erreicht und müsse nun fixiert werden; die Akademie war das Priesterkollegium, das ihren Kultus zu besorgen hatte.

Frankreich ist das einzige Land, das es zur Errichtung einer tyrannischen akademischen Zensur der Sprache gebracht hat. Aber der Wunsch danach regte sich auch anderwärts. Ein irischer Schriftsteller, der durch die Kühnheit seiner Gedanken und seiner Sprache den guten Bossuet noch mehr erschreckt hätte als etwa das Erscheinen Beelzebubs, Jonathan Swift, machte den Vorschlag, der sich gerade aus seiner Feder mehr als sonderbar ausnimmt, eine Akademie zu begründen, um die englische Sprache im Zaume zu halten und zu fixieren, eine Menge Ausdrücke auszumerzen, andere zu verbessern, wieder andere von den Toten aufzuerwecken.

Kein Wort, das von dieser Gesellschaft sanktioniert wird, darf in der Folge veralten und verworfen werden. [68]

Voltaires Freund, der Große Friedrich [69], verfaßte eine deutsche Grammatik, um die Sprache seines Volkes ebenso von oben herab zu regeln und zu drillen wie die Übungen seiner Soldaten.

Du Bellay erkannte an, daß „die Volkssprache aufs beste geeignet sei, die schwere Last menschlicher Begriffe zu tragen“, wenn sie auch „wie Gras und Kräuter und Bäume von selbst entstanden ist“. [70] Aus dieser ungehobelten Volkssprache suchten die Schriftsteller des Hôtels de Rambouillet und der Akademie eine geglättete Sprache herauszudestillieren, gereinigt von jeder volkstümlichen Wendung, aller naiven Ausdrücke und gemeinen Redensarten. Mit diesem Versuch konnten sie nur Erfolg haben, wenn sie sich aufs angestrengteste mühten, ohne sich einen Augenblick Ruhe zu gönnen. Ihre langen und langweiligen Erörterungen über die Wörter, ja selbst über die kleinen Partikel mögen nichtssagend und kindisch erscheinen und auch lächerlich gemacht werden, sie zeugen trotz alledem von dem ernsten, bedächtigen Eifer, der die Schöpfer der aristokratischen Sprache beseelte.

Einmal der Willkür und Phantasie des einzelnen entzogen und eingezwängt in zahllose genaue grammatikalische Regeln, konnte die Sprache der guten Gesellschaft, die nun endgültig festgelegt war, durch Bücher verbreitet und durch Erziehung eingepaukt werden. Wenn auch ein künstliches Gebäude, wurde sie doch damals zur nationalen Sprache der Aristokratie, der herrschenden Klasse. Im Wesen der Versailler Höflinge trat sie so sehr in den Vordergrund, daß es ihnen ebenso unmöglich erschien, die Volkssprache zu sprechen, als die groben, dunklen Kleider der Bürger und Handwerker anzuziehen, die sie von ihren Karossen aus sahen, wenn sie wie toll durch Paris jagten, um sich zu Hofe zu begeben.

Im 18. Jahrhundert verschob sich der soziale Schwerpunkt, er kehrte von Versailles nach Paris zurück, die Volkssprache, von deren Existenz der Adel vielleicht eine dunkle Ahnung haben mochte, die für ihn aber nicht in Betracht kam, fand nun Gelegenheit, sich zu befestigen. Ihre Wörter und Ausdrücke drängen sich in die feine Sprache ein zur selben Zeit, als die Finanz und die reiche Bourgeoisie ihren Einzug in die Salons und die Adelsfamilien hält, deren Wappenschilder sie neu vergoldet. Sorglos lachte der Adel über diese Sprachrevolution und über die Anmaßungen der Parvenüs, die linkisch sein Benehmen nachzuäffen strebten. So blindlings vertraute er auf die ewige Dauer seiner Rechte und Privilegien, daß ihm seine soziale Vormachtstellung unerschütterlich erschien; und ebenso unerschütterlich das Sprachgebäude, das im Hôtel de Rambouillet begonnen und von den Schriftstellern unter Ludwig XIV. zur höchsten Vollendung geführt worden war.

Die Literaten hingegen, die sich als Erhalter der Sprache des großen Jahrhunderts fühlten, standen der drohenden Sprachrevolution nicht so sorglos gegenüber wie der Adel. Ihre Befürchtungen, die Sprache möchte durch die Berührung mit der Volkssprache beschmutzt werden, ihre Anklagen und Beschimpfungen, ihre Wut gegen ungezwungene, gewöhnliche Ausdrücke lassen die so unendlich oft verspotteten Lächerlichkeiten der Preziösen weit hinter sich. Die Preziösen des 17. Jahrhunderts – zu ihnen sind auch die Schriftsteller des Port Royal [71] zu zählen, ebenso wie ihre Gegner, die Jesuiten, die ihnen „die einförmige Schwere ihrer langen Satzgebäude und ihrer veralteten Ausdrucksweise vorhielten“ – waren auf ihre Art auch schöpferisch tätig, ihre streng gebaute, durchsichtige, geglättete Sprache nimmt einen Ehrenplatz in der französischen Literaturgeschichte ein. Die Literaten des 18. Jahrhunderts hielten dagegen nur Krankenwacht bei einer Sterbenden, deren Leben sie durch akademische Beschlüsse zu verlängern trachteten.

Hätten sich die Adeligen zum Schutze der Sprache des Zeitalters Ludwigs XIV. erhoben, man könnte es verstehen: Sie war ihre Muttersprache, in ihr hatten sie ihre ersten Worte gestammelt, in ihr dachten und fühlten sie. Aber sie ließen sich darum keine grauen Haare wachsen. In der revolutionären Epoche waren es gerade aristokratische Blätter und Schriften, die den Marktweiberstil in Mode brachten. Jene Schriftgelehrten dagegen, die als feurige Drachen der Grammatik und des guten Stils die Königin aller Sprachen hüteten, hatten sie nicht mit der Muttermilch eingesogen, sondern die Rute ihrer Lehrer hatte sie ihnen in der Schule eingebleut. In der Akademie, die manchmal mehr Adelige als Gelehrte aufzuweisen hatte, unterwarfen sie sich ihrer Disziplin und sprachen sie die Sprache der guten Gesellschaft; zu Hause, im täglichen Verkehr sprachen sie nur die Volkssprache, sie schrieben sie in ihren Privatbriefen, während sie die andere nur brauchten, um ihre Elegien, Tragödien und Oktavbändchen in die Welt zu setzen. Wie die Pedanten, von denen Du Bellay spricht,

glaubten sie nichts Gutes zu schreiben, wenn es nicht in fremder Zunge und für das gemeine Volk möglichst unverständlich geschah.

Ich zweifle nicht daran, sagte Diderot [72], daß wir bald wie die Chinesen eine Sprech- und eine Schriftsprache haben werden.

Die Spaltung war so vollkommen, daß die Schriftsteller ständig in der größten Sorge waren, sie könnten aus Versehen einmal eine ungezwungene Wendung gebrauchen. Im Handwerk wohl erfahrene Leute wie Voltaire schrieben überhaupt nur mit dem Ellenbogen auf Wörterbuch und Grammatik, um sich auch nicht den kleinsten Schnitzer zuschulden kommen zu lassen.

Das Vorwort zum Wörterbuch der Akademie von 1835 zollte Voltaire den gebührenden Tribut und erinnert daran, „daß er ein bewundernswerter und schier ängstlicher Hüter der Sprache war“. Diesen ungestümen, geistvollen Frondeur muß man studieren, will man die Lächerlichkeiten der Preziösen des 18. Jahrhunderts kennenlernen.

Nach manchen Behauptungen könnte man wirklich glauben, ruft Mercier, daß man in Frankreich erst zu schreiben angefangen habe, da Boileau und Racine zur Feder griffen; daß es vor ihnen nicht Geist noch Urteilskraft, noch Stil gab [...] Geht nur, ihr Schöngeister, bleibt unwissend und berauscht euch an eurer eleganten und nichtssagenden Ausdrucksweise, gemischt aus französischen Versen und der Prosa der Schulstube.

Man könnte geneigt sein, das für eine vorübergehende Laune dieses unruhigen, fahrigen Kopfes zu halten. Aber nein, er wollte gar nicht schlecht von den Anschauungen der Preziösen sprechen. Er gab nur genau die Anschauungen der Puristen wieder. Man höre nur Voltaire, der doch immer als Gegenstück zu aller Schulfuchserei gegolten hat:

Die Sprache des 16. Jahrhunderts war weder edel noch genau. Der Geist der Unterhaltung war aufs Scherzen gerichtet, die Sprache wurde reich an lächerlichen und naiven Ausdrücken, während sie an edlen, wohlklingenden verarmte [...] Darum allein hatte Marot kein Glück im ernsten Genre, darum vermochte Amyot, Plutarchs Feinheiten nur in naiver Weise wiederzugeben. Das Französische gewann an Kraft unter Montaignes Feder, aber es fehlt ihm noch an Schwung und Wohlklang [...] Edler und klingender wurde die Sprache mit der Gründung der französischen Akademie. [73]

An anderer Stelle heißt es:

Seit die Franzosen sich zu schreiben vermaßen, ist kein Buch in gutem Stil herausgekommen bis zum Jahre 1656, in dem die Provinzialbriefe [von Blaise Pascal] erschienen sind. [74]

Noch exklusiver zeigte sich Victor Hugo (1824):

Boileau teilt mit unserem Racine das Verdienst, die französische Sprache festgelegt zu haben ( Vorwort zu den Nouvelles Odes).

Wenn Voltaire und die Preziösen die alte Sprache so plump, so roh und so häßlich klingend fanden, so waren dagegen die besten Schriftsteller der Zeit Ludwigs XIV. über den Verlust dieser alten Sprache untröstlich.

Es will mich bedünken, schreibt Fénelon [75] in seinem „Brief über die Beredsamkeit“ an die Akademie, daß man in dem Bestreben, die Sprache zu reinigen, sie eingezwängt und ärmer gemacht hat, [...] man sehnt sich nach der alten Sprechweise zurück, wie man sie bei Marot, Amyot, und dem Kardinal d’Ossat [76] findet: sie hatten etwas Kurzes, Ungekünsteltes, Kühnes, Lebhaftes und Leidenschaftliches.

Selbst Racine beklagte sich, „er fände in Amyots, Stil eine Anmut, die er ihm in der neumodischen Sprache kaum nachmachen könne (Vorwort zum Mithridate)“. Diderot, ein weißer Rabe, tadelte

jene affektierte Noblesse, die uns aus unserer Sprache eine ganze Menge kraftvoller Ausdrücke ausmerzen läßt [...] Durch allzuviel Verfeinern haben wir unsere Sprache arm gemacht; da wir oft nur ein Wort für einen Gedanken besitzen, so lassen wir lieber die Kraft eines Gedankens verblassen, als daß wir keinen „edlen Ausdruck“ dafür gebrauchen. Wieviel Worte haben wir nicht verloren, die wir mit Freuden bei Amyot, und Montaigne wiederfinden! Der gute Stil hat sie zuerst deshalb verstoßen, weil sie im Volk gebräuchlich waren; das Volk selbst, das auf die Dauer ja immer der Affe der Großen ist, wollte sie dann selbst nicht mehr aufnehmen, und so wurden sie vergessen.

Voltaire entgegnete ihm:

Verschiedene Leute haben geglaubt, seit Amyots, Zeiten sei die französische Sprache verarmt; man stößt ja wirklich bei diesen Autoren auf so manchen Ausdruck, der nicht mehr zulässig ist; aber das sind zum größten Teil ungezwungene Ausdrücke, die durch gleichbedeutende ersetzt worden sind. Die Sprache ist reicher geworden an edlen, kraftvollen Ausdrücken. [77]

Racine, der später die Zielscheibe der Romantiker wurde, war der Greuel des Hôtels de Rambouillet gewesen. Man machte ihm zum Vorwurf, er habe seine Sprache nicht genug gereinigt, er gebrauche „ungezwungene bürgerliche Redensarten, gemeine platte Ausdrücke“. Voltaire nahm 100 Jahre später diese Beschuldigungen auf eigene Faust wieder auf. Um ein Bild von der ganze Kleinkariertheit und Tadelsucht seiner Kritik zu geben, hier einige Verse Racines, die Voltaire „ungezwungen und bürgerlich“ fand:

„[...] de si belles mains
Semblent vous demander l’empire des humains –
[...] so schöne Hände
Scheinen von euch die Herrschaft über die Sterblichen
zu fordern“

(Berenice, II, 2)

„[...] Crois-tu, si je l’èpouse,
Qu’Andromaque en son coeur n’en sera point jalouse? –
[...] Glaubst du, daß, wenn ich ihn heirate,
Andromache im Herzen nicht eifersüchtig sein wird?“

(Andromaque, II, 5)

„Tu vois que c’en est fait, ils se vont épouser –
Du siehst, die Sache ist im reinen,
sie werden sich heiraten“.

(Bajazet, III, 3)

In Wirklichkeit sind Berenices Hände, die ein Reich zu fordern scheinen, von ausgesuchter Geschraubtheit, mögen auch die Verse aus Andromache und Bajazet gewöhnlich sein. Aber diese Reinigungswut ging so weit, daß der Verfasser des Candide (Voltaire) es wagte, die einfache, kraftvolle Ausdrucksweise folgender bedeutender Gedanken „trivial, gemein und eines Pascal unwürdig“ zu finden:

126. Das Beispiel von Alexanders Keuschheit hat nicht so viele Enthaltsame als das seiner Trunksucht Säufer gezeitigt. Man schämt sich nicht, ebenso lasterhaft zu sein wie er.

104. Das ist wunderbar; man will nicht, daß ich einen Mann ehre, der mit Brokat angetan und von sieben bis acht Lakaien gefolgt ist. Und doch! Er wird mir Prügel geben lassen, wenn ich ihn nicht grüße. Sein Kleid ist eine Macht: nicht ebenso ist es mit einem gesattelten, gezäumten Pferde gegenüber einem andern. [78]

Madame de Staël schien zu glauben, man könne die Literatur erneuern, ohne an die Sprache zu rühren [79]; in Voltaires Augen sind beide dagegen so eng miteinander verbunden, daß jede Veränderung der einen notwendig eine entsprechende der andern im Gefolge hat. Wenn er sich zum eifersüchtigen Hüter der Sprache aufwirft, so greift er auch die literarischen Neuerer wütend an, die sich zur Rechtfertigung ihrer Bestrebungen auf Shakespeare berufen. Seine Kampagne gegen das größte dramatische Genie, das die Menschheit seit Aischylos [80] hervorgebracht hat, verdient wirklich studiert zu werden. Sie ist bezeichnend dafür, wie es in den Köpfen zu jener Zeit aussah, und kann als Vorpostengefecht zu dem großen Kampfe angesehen werden, den Klassiker und Romantiker nach der Revolution gegen Racines und Shakespeares Werke eröffneten.

Als der Sekretär der königlichen Bibliothek 1776 die Veröffentlichung der ersten französischen Shakespeareübersetzung ankündigte [81], da zitterte der Patriarch von Ferney (Voltaire) [82] für die Tragödie und die Sprache. Kannte er doch „das Monster“ nicht vom bloßen Hörensagen wie seine romantischen Verehrer, sondern er hatte Shakespeare gelesen und geplündert. Die Schriftsteller, die bis dahin sorglos ihre Regeln durchbrochen hatten, konnte man mit Achselzucken abtun; aber dieser „Barbar“ war Manns genug, gefährlich zu werden. Um jeden Preis war dieser böse Geist aus Frankreichs Literatur zu bannen wie einst die Wörter eines Montaigne, von de la Noue und Rabelais aus seiner Sprache.

Voltaire war außer sich vor Angst, er schrieb aus der Schweiz an die Akademie gegen „Gilles Shakespeare“ und seinen Übersetzer „Pierrot Letourneux“ [83]; er glaubte sie dadurch treffen zu können, daß er ihre Namen lächerlich machte. Ein Brief von Voltaire war ein Ereignis, ein Tag wurde bestimmt, um ihn in öffentlicher Sitzung zu verlesen, der 25. August [*1776]. Voltaire tat sein möglichstes, um die Verlesung eindrucksvoll zu gestalten. Er lud seine Freunde ein, sich einzufinden „als gute Franzosen und Hüter des guten Geschmackes“. [84] Er rät d’Alembert,

die Königin und die Prinzessinnen zu veranlassen, unsere Partei zu ergreifen [...] Die Königin liebt das tragische Theater, sie unterscheidet zwischen gutem und schlechtem Geschmack, als ob sie „Butter und Honig essen“ (Jesaja VII,15) [85] würde, sie wird die Stütze des guten Geschmackes sein.

D’Alembert bekam den Auftrag, den berühmten Brief zu lesen. Er überschüttete ihn mit guten Ratschlägen über die Art, anstößige Stellen aus Shakespeare vorzutragen, sie zu verblümen, wenn sie die Zuhörer allzusehr verletzen.

Das Drollige bei der Geschichte besteht in dem Gegensatz der wundervollen Stücke Corneilles und Racines zu den Ausdrücken von Huren [86] und Marktweibern, die der göttliche Shakespeare seinen Helden und Heldinnen fortwährend in den Mund legt [...] Man kann nicht Dinge im Louvre aussprechen, die Shakespeare so leichthin vor der Königin Elisabeth [87] sagen ließ. [88]

Man sieht, Voltaire genierte sich durchaus nicht in seinen Privatbriefen; in seinen Romanen und Geschichten hatte er sich sehr unartige Freiheiten mit der erhabenen Sprache und dem guten Geschmack herausgenommen. D’Alembert antwortete ihm:

Shakespeare oder Racine, einer von beiden muß auf dem Platze bleiben, [...] leider gibt es unter den Literaten sehr viel Ausreißer und falsche Brüder; aber die Ausreißer werden gefangen und aufgehängt werden. Mich ärgert nur, daß die Früchte dieser Gehenkten nichts taugen, denn sie sind sehr mager und trocken. [89]

Tatsächlich waren die Schriftsteller, die vor der Revolution gegen die Tragödie und das Wörterbuch der Akademie Stellung genommen hatten, bloße Freischärler, denen Glück und Ruhm nicht hold waren.

Voltaire kann es sich in seinem Briefe an die Akademie nicht versagen, Shakespeare die Rede des besoffenen Türstehers zum Vorwurf zu machen, der von den „Buhlerei befördernden und dämpfenden“ und den harntreibenden Wirkungen des Trinkens spricht; es liegt ja allerdings etwas in dieser Stelle, was die ach so keuschen Ohren dieses Jahrhunderts verletzen mußte [90] Racine hatte sich in seinem Meisterwerk Les plaideurs [Die Prozeßsüchtigen] getraut, eines der Worte fallen zu lassen, die jener Macbethsche Pförtner gebraucht; doch diese Sünde war verzeihlich, denn es handelte sich hier um kleine Hündchen. Man mußte schon auf Scarron und Rabelais zurückgehen, wollte man einen derartig freien Ton wiederfinden, wie ihn selbst die modernen Naturalisten noch nicht anzuschlagen gewagt haben. Es ist also zu verzeihen, wenn Voltaire sein Angesicht verhüllt und Zeter schreit. Shakespeare geht hier und noch an manch anderer ergötzlichen Stelle tatsächlich weit über das hinaus, was aristokratischer und kapitalistischer Geschmack dulden kann.

Aber Voltaire nahm nicht allein an den Worten eines Trunkenboldes Anstoß, sondern sogar an der Antwort einer Schildwache: „Alles mausestill (Hamlet, I, 1.) [91]“.

Ja, ja, Verehrtester, fuhr der literarische Großinquisitor gegen den unglückseligen „Pierrot“·Letourneux fort, ein Soldat kann so antworten, wenn er auf der Wache steht, aber nicht auf der Bühne, vor den allerhöchsten Persönlichkeiten der Nation, die sich erhaben ausdrücken und vor denen man sich ebenso auszudrücken hat.

Nun, daß ein Soldat eine Maus beim Namen nennt, mag noch angehen, aber unerträglich erscheint es, daß Heinrich V. von England zu Katharina, der Tochter Karls VI., Königs von Frankreich, folgendermaßen spricht:

Wahrhaftig, wenn Ihr mich Euretwegen zum Versemachen oder Tänzen bringen wolltet, Kätchen, so wäre ich verloren. Für das eine habe ich weder Worte noch Maß, und für das andere habe ich nicht die richtige Stärke im Maß, jedoch ein richtiges Maß von Stärke (Heinrich V., V, 2) [92];

und ebenso unerträglich ist, daß Hamlet im Gedanken an die Ehe, die seine Mutter einen Monat nach dem Tode seines Vaters geschlossen, ausruft:

Schwäche, dein Name ist Weib! Was, nicht einen kurzen Monat warten! Ehe sie noch die Schuhe abgenutzt, mit denen sie in dem Leichenzug meines Vaters gegangen! O Himmel! Die vernunftlosen Tiere hätten länger getrauert! (Hamlet, I, 2). [93] (Die Übertragung gibt hier nicht direkt die Worte, sondern die der Voltaireschen Übersetzung wieder).

Könige und Königinnen, wenn auch nur auf der Bühne, wie einfache Sterbliche sprechen zu lassen, das ging dem Vater der „Pucelle“ [94] doch über die Hutschnur. Madame Du Deffand [95]sagte nach – ich weiß nicht welcher – Tragödie von Voltaire: „Er übt sich in jedem Genre, auch im langweiligen“. Der Brief an die Akademie überbietet alles. Er, der vollendete Schriftsteller, verirrt sich in dieser Anrufung bis ins Groteske:

Urteilt jetzt, ihr Höfe Europas, Akademiker aller Länder, ihr Leute von Bildung und Geschmack in allen Staaten. Ja, mehr noch, ich wage es, die Königin von Frankreich und die Prinzessinnen zu Richtern aufzurufen, die als Töchter so vieler Helden wissen, wie Helden sprechen. [96]

Die Töchter Ludwigs XV. wußten, wie ihr Vater mit seinen Mätressen sprach. Der Verfasser der „Henriade“ vergaß ganz, daß sein Held Heinrich IV. [97] zu einer Zeit lebte, in der die Menschen ebenso sprachen und handelten wie die Personen, die Shakespeare so lebenswahr auf die Bühne brachte, und daß dieser Heinrich ähnliche und noch viel deftigere Reden führte, worüber sich die Prinzessinnen der Zeit Ludwigs XV. noch ganz anders entsetzt hätten. [98]

Aber nicht nur um die Sprache der Tragödie war er in Sorge; nicht nur sie wollte er vor dem Einbruch ungezwungener Wörter und volkstümlicher Redewendungen schützen. Nein, auch die Sprache der Wissenschaft, die Zeitungs- und sogar die Unterhaltungssprache. Ganz verzweifelt sagt er:

In unseren neuen philosophischen Büchern kann man lesen, es sei nicht nötig, „de faire en pure perte les frais de penser [sich ganz ohne Zweck in die Kosten des Nachdenkens zu stürzen]“, die Sonnen- und Mondfinsternisse seien „en droit d’effrayer le peuple [könnten billigerweise das Volk erschrecken]“, Epikurs [99] Äußeres sei „á l’unisson de son âme [stehe im Einklang mit seiner Seele]“, und tausend andere derartige Ausdrücke, die des Lakaien in den „Precieuses ridicules“ würdig sind [...] In Zeitungen steht zu lesen: „Wir haben erfahren, daß die Flotte am 7. März unter Segel gegangen ist und „die Scilly-Inseln umschifft hat [doubler les Sorlingues]“. – Alles vereinigt sich, eine so weitverbreitete Sprache zu korrumpieren [...] Die Kaufleute führen ihre Geschäftsausdrücke in die Konversationssprache ein und sagen, daß England „eine Flotte armiert“, „wohingegen“ Frankreich seine „Schiffe ausrüstet“. [100]

Dieser letzte Schmerzensschrei ist charakteristisch für die Sprache, die die „lächerlichen Preziösen“ des 18. Jahrhunderts zu schützen trachteten. Sie ächteten alle Wörter und Ausdrücke, die im Laden und in der Werkstatt das Licht der Welt erblickt hatten.

Armer Voltaire! Seine Besorgnisse waren durchaus nicht übertrieben, die Volkssprache schlug doch wieder durch, die die großen Schriftsteller nicht in den Hintergrund hatten drängen können, mochten sie sich auch nur des künstlichen Elaborats bedienen, das das Hôtel de Rambouillet ausgekocht hatte. Man begann wieder, wie er jammerte,

Tragödien im Allobroger-[Flegel-]stil zu schreiben [...] Für Sprachschnitzer und barbarische Wendungen für den lächerlichsten Bombast ist seit einiger Zeit das Gefühl verlorengegangen, denn die geheimen Zusammenrottungen und die läppische Begeisterung des Pöbels führen zu einer Trunkenheit, die völlig unempfindlich ist.

Er prophezeite für eine nahe Zukunft den Untergang des guten Geschmacks und der Sprache

durch diese westgotischen, vandalischen Werke [...] dies Unglück geschieht gewöhnlich nach Zeiten der Vollkommenheit. Aus Furcht, zu bloßen Nachahmern zu werden, suchen die Künstler abseitige Wege; sie entfernen sich von der natürlichen Schönheit, die ihre Vorgänger erfaßt haben. [...] Das auf Neuheiten versessene Publikum läuft ihnen nach [...] So geht der Geschmack verloren. Man ist von Neuheiten umgeben, die einander rasch verdrängen. Das Publikum weiß nicht mehr, woran es ist, und sehnt sich vergeblich nach der Zeit des guten Geschmacks zurück, die nicht wiederkehren kann; denn sie lebt nur noch fern von der Menge in einigen hervorragenden Köpfen. [101]

Eine ganze Phalanx von Schriftgelehrten stand Voltaire gegen die „Ostgoten und Vandalen“ der Literatur zur Seite, die das Werk zweier Jahrhunderte aristokratischer Kultur zertrümmerten. Aber auch in seinem eigenen standen Lager Ketzer gegen die Dogmen der allein selig machenden Akademie auf: Sie beschwerten sich über die Armut der Sprache; ja noch mehr, Voltaire hatte sie selbst in jungen Jahren als „stolze Bettlerin, der man gegen ihren Willen Almosen geben müsse“, behandelt. Besonders die Gelehrten beklagten sich über den Widerstand, den ihnen die Sprache bot, wenn sie sie um neue wissenschaftliche Bezeichnungen bereichern wollten, da doch jede neue Erkenntnis den Gebrauch neuer Wörter erfordert. Aber, ruft einer der Enzyklopädisten,

den Leuten, die durch Rang und Geburt den Ton angeben könnten, fehlt es an theoretischen Kenntnissen und an praktischer Erfahrung. Wären solche Leute etwas mehr aufgeklärt, unsere Sprache würde um tausend passende oder bildliche Bezeichnungen bereichert, die ihr fehlen und die von den Gelehrten, die schreiben, schwer vermißt werden. [102]

Welcher Götzendienst wird hier mit der feinen Sprache getrieben! Der Gelehrte macht sich ein Gewissen daraus, einen wissenschaftlichen Ausdruck zu gebrauchen, den nicht die Dummköpfe der guten Gesellschaft offiziell genehmigt haben.

Gestehen wir es nur ein, fährt der Verfasser des Artikels fort, die Sprache der feinen Franzosen ist bloß ein zartes, liebliches Gezwitscher; kurz und gut, unsere Sprache hat keinen erheblichen Umfang, sie entbehrt kühner Bilder, prunkvoller Rhythmen und jener starken Bewegungen, die das Außerordentliche wiedergeben könnten; sie ist nicht episch [...] Es gibt eine Menge wesentlicher Dinge, denen die französische Sprache aus falschem Zartgefühl nicht Ausdruck zu geben wagt.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts machte sich das Bedürfnis nach einer Sprachrenaissance ebenso stürmisch bemerkbar wie das Bedürfnis nach einer Wiedergeburt der sozialen und politischen Verhältnisse. Billigerweise kann man wohl die Frage aufwerfen, warum Voltaire und die Enzyklopädisten, die theoretischen Vorkämpfer für dieses allgemeine Bedürfnis, sie, denen die historische Mission zufiel, die Köpfe der Menschen für die kommende Revolution vorzubereiten, warum sie vor den Gebräuchen und Regeln der aristokratischen Sprache so riesigen Respekt hatten?

Die Enzyklopädisten schrieben nicht fürs Volk, sondern für die gebildeten, intelligenten Teile der Bourgeoisie, die nach der Abschaffung der Privilegien des Adels verlangten, aber doch seine Manieren zu kopieren strebten. Die Philosophen, die oft auf dem Fuße vollkommener Gleichheit in den Salons der Adligen aus- und eingingen, bemühten sich, sie den Reformideen geneigt zu machen. Sie mußten sich, wie Madame de Staël sagt, „daran gewöhnen wie die Kinder, mit dem zu spielen, was sie fürchteten“. Sie mußten sich also notgedrungen die Sprache des Adels aneignen. Sie waren sogar gezwungen, seinen Purismus noch zu übertreiben, um nicht allzu billiger Kritik Blößen zu geben. Sie waren in der Hauptsache Polemiker; sie hatten durch unbarmherzige Kritik all die überkommenen Anschauungen und Ideen zu zerstören, die die Pfeiler des „ancien régime [alten Regime]“ bildeten. Sie verloren keine Zeit damit, erst die Sprache zu reformieren. Sie gaben sich Mühe, sie frischer und schärfer zu machen, scheinen aber davor zurückgescheut zu sein, Wörter und Redensarten einzuführen, die durch ihre Neuheit die Aufmerksamkeit hätten ablenken und den eigentlichen Sinn ihrer Angriffe verschleiern können. Eine klare, durchsichtige Sprache zur Hand zu haben, die den Gegner wie ein Degen traf, war eine stehende Forderung schon seit Descartes. [103]

Aber außerhalb der Reihen der Enzyklopädisten war eine stille Arbeit an der Sprache unerbittlich im Gang. Schon einige Zeit vor der Revolution begann ihr Wirken merkbar zu werden. Nun werden wir sie offen hervorbrechen und wie mit einem Zauberschlag die Sprache in ein paar Jahren, von 1789 bis 1794, umschmelzen sehen.

 

 

Fußnoten

13. Im Jahr 1635 verwandelte Richelieu eine private Gesellschaft von Gelehrten und Schriftstellern in eine offizielle Körperschaft, die Académie française, deren Hauptaufgabe die Förderung der Literatur und die Reinhaltung der Sprache wurde. Zu diesem Zweck gab sie ein offizielles Wörterbuch heraus, Dictionnaire de l’Académie française, dessen erste Auflage 1694 erschien (Anmerkung des Übersetzers).

14. * Louis Sébastien Mercier (1740-1814) veröffentlichte den utopischen Roman L’an deux mille quatre cent quarante – Rêve s’il en fût jamais [Das Jahr 2444 – Ein Traum aller Träume], der 1772 in London erschien und sofort von der königlichen Zensur verboten wurde, denn es wird geschildert, wie eine Revolution dem Absolutismus eine Ende gesetzt und die Bastille abgerissen hat

15. André Morellet (1727-1819), französischer Enzyklopädist, war befreundet mit den großen französischen Philosophen: 1785 wurde er Mitglied der Akademie (Anmerkung des Übersetzers).

16. * Im deutschen Text fälschlich „des revolutionären Regiments“.

17. A(*ndré) Morellet: Du project de l’institut national de continuer le Dictionnaire de l’Académie française, Jahr IX (1801).

18. * Heinrich III. (1551-1589/ ermordet), französischer König seit 1574, war von seinen Günstlingen, den „mignons“ abhängig.

19. Die Fräulein Gorgibus, die Heldinnen von Molières Lustspiel Les précieuses ridicules [* Die lächerlichen Preziosen] waren ebenso ungebildet wie eingebildet auf ihre gezierte, affektierte Sprache (Anmerkung des Übersetzers).

* Die „précieuses“ trafen sich im Hôtel Rambouillet. Die Hauptfigur dieses Kreises, Catherine de Vivonne, Marquise de Rambouillet, heißt bei Molière „Cathos“. Siehe dazu Anm. 481.

20. G(*abriel) Feydel: Remarques morales, philosophiques et grammaticales sur le Dictionnaire del’Académie française, 1807

21. Jean Sire de Joinville (1225 – 1318), Frankreichs erster bedeutender Historiker, schrieb die Geschichte Ludwig IX., des Heiligen (Anmerkung des Übersetzers).

22. Dictionnaire de l’Académie française, 6. Auflage, 1835, Vorwort.

23. S(*ébastien) Mercier: Dictionnaire néologique, 1801, Vorwort.

24. Madame de Staël bemerkt, „daß die Höflichkeit, anstatt die Menschen zu vereinen, sie in Klassen trennte“. Lange Übungen und ständige Überwachung aller seiner Bewegungen, Worte, Ideen und Gefühle waren erforderlich, um sich das Maß der vollendeten Anmut anzueigenen, zu dem es der Adel gebracht hatte, das ihn von den anderen Klassen unterschied und das sich bis auf den heutigen Tag in unserer Gesellschaft noch nicht ausgeglichen hat.

25. * Der Philosoph, Physiker, Mathematiker, Historiker und Diplomat Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) war einer der schöpferischsten Gelehrten seiner Zeit.

26. * Anhänger des als Weltsprache konzipierten "Volapük" (aus engl. world und speak), das in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts einige Verbreitung fand, ehe es vom Esperanto verdrängt wurde.

27. * Wappenkunde

28. Antoine Furetière (gest. 1688), französischer Lexikograph, gab ein Wörterbuch der Wissenschaften und Künste heraus, das 1690 erschien (Anmerkung des Übersetzers).

29. [*Denis] Diderots Encyclopédie [Enzyklopädie], article Langue française.

30. Honoré d’Urfé (1568-1625), berühmt durch seinen sentimentalen, zierlichen Schäferroman Astrée, dessen fünf Bände 1610-1627 nacheinander erschienen. Der Hauptheld, der getreue Seladon, ist sprichwörtlich für einen schmachtenden, zärtlichen Liebhaber (Anmerkung des Übersetzers).

31. Joachim Du Bellay: La défense et illustration de la langue française, 1549, Buch I, Kapitel I. Ausgabe von Becq de Fouquières.

Du Bellay (1525-1560) war ein berühmter französischer Dichter und mit Ronsard Mitbegründer der Pléiade (Anmerkung des Übersetzers).

32. Théodore Agrippa d’Aubigné (1551-1630) war Feldherr, Staatsmann, Historiker und Dichter. Er war Hugenott und Freund Heinrich IV. Seine Dramen, ein Spiegel der Religionskriege, zeichnen sich durch prachtvolles Pathos und Gewalt und Kühnheit der Sprache aus. Seine Histoire universelle (1616-1629) ist eine der wichtigsten Quellen für die Zeit Heinrich IV. – Blaise de Montluc (1502-1577) war ein glänzender Taktiker und Militärschriftsteller. Seine Mémoires – Heinrich IV. nannte sie die Bibel des Soldaten – sind für die Kriegsgeschichte von größer Bedeutung (Anmerkung des Übersetzers).

33. * Im Original steht „pourceaugnac“, die possenhafte Bildung eines Adelsnamens aus dem Wort „pourceau [Schwein]“, Monsieur de Pourceaugnac ist der Titel eines Molièrschen Lustspiels, in dem – ähnlich wie im Rosenkavalier der edle Ochs von Lerchenau – ein rüpelhafter Edelmann vom Lande, der sich um ein schönes, junges Mädchen bewirbt, um die Braut geprellt wird und mit langer Nase abziehen muß. In der Neuen Zeit wurde das Wort mit „Krautjunker“ übersetzt unter Beifügung einer Fußnote, in der „Schweinichen“ als andere mögliche Übertragung angegeben wird.

34. Ruelle, eigentlich Gäßchen, nannte man unter Ludwig XVI. die Schlafzimmer, in denen die vornehmen Damen von Esprit es damals liebten, im Bette liegend Besuche zu empfangen (Anmerkung des Übersetzers).

35. Précieux, kostbar, gesucht, fein, gebildet. Die vornehmen Damen, die die neue Sprache schufen und sprachen, wurden „précieuses [Preziösen]“ genannt (Anmerkung des Übersetzers).

36. * Über den franzöischen Schriftsteller Antoine Baudeau de l’Somaize ist wenig bekannt. 1657 verfaßte er ein Pamphlet gegen Boisrobert. Seine sämtlichen Werke, die kurz nach der Aufführung der „précieuses ridicules“ gespielt oder veröffentlicht wurden, benützten das Aufsehen, das rund um die „préciosité“ entstanden war, um diese zu verteidigen.

37. * Catherine de Vivonne, Marquise de Rambouillet (1588-1665) machte ihren Salon im Hôtel de Rambouillet zum mondänen Treffpunkt von Dichtern, Gelehrten und Aristokraten. Dort wurde die Mode der „Préciosité“ als galant-ritueller Lebens- und Literaturstil lanciert.

38. * Die Memoires von Françoise IV. Duc de La Rochefoucauld (1613-1680) sind eines der bedeutendsten literarischen Denkmäler des Widerstandes des Adels gegen den Hof (Fronde).

39. * Marie de Rabutin-Chantal Marquise de Sévigné (1626-1696) war eine Hof- und Salondame, die durch ihren geschichtlich aufschlußreichen Briefwechsel mit ihrer Tochter Madame de Grigan bekannt wurde.

40. * Die Schriftstellerin Marie Madeleine Marquise de La Fayette, geborene Pioche de la Vergne (1634-1693) verkehrte im literarischen Salon der Marquise de Rambouillet.

41. * Der Grammatiker Claude Favre Vaugelas Baron de Pérouges (1585-1650) verfaßte u.a. Remarques sur la langue française [Bemerkungen über die französische Sprache] (1647).

42. Jean Louis Guez de Balzac (1597-1654) hat nichts gemein mit seinem genialen Namensvetter Honoré. Er war das Orakel des Hôtels de Rambouillet und der Akademie und übte durch seine zwar formvollendeten, aber meisten leeren Schriften einen überragenden Einfluß auf die Prosa seiner Zeit aus. Vaugelas (1585-1650) war ein berühmter französischer Grammatiker, Voiture (1598-1648) ein glänzender, wenn auch frivoler Briefeschreiber (Anmerkung des Übersetzers).

43. * Vincent Voiture (1598-1648), verfaßte galante Salondichtungen, verkehrte bei der Marquise von Rambouillet.

44. * Nicolas Despréaux Boileau (1636-1711) war der führende Ästhetiker der Klassik.

45. * Antoine Godeau (1605-1672), Schriftsteller im Kreis um das Hôtel Rambouillet.

46. * Nicolas Coffeteau (1574-1672) verfaßte eine Histoire Romaine [Römische Geschichte].

47. * Jean Chapelain (1595-1674), Dichter der französischen Klassik.

48. Er schrieb 26 Jahre lang an einem Heldengedicht über die Jungfrau von Orleans, das so jämmerlich ausfiel, daß es seinem Dichterruhm ein Ende setzte (Anmerkung des Übersetzers).

49. * Der Jesuit und Verfasser gegen den Jansenismus gerichteter Schriften Dominique Bonhours (1628-1702) galt zu Lebzeiten als Autorität in Sprach- und Stilfragen.

50. * Im französischen Text „verdeur provinciale“ – in der deutschen Fassung „provinziale Frische“.

51. * Pierre Corneille (1606-1684), Begründer der klassischen französischen Tragödie.

52. Voltaire: Dictionnaire philosophique, article Langue.

53. * Im deutschen Text „Lüderjahne“.

54. Wilhelm Freund (1806-1894), Philologe und Organisator israelitischer Gemeindeschulen, gab 1844-1845 das oben erwähnte Wörterbuch heraus. Bekannter und bei allen Gymnasiasten beliebter machte er sich durch die Fabrikation seiner vielberufenen Übersetzungen und Präparationen zu den Schulklassikern (Anmerkung des Übersetzers).

55. * Der Bischof und Humanist Jacques Amyot (1512-1593) übersetzte streng wissenschaftlich griechische Romane, die für die Entwicklung der französischen Literatursprache äußerst wichtig waren.

56. * Michel Eyquem de Montaigne (1533-1592), Schriftsteller der Spätrenaissance.

57. * Der Dichter Phillipe Desportes (1546-1606) schrieb eine leicht eingängige Lyrik.

58. * Der Theologe und Rechtsanwalt Pierre Charron (1541-1603) war Hofprediger der Königin Margarete von Navarrra.

59. * Die umfassend gebildete Margarete Königin von Navarra (Madame von Angoulême) (1492-1549) holte zahlreiche Gelehrte an ihren Hof und regte die Übersetzung vieler Werke der italienischen Literatur an (u.a. des Decamerone des Boccacio). Ihre eigenen Novellen (Heptameron [1558/59]) sind von einer platonisch-idealistischen Liebesauffassung geprägt, die nicht immer zu den erzählten Inhalten paßt.

60. * Clément Marot (1496-1544), Lyriker, vom Klerus wegen Ketzerei verfolgt, Wegbereiter der Pléiade.

61. Paul Pellison (1624-1713), Akademiker, der die Geschichte der Akademie schrieb (Anmerkung des Übersetzers).

62. „Argot“, ursprünglich gleich „Rotwelsch“ oder „Gaunersprache“, nachher überhaupt gleich „Kunstsprache, Jargon eines Gewerbes oder einer Klasse“; so „argot des coulisses [Theaterjargon]“ und anderes (Anmerkung des Übersetzers).

63. Vorwort zur zweiten Auflage des Dictionnaire de l’Académie.

64. Voltaire: Dictionnaire philosophique, Vo. Langue.

65. * Richelieu (Jean Richelieu Duc de Plessis [1585-1642]), französischer Staatsmann, Minister Ludwig XIII.

66. * Jules Mazarin (1602-1661), Kardinal, Nachfolger Richelieus, brach den letzten Widerstand des Adels gegen den Hof (Fronde).

67. * Jean-Bénigne Bossuet (1627-1704), Kirchenfürst und Prediger.

68. Jonathan Swift: A proposal of correcting, improving and ascertaining the English tongue in a Letter to the Lord high treasurer. * Der Schriftsteller und Publizist Jonathan Swift (1667-1745) war ein satirischer Kritiker von Kirche und Staat.

69. * Friedrich Wilhelm der Große (1620-1688), Kurfürst, erreichte 1660 die Loslösung Preußens von Polen, kämpfte 1674 gegen Frankreich und besiegte 1675 Schweden.

70. Du Bellay, a.a.O. (*siehe Anm. 475).

71. Port Royal des Champs, ein altes Zisterzienserkloster in der Nähe von Versailles, war der Hauptplatz des Jansenismus, einer katholischen Oppositionspartei gegen die Jesuiten und das von der Jesuiten beherrschte Papsttum. Glänzende Talente traten für ihn ein, allen voran Blaise Pascal (1623-1662), der in seinen berühmten Provinzialbriefen die laxe Moral und Kasuistik der Jesuiten mit ebensoviel Witz wie sittlichem Pathos geißelte (Anmerkung des Übersetzers).

72. * Denis Diderot (1713-1784), Schriftsteller, Philosoph, Enzyklopädist.

73. Encyclopédie de Diderot, article Française.

74. Dictionnaire philosophique, article Style.

75. * Mit seinen pädagogisch-reformerischen Werken war Fénelon François de Salignac de La Mothe (1651-1715) ein Wegbereiter des Aufklärungsgedankens.

76. * Arnaud d’Ossat (1536-1604), seit 1599 Kardinal, seine Lettres [Briefe] wurden posthum veröffentlicht.

77. Dictionnaire philosophique, article „Française“.

78. Voltaire: Dernières remarques sur les Pensées de Pascal, édition Garnier, vol.XXXI.

79. * Vlg. Ueber die Literatur (siehe Anm. 454), II, 58ff.

80. * Aischylos von Eleusis (525-455), Vertreter der klassischen griechischen Tragödie.

81. * Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts hatte De la Places „Théâtre anglais“ Shakespeare gespielt.

82. * Durch skrupellose Geschäfte (Lotterieeinnehmer, Waffenhändler und Geldverleiher) reich geworden lebte Voltaire in den letzten Jahrzehnten seines Lebens im Schloß Ferney wie ein feudaler Grundherr. Seine Nichte und Mätresse führte seinen 20-Personen Haushalt.

83. Ein unübersetzbares Wortspiel: Voltaire verhunzt die Vornamen Shakespeares und seines Übersetzers, William oder französisch Guillaume zu „Gilles“ gleich Hanswurst und Pierre zu „Pierrot“, was ungefähr dasselbe bedeutet (Anmerkung des Übersetzers).

84. Brief an Herrn Vaines, 10. August 1776, Band 50, Correspondance, Ausgabe von Garnier.

85. * Die Jesaja-Stelle, in der deutschen Fassung fälschlichweise mit „als ob sie ‚von Milch und Honig‘ lebte“ übersetzt, ist eine Anspielung auf die Qualifikation der Königin in Geschmacksfragen, denn das Zitat lautet vollständig: „Er [der Sohn Davids] wird Butter und Honig essen bis zu der Zeit, in der er versteht, das Böse zu verwerfen und das Gute zu wählen“.

86. * Im französischen Text „avec les termes de b... (le mot est en toutes lettres)“ – in der deutschen Fassung „Saumenschern“.

87. * Königin Elisabeth (1533-1603) war Tochter Heinrich VIII. und Gegnerin Maria Stuarts.

88. Correspondance de Voltaire, Brief vom 13. August, Band 50, Ausgabe von Garnier.

89. Correspondance de Voltaire, Brief von d’Alembert vom 20. August, Band 50.

90. Macbeth (2. Akt, 3. Szene). Auch Schiller war die Szene zu derb, er legte in seiner Übersetzung anstatt ihrer dem Pförtner einfach ein frommes Morgendlied in den Mund (II, 5). Bürger, der sonst nicht gerade allzu beseitet war, ließ in seiner Übertragung des Macbeth den ganzen Passus aus, da er für die Bühne schrieb. Vergleiche seine Vorbemerkung zu seiner Übertragung (Anmerkung des Übersetzers).

* Shakespeares sämtliche Werke, übersetzt und eingeleitet von A.W. Schlegel u.a. (Stuttgart o.J., 2, 238) übersetzt: „Macduff: ‚Welches sind die drei Dinge, die er [der Trunk] besonders befördert?‘ Pförtner: ‚Ei, Herr, eine rote Nase, Schlaf und Urin. Unzucht, Herr, treibt und vertreibt er: er treibt das Verlangen, aber er vertreibt das Vollbringen‘.“

91. * Shakespeares Werke (siehe Anm. 534), 4, 330

92. * Shakespeares Werke (siehe Anm. 534, 3, 343) übersetzt mit einer sinnentstellenden Auslassung: „König Heinrich: ‚Wahrhaftig, wenn Ihr mich Euretwegen oder zum Tanzen bringen wolltet, Kätchen, wäre ich verloren. Könnt ich die Dame durch Luftsprünge gewinnen [...]‘.“

93. Shakespeares Werke (siehe Anm. 534, 4, 337) übersetzt: „Schwachheit, dein Nam’ ist Weib! – Ein kurzer Mond; bevor die Schuh verbraucht, womit sie meines Vaters Leiche folgte, wie Niobe, ganz Tränen – sie, ja sie; O Himmel! Würd’ ein Tier, das nicht Vernunft hat, doch länger trauern“.

94. * Voltaire verfaßte 1755 La pucelle d’Orléans [Die Jungfrau von Orléan]. Dieses Epos erzählt in einer künstlich-altertümlichen Sprache, die den komischen Effekt steigert, die Geschichte der Jungfrau von Orléans als die einer großen Herbergsmagd und unehelichen Tochter eines sinnenfrohen Pfarrers.

95. * Im Salon von Maria Anna Marquise Du Defffand verkehrten außer Voltaire auch D’Alembert, Montesquieu, Fontanelle ...

96. Lettre de M. de Voltaire à l’Académie française, verlesen am 25. August 1776, Ausgabe von Garnier, Band 19, Mélanges (Mixta).

97. Voltaire verfaßte das historische Epos La Henriade, das von der Person Heinrich IV. (regiert von 1589 bis 1610) handelt, mit dem die Bourbonen in Frankreich auf den Thron kamen.

98. * Abfällige Urteile wie das von Voltaire führten dazu, daß J.Fr. Ducis (1733-1816) Shakespeare bei seinen Bühnenbearbeitungen nicht nur das Versmaß in Alexandriner und die Szeneneinteilung änderte, um die unerläßliche Einheit von Zeit und Ort wiederherzustellen, sondern auch alle „Anstößigkeiten“ entfernte: Desdemonas Taschentuch mußte einem noblen Halsband weichen, Othello erdrosselte seine Gattin nicht mehr, sondern erdolchte sie (in einer anderen Version blieb sie sogar am Leben), Hamlet tötete seinen Oheim, übernahm den Thron und entschloß sich, weiterzuleben ...

99. * Für den griechischen Philosoph Epikur (~342-~271) bestand Glück in der Vermeidung von Unlust, erreicht durch Bedürfnislosigkeit.

100. Voltaire: Dictionnaire philosophique, article Langue. – Voltaire spielt hier mit schwer übersetzbaren Ausdrücken. Er stellt das unfranzösische, aus dem Englischen Übernommene: „armer une flotte [englisch ‚to arm a fleet‘]“ dem richtigen „équiper les vaisseaux“ gegenüber. Auch der Hieb, der in dem „wohingegen“ liegt, ist deutsch nicht wiederzugeben, denn das französische „par contre“ wird nur ungezwungen und als kaufmännischer Ausdruck gebraucht, worüber Voltaires feines Sprachgefühl natürlich eine Gänsehaut überläuft (Anmerkung des Übersetzers).

101. Voltaire: Dictionnaire philosophique, article Goût [* hier zit. nach Voltaire: Philosophisches Wörterbuch, Leipzig 1984, 228f.]. – Gustave Rodolphe Boulanger (1824-1888), der berühmte Maler, veröffentlichte anläßlich der Ausstellung von 1885 eine Broschüre, betitelt: A nos élèves [Unseren Schülern], in dem er das Abgehen von der erhebenden Art der Kunst beklagte. Für ihn sei Jules Bastien-Lepage (1848-1884) nur eines der betörten Opfer des „Naturalismus“, des Impressionismus, um im Argot zu reden, „der glaubt, die Unfähigkeit und Faulheit zu verherrlichen [...] Das schwerste Symptom des Unheils, das uns bedroht, ist die Suche nach Originalität“. Ich will Boulanger durchaus nicht mit Voltaire vergleichen und Bastien-Lepage, einen Maler von so persönlichem, vielseitigen Talent, nicht mit Crébillion, dem „Allobroger“, auf den es der Verfasser des Dictionnaire philosophique besonders abgesehen hat, aber es schien mir doch ganz pikant, zwei hervorragende Vertreter zweier so verschiedenen Künste gegenüberzustellen, die durch mehr als ein Jahrhundert voneinander getrennt, trotzdem dasselbe Mißtrauen gegen die Originalität, den Tod jedes Konventionalismus, an den Tag legen.

* Der Ausdruck „Impressionismus“ entstand durch den Kommentar eines Kritikers zu Claude Monets Bild „Impression soleil levant“: „Der für dieses Bild verantwortliche Farbkleckser muß wohl ein Impressionist sein, denn er gibt uns lediglich seine Impressionen wieder“.

Gustave Rodolphe Boulanger war spezialisiert auf das Malen von Alltagsszenen aus dem alten Griechenland und Rom; sein berühmtestes Bild trägt den Titel César arrive au Rubicon [Cäsar erreicht den Rubikon].

Die von Jules Bastei-Lepage propagierte die „Pleinair-Malerei [an der freien Luft]“ war eines der Grundelemente des Impressionismus. Er malte ländliche Genreszenen und Portraits (u.a. von Sarah Bernard, Juliett Drouet, Albert Wolff und Gambetta).

Claude Prosper Jolyot de Crébillion (1707-1777) verfaßte erotische Romane und Erzählungen.

102. Encyclopédie de Diderot, article Langue française.

103. * René Descartes (Cartesius) (1596-1650), in unmittelbarer Fortsetzung der Lehren Baruch Spinozas Begründer der modernen Naturphilosophie.

 


Zuletzt aktualisiert am 22.8.2004