W.I. Lenin

 

Was tun?

 

II
Spontaneität der Massen und Bewußtheit der Sozialdemokratie

 

b) Die Anbetung der Spontaneität
Die Rabotschaja Mysl

Bevor wir zu der literarischen Äußerungen dieser Anbetung der Spontaneität übergehen, wollen wir folgende (von uns obengenannter Quelle mitgeteilte) charakteristische Tatsache feststellen, die ein gewisses Licht darauf wirft, wie unter der in Petersburg arbeitender Genossen der Zwiespalt zwischen der beider künftigen Richtungen der russischen Sozialdemokratie entstanden ist und sich entwickelt hat. Bevor A.A. Wanejew und einige seiner Genossen in die Verbannung geschickt wurden, hatten sie Anfang 1897 an einer privaten Versammlung teilgenommen [28], in der die „alten“ und die „jungen“ Mitglieder des „Kampfbundes zur Befreiung der Arbeiterklasse“ zusammengekommen waren. Es wurde hauptsächlich über die Organisation und insbesondere über dasselbe Statut einer Arbeiterkasse gesprochen, das in seiner endgültigen Fassung in Nr.9/10 des Listok Rabotnika (S.46) veröffentlicht worden ist. Zwischen der „Alten“ (der „Dekabristen“, wie sie damals im Scherz von der Petersburger Sozialdemokraten genannt wurden) und einigen „Jungen“ (die später an der Rabotschaja Mysl eng mitarbeiteten) traten sofort scharfe Meinungsverschiedenheiten zutage, und es entbrannte eine heftige Polemik. Die „Jungen“ verteidigten die Hauptgrundsätze des Statuts in der Form, in der es veröffentlicht wurde. Die „Alten“ meinten, daß wir in erster Linie gar nicht das brauchten, sondern die Konsolidierung des „Kampfbundes“ als Organisation der Revolutionäre, der die verschiedenen Arbeiterkassen, die Propagandazirkel der studierenden Jugend u.dgl. untergeordnet sein müßten. Selbstverständlich waren die Streitenden weit entfernt von dem Gedanken, in diesem Streit den Beginn einer tiefgehenden Meinungsverschiedenheit zu sehen, sie betrachteten ihn, im Gegenteil, als etwas Vereinzeltes und Zufälliges. Aber diese Tatsache zeigt, daß auch in Rußland die Entstehung und Verbreitung des „Ökonomismus“ durchaus nicht ohne Kampf gegen die „alten“ Sozialdemokraten vor sich ging (das vergessen die heutigen „Ökonomisten“ oft). Und wenn dieser Kampf zum größten Teil keine „dokumentarischen“ Spuren hinterlassen hat, so liegt der Grund einzig und allein darin, daß die Teilnehmer der arbeitenden Zirkel unglaublich oft wechselten, daß keine Kontinuität zustande kam und darum auch die Meinungsverschiedenheiten in keinerlei Dokumenten festgehalten worden sind.

Die Gründung der Rabotschaja Mysl brachte den „Ökonomismus“ ans Licht, aber das geschah auch nicht auf einmal.

Man muß sich die Arbeitsbedingungen und die kurze Lebensdauer der meisten russischen Zirkel konkret vorstellen (konkret vorstellen kann sich dieses aber nur, wer es selbst miterlebt hat), um zu verstehen, von wieviel Zufälligkeiten der Erfolg oder Mißerfolg der neuen Richtung in den verschiedenen Städten abhing und wie lange weder die Anhänger noch die Gegner dieses „Neue“ feststellen konnten, wie sie buchstäblich keine Möglichkeit hatten, festzustellen, ob es sich tatsächlich um eine besondere Richtung oder nur um den Ausdruck der mangelnden Schulung einzelner Personen handelte. Die ersten hektographierten Nummern der Rabotschaja Mysl zum Beispiel sind der übergroßen Mehrheit der Sozialdemokraten sogar gänzlich unbekannt geblieben, und wenn wir uns jetzt auf den Leitartikel ihrer ersten Nummer beziehen können, dann nur dank dem Umstand, daß er im Artikel von W. I-n (Listok Rabotnika Nr.9/10, S.47ff.) nachgedruckt worden ist, der es natürlich nicht verabsäumt hat, der neuen Zeitung, die sich von den oben von uns erwähnten Zeitungen und Zeitungsprojekten so scharf abhob, sehr eifrig – mehr eifrig als klug – Lob zu spenden [E]. Und es lohnt sich, bei diesem Leitartikel zu verweilen, so prägnant ist in ihm der ganze Geist der Rabotschaja Mysl und des „Ökonomismus“ überhaupt zum Ausdruck gebracht.

Im Leitartikel wird erklärt, daß es dem Arm mit dem blauen Ärmelaufschlag nicht gelingen wird, die Entwicklung der Arbeiterbewegung aufzuhalten, und dann heißt es weiter: „... Eine solche Zählebigkeit verdankt die Arbeiterbewegung dem Umstand, daß der Arbeiter jetzt endlich selbst sein Schicksal in die Hand nimmt, nachdem er es den Händen der Führer entrissen hat“, und diese Grundthese wird dann weiter ausführlich entwickelt. In Wirklichkeit sind die Führer (d.h. die Sozialdemokraten, die Organisatoren des „Kampfbundes“) von der Polizei sozusagen den Händen der Arbeiter entrissen worden [F], die Sache wird aber so dargestellt, als hätten die Arbeiter gegen diese Führer einen Kampf geführt und sich von deren Joch befreit! Anstatt vorwärts zu rufen, zur Festigung der revolutionären Organisation und zur Erweiterung der politischen Tätigkeit, begann man zurück zu rufen, zum ausschließlich trade-unionistischen Kampf. Es wurde verkündet, daß „die ökonomische Grundlage der Bewegung verdunkelt werde durch das Bestreben, stets an das politische Ideal zu denken“, daß der Wahlspruch der Arbeiterbewegung „Kampf um die wirtschaftliche Lage“ (!) oder, noch besser, „Die Arbeiter für die Arbeiter“ sein müßte; es wurde verkündet, daß die Streikkassen „für die Bewegung wertvoller sind als hundert andere Organisationen“ (man vergleiche diese Behauptung, die im Oktober 1897 aufgestellt wurde, mit dem Streit zwischen den „Dekabristen“ und den „Jungen“ zu Beginn des Jahres 1897) usw. Äußerungen von der Art, daß nicht die „Elite“ der Arbeiter, sondern der „Durchschnitts“arbeiter, der Arbeiter aus der Masse, die Hauptsache sei, daß „die Politik immer gehorsam der Wirtschaft folgt“ [G] usw. usw., wurden Mode und übten einen unwiderstehlichen Einfluß auf die Masse der der Bewegung zuströmenden Jugend aus, die in den meisten Fallen den Marxismus nur aus den Bruchstücken seiner legalen Darstellung kannte.

Das bedeutete die vollständige Unterdrückung der Bewußtheit durch die Spontaneität – durch die Spontaneität derjenigen „Sozialdemokraten“, die die „Ideen“ des Herrn W.W. wiederholten, durch die Spontaneität derjenigen Arbeitet, die dem Argument erlagen, daß eine Kopeke Zulage pro Rubel für sie nützlicher und wertvoller sei als aller Sozialismus und alle Politik, denn sie müßten „den Kampf führen im Bewußtsein, daß sie nicht für irgendwelche zukünftigen Generationen kämpfen, sondern für sich und ihre Kinder“ (Leitartikel in Nr.1 der Rabotschaja Mysl). Solche Phrasen waren stets eine beliebte Waffe der westeuropäischen Bourgeois, die den Sozialismus hassen und selbst (wie der deutsche „Sozialpolitiker“ Hirsch) bemüht waren, den englischen Trade-Unionismus auf den heimatlichen Boden zu verpflanzen, wobei sie den Arbeitern einzureden suchten, daß der nur-gewerkschaftliche Kampf [H] eben der Kampf für sie selbst und für ihre Kinder sei, und nicht ein Kampf für irgendwelche zukünftigen Generationen mit irgendeinem zukünftigen Sozialismus. Und nun begannen „die W.W.s der russischen Sozialdemokratie“ diese bürgerlichen Phrasen zu wiederholen. Es ist wichtig, hier auf drei Umstände hinzuweisen, die uns bei der weiteren Analyse der heutigen [I] Meinungsverschiedenheiten sehr von Nutzen sein werden.

Erstens ist die Unterdrückung der Bewußtheit durch die Spontaneität, auf die wir hingewiesen haben, ebenfalls auf spontanem Wege vor sich gegangen. Das scheint ein Wortspiel zu sein, ist aber – leider! – bittere Wahrheit. sie erfolgte nicht dadurch, daß zwei völlig entgegengesetzte Anschauungen offen miteinander kämpften und die eine über die andere siegte, sondern dadurch, daß eine immer größere Zahl der revolutionären „Alten“ von den Gendarmen „herausgerissen“ wurde und immer mehr die „jungen“ „W.W.s der russischen Sozialdemokratie“ auf den Plan traten. Jeder, der an der heutigen russischen Bewegung, ich will nicht sagen teilgenommen, aber doch wenigstens eine Vorstellung von ihr hat, weiß sehr wohl, daß es sich so und. nicht anders verhält. Und wenn wir trotzdem besonders darauf bestehen, daß der Leser sich über diese allgemein bekannte Tatsache völlig klar wird, wenn wir sozusagen der Anschaulichkeit halber Material über das Rabotscheje Delo erster Fassung und über die Meinungsverschiedenheiten zwischen den „Alten“ und den „Jungen“ zu Beginn des Jahres 1897 anführen, so tun wir es, weil die Leute, die mit ihrem „Demokratismus“ protzen, darauf spekulieren, daß das breite Publikum (oder die blutjunge Generation) diese Tatsache nicht kennt. Wir werden weiter unten noch darauf zurückkommen.

Zweitens können wir schon bei der ersten literarischen Äußerung des „Ökonomismus“ die höchst eigentümliche und für das Verständnis aller Meinungsverschiedenheiten unter den heutigen Sozialdemokraten äußerst charakteristische Erscheinung beobachten, daß die Anhänger der „reinen Arbeiterbewegung“, die Anbeter der engsten und (nach einem Ausdruck des Rabotscheje Delo) „organischsten“ Verbindung mit dem proletarischen Kampf, die Gegner jeder nichtproletarischen Intelligenz (selbst wenn es sich um die sozialistische Intelligenz handelt) gezwungen sind, bei der Verteidigung ihrer Position zu den Argumenten der bürgerlichen „Nur-Gewerkschaftler“ Zuflucht zu nehmen. Das zeigt uns, daß die Rabotschaja Mysl von Anfang an – ohne sich selber dessen bewußt zu sein – das Programm des Credo verwirklicht. Das beweist (was das Rabotscheje Delo durchaus nicht begreifen kann), daß jede Anbetung der Spontaneität der Arbeiterbewegung, jede Herabminderung der Rolle des „bewußten Elements“, der Rolle der Sozialdemokratie, zugleich – ganz unabhängig davon, ob derjenige, der diese Rolle herabmindert, das wünscht oder nicht – die Stärkung des Einflusses der bürgerlichen Ideologie auf die Arbeiter bedeutet.

Jeder, der von der „Überschätzung der Ideologie“ [J], von der Übertreibung der Rolle des bewußten Elements [K] u.dgl.m. spricht, glaubt, die reine Arbeiterbewegung könne und werde sich von selbst eine selbständige Ideologie schaffen, wenn nur die Arbeiter „ihr Schicksal den Händen der Führer entreißen“. Aber das ist ein schwerer Fehler. In Ergänzung zu dem oben Gesagten wollen wir noch folgende, sehr treffende und wertvolle Worte K. Kautskys über den Entwurf für das neue Programm der österreichischen Sozialdemokratischen Partei anführen [L]:

Manche unserer revisionistischen Kritiker nehmen an, Marx hätte behauptet, die ökonomische Entwicklung und der Klassenkampf schüfen nicht bloß die Vorbedingungen sozialistischer Produktion, sondern auch direkt die Erkenntnis (hervorgehoben von K.K.) ihrer Notwendigkeit, und da sind die Kritiker gleich fertig mit dem Einwand, daß das Land der höchsten kapitalistischen Entwicklung, England, von allen modernen Ländern am freiesten von dieser Erkenntnis sei. Nach der neuen Fassung könnte man annehmen, daß auch die österreichische Programmkommission den auf diese Weise widerlegten angeblich „orthodox-marxistischen“ Standpunkt teile. Denn es heißt da: „Je mehr die Entwicklung des Kapitalismus das Proletariat anschwellen macht, desto mehr wird es gezwungen und befähigt, den Kampf gegen ihn aufzunehmen. Es kommt zum Bewußtsein“ der Möglichkeit und Notwendigkeit des Sozialismus etc. In diesem Zusammenhang erscheint das sozialistische Bewußtsein als das notwendige direkte Ergebnis des proletarischen Klassenkampf es. Das ist aber falsch. Der Sozialismus als Lehre wurzelt allerdings ebenso in den heutigen ökonomischen Verhältnissen wie der Klassenkampf des Proletariats, entspringt ebenso wie dieser aus dem Kampfe gegen die Massenarmut und das Massenelend, das der Kapitalismus erzeugt; aber beide entstehen nebeneinander, nicht auseinander, und unter verschiedenen Voraussetzungen. Das moderne sozialistische Bewußtsein kann nur erstehen auf Grund tiefer wissenschaftlicher Einsicht. In der Tat bildet die heutige ökonomische Wissenschaft ebenso eine Vorbedingung sozialistischer Produktion wie etwa die heutige Technik, nur kann das Proletariat beim besten Willen die eine ebensowenig schaffen wie die andere; sie entstehen beide aus dem heutigen gesellschaftlichen Prozeß. Der Träger der Wissenschaft ist aber nicht das Proletariat, sondern die bürgerliche Intelligenz (hervorgehoben von K.K.); in einzelnen Mitgliedern dieser Schicht ist denn auch der moderne Sozialismus entstanden und durch sie erst geistig hervorragenden Proletariern mitgeteilt worden, die ihn dann in den Klassenkampf des Proletariats hineintragen, wo die Verhältnisse es gestatten. Das sozialistische Bewußtsein ist also etwas in den Klassenkampf des Proletariats von außen Hineingetragenes, nicht etwas aus ihm urwüchsig Entstandenes. Dem entsprechend sagt auch das alte Hainfelder Programm ganz richtig, daß es zu den Aufgaben der Sozialdemokratie gehöre, das Proletariat mit dem Bewußtsein (hervorgehoben von K.K.) seiner Lage und seiner Aufgabe zu erfüllen. Das wäre nicht notwendig, wenn dies Bewußtsein von selbst aus dem Klassenkampf entspränge. Die neue Fassung hat diesen Satz von dem alten Programm übernommen und dem eben besprochenen angehängt. Dadurch ist aber der Gedankengang völlig zerrissen worden ...

Kann nun von einer selbständigen, von den Arbeitermassen im Verlauf ihrer Bewegung selbst ausgearbeiteten Ideologie keine Rede sein [M], so kann die Frage nur so stehen: bürgerliche oder sozialistische Ideologie. ein Mittelding gibt Es hier nicht (denn eine „dritte“ Ideologie hat die Menschheit nicht geschaffen, wie es überhaupt in einer Gesellschaft, die von Klassengegensätzen zerfleischt wird, niemals eine außerhalb der Klassen oder über den Klassen stehende Ideologie geben kann). Datum bedeutet jede Herabminderung der sozialistischen Ideologie, jedes Abschwenken von ihr zugleich eine Stärkung der bürgerlichen Ideo1ogie. Man redet von Spontaneität. Aber die spontane Entwicklung der Arbeiterbewegung führt eben zu ihrer Unterordnung unter die bürgerliche Ideologie, sie verläuft eben nach dem Programm des Credo, denn spontane Arbeiterbewegung ist Trade-Unionismus, ist Nur-Gewerkschaftlerei <“Nur-Gewerkschaftlerei“ bei Lenin deutsch. Die Red.>, Trade-Unionismus aber bedeutet eben ideologische Versklavung der Arbeiter durch die Bourgeoisie. Darum besteht unsere Aufgabe, die Aufgabe der Sozialdemokratie, im Kampf gegen die Spontaneität, sie besteht darin, die Arbeiterbewegung von dem spontanen Streben des Trade-Unionismus, sich unter die Fittiche der Bourgeoisie zu begeben, abzubringen und sie unter die Fittiche der revolutionären Sozialdemokratie zu bringen. Der Satz der Verfasser des „ökonomistischen“ Briefes in Nr.12 der Iskra, daß die größten Anstrengungen der begeisterten Ideologen die Arbeiterbewegung nicht von dem Weg abbringen könnten, der durch die Wechselwirkung der materiellen Elemente und des materiellen Milieus bestimmt werde, ist daher völlig gleichbedeutend mit dem Verzicht auf den Sozialismus, und wenn diese Verfasser fähig wären, das, was sie sagen, unerschrocken und konsequent bis zu Ende zu durchdenken; wie jeder seine Gedanken durchdenken muß, der die Arena der literarischen und öffentlichen Tätigkeit betritt, so würde ihnen nichts anderes übrigbleiben, als ihre „müßigen Hände auf der Brust zu verschränken“ und ... und den Herren Struve und Prokopowitsch, die die Arbeiterbewegung auf den „Weg des geringsten Widerstands“, d.h. den Weg des bürgerlichen Trade-Unionismus zerren, oder den Herren Subatow, die sie auf den Weg der Pfaffen- und Gendarmen-“Ideologie“ zerren, das Feld zu überlassen.

Man denke zum Beispiel an Deutschland. Worin bestand das historische Verdienst Lassalles um die deutsche Arbeiterbewegung? Darin, daß er diese Beilegung vom Weg des progressistischen Trade-Unionismus und Kooperativismus hinwegführte, den sie spontan (unter gütiger Mitwirkung der Schulze-Delitzsch und ihresgleichen) eingeschlagen hatte. Um diese Aufgabe zu erfüllen, war etwas ganz anderes notwendig als das Gerede von der Unterschätzung des spontanen Elements, von der Taktik als Prozeß, von der Wechselwirkung der Elemente und des Milieus u.dgl. Dazu war ein erbitterter Kampf gegen die Spontaneität notwendig, und erst im Ergebnis dieses lange, lange Jahre hindurch geführten Kampfes ist z.B. erreicht worden, daß die Arbeiterbevölkerung Berlins aus einer Stütze der Fortschrittspartei zu einer der stärksten Hochburgen der Sozialdemokratie geworden ist. Und dieser Kampf ist auch heute noch nicht beendet (wie es Leuten scheinen könnte, die die Geschichte der deutschen Bewegung nach Prokopowitsch und ihre Philosophie nach Struve studieren). Auch jetzt noch ist die deutsche Arbeiterklasse, wenn man so sagen darf, in mehrere Ideologien zersplittert: ein Teil der Arbeiter ist in den katholischen und den monarchistischen Arbeiterverbänden vereinigt, ein anderer Teil in den Hirsch-Dunckerschen, die von den bürgerlichen Anbetern des englischen Trade-Unionismus gegründet worden sind, der dritte in den sozialdemokratischen Verbänden. Dieser Teil ist unermeßlich größer als alle übrigen, diese führende Position aber konnte die sozialdemokratische Ideologie nur erreichen und wird sie nur aufrechterhalten können durch unentwegten Kampf gegen alle anderen Ideologien.

Warum aber, wird der Leser fragen, führt die spontane Bewegung, die Bewegung in der Richtung des geringsten Widerstands gerade zur Herrschaft der bürgerlichen Ideologie? Aus dem einfachen Grunde, weil die bürgerliche Ideologie ihrer Herkunft nach viel älter ist als die sozialistische, weil sie vielseitiger entwickelt ist, weil sie über unvergleichlich mehr Mittel der Verbreitung verfügt. [N] Und je jünger die sozialistische Bewegung in einem Lande ist, desto energischer muß deshalb der Kampf gegen alle Versuche, die nichtsozialistische Ideologie zu festigen, geführt werden, desto entschiedener müssen die Arbeiter vor den schlechten Beratern gewarnt werden, die von einer „Überschätzung des bewußten Elements“ usw. zetern. Die Verfasser des „ökonomistischen“ Briefes wettern im Einklang mit dem Rabotscheje Delo gegen die Intoleranz, die der Kindheitsperiode der Bewegung eigen sei. Wir antworten darauf: Ja, unsere Bewegung befindet sich tatsächlich im Kindesalter, und um schneller mannbar zu werden, muß sie eben von Intoleranz gegen die Leute erfüllt werden, die ihr Wachstum durch Anbetung der Spontaneität aufzuhalten suchen. Es gibt nichts Lächerlicheres und Schädlicheres, als den alten Mann spielen zu wollen, der alle entscheidenden Episoden des Kampfes schon langst hinter sich hat!

Drittens zeigt uns die erste Nummer der Rabotschaja Mysl, daß die Bezeichnung „Ökonomismus“ (auf die wir natürlich nicht verzichten wollen, da dieser Name sich so oder so bereits eingebürgert hat) das Wesen der neuen Richtung nicht genügend präzis wiedergibt. Die Rabotschaja Mysl lehnt den politischen Kampf nicht ganz ab: In dem in Nr.1 der Rabotschaja Mysl veröffentlichten Kassenstatut ist vom Kampf gegen die Regierung die Rede. Die Rabotschaja Mysl ist nur der Ansicht, daß „die Politik immer gehorsam der Wirtschaft folgt“ (das Rabotscheje Delo aber variiert diese These, indem es in seinem Programm versichert: „In Rußland ist der ökonomische Kampf mehr als in irgendeinem anderen Lande mit dem politischen untrennbar verbunden“). Diese Behauptungen der Rabotschaja Mysl und des Rabotscheje Delo sind absolut unzutreffend, wenn man unter Politik sozialdemokratische Politik versteht. Seht oft ist der wirtschaftliche Kampf der Arbeiter, wie wir bereits gesehen haben, mit der bürgerlichen, klerikalen usw. Politik (wenn auch nicht untrennbar) verbunden. Die Behauptungen des Rabotscheje Delo sind zutreffend, wenn man unter Politik trade-unionistische Politik versteht, d.h. das gemeinsame Bestreben aller Arbeiter, zu erreichen, daß der Staat diese oder jene Maßnahmen ergreift, die den mit ihrer Lage verbundenen Nöten abhelfen, aber diese Lage selbst nicht beseitigen, d.h. die Unterordnung der Arbeit unter das Kapital nicht aufheben. Dieses Bestreben ist tatsächlich sowohl den englischen Trade-Unionisten, die dem Sozialismus feindlich gegenüberstehen, als auch den katholischen Arbeitern, den „Subatowschen“ Arbeitern usw. gemein. Es gibt Politik und Politik. Wir sehen also, daß die Rabotschaja Mysl auch in bezug auf den politischen Kampf weniger eine Ablehnung dieses Kampfes zum Ausdruck bringt als vielmehr die Anbetung der Spontaneität, der Unbewußtheit dieses Kampfes. sie erkennt durchaus den politischen Kampf an, der aus der eigentlichen Arbeiterbewegung elementar hervorwächst (richtiger: die politischen Wünsche und Ansprüche der Arbeitet), verzichtet aber gänzlich darauf, eine spezifische sozialdemokratische Politik selbständig auszuarbeiten, die den allgemeinen Aufgaben des Sozialismus und den heutigen russischen Verhältnissen entspricht. Weiter unten werden wir zeigen, daß das Rabotscheje Delo den gleichen Fehler begeht.

 

 

Fußnoten von Lenin

E. Übrigens ging dieses Lob der Rabotschaja Mysl im November 1898, als der „Ökonomismus“, besonders im Ausland, feste Gestalt angenommen hatte, von demselben W. I-n aus, der sehr bald einer der Redakteure des Rabotscheje Delo wurde. Und das Rabotscheje Delo leugnete noch das Vorhandensein zweier Richtungen in der russischen Sozialdemokratie, wie es auch heute noch fortfährt, es zu leugnen!

F. Daß dieser Vergleich zutreffend ist, geht aus folgender charakteristischen Tatsache hervor: Als sich nach der Verhaftung der „Dekabristen“ unter den Arbeitern der Schlüsselburger Landstraße die Nachricht verbreitete, daß der Lockspitzel N.N. Michailow (ein Zahnarzt), der einer mit den „Dekabristen“ in Verbindung stehenden Gruppe nahestand, bei der Verhaftung mitgewirkt hatte, da waren diese Arbeiter so empört, daß sie Michailow umbringen wollten.

G. Aus demselben Leitartikel der ersten Nummer der Rabotschaja Mysl. Danach kann man urteilen, wie die theoretische Schulung dieser „W.W.s der russischen Sozialdemokratie“ aussah, die die grobe Vulgarisierung. des „ökonomischen Materialismus“ zu derselben Zeit wiederholten, als die Marxisten in der Literatur einen Krieg gegen den wirklichen Herrn W.W. führten, der schon seit langem wegen der gleichen Auffassung über das Verhältnis von Politik und Wirtschaft den Spitznamen „Spezialist für reaktionäre Angelegenheiten“ bekommen hatte!

H. Die Deutschen haben sogar einen besonderen Ausdruck: „Nur-Gewerkschaftler“ (bei Lenin deutsch. Die Red.), mit dem die Anhänger des „nur-gewerkschaftlichen“ Kampfes bezeichnet werden.

I. Wir unterstreichen das Wort heutigen im Hinblick auf diejenigen, die pharisäisch die Achseln zucken und sagen werden: Jetzt ist es leicht, an der Rabotschaja Mysl kein gutes Haar zu lassen, aber das ist doch ein Archaismus. Mutato nomine de te fabula narratur <unter anderem Namen wird in der Fabel von dir erzählt. Die Red.>, antworten wir solchen modernen Pharisäern, deren völlige Versklavung durch die Ideen der Rabotschaja Mysl weiter unten nachgewiesen wird.

J. Brief der „Ökonomisten“ in Nr.12 der Iskra.

K. Rabotscheje Delo Nr.10.

L. Die Neue Zeit, 1901-1902, XX, I, Nr.3, S.79/80. Der Entwurf der Kommission, von dem K. Kautsky spricht, ist vom Wiener Parteitag (Ende vorigen Jahres) [29] in etwas abgeänderter Form angenommen worden.

M. Dies heißt selbstverständlich nicht, daß die Arbeiter an dieser Ausarbeitung nicht teilnehmen. Abar sie nahmen daran nicht als Arbeiter teil, sondern als Theoretiker des Sozialismus, als die Proudhon und Weitling, mit anderen Worten, sie nehmen nur dann und soweit daran teil, als es ihnen in höherem oder geringerem Maße gelingt, sich das Wissen ihres Zeitalters anzueignen und dieses Wissen zu bereichern. Damit aber den Arbeitern dieses häufiger gelinge, ist es notwendig, alles zu tun, um das Niveau der Bewußtheit der Arbeiter im allgemeinen zu haben; ist es notwendig, daß die Arbeiter sich nicht in dem künstlich eingeengten Rahmen einer „Literatur für Arbeiter„ abschließen, sondern daß sie es immer mehr lernen, sich die allgemeine Literatur zu eigen zu machen. Es wäre sogar richtiger, anstatt „sich nicht abschließen“ zu sagen: nicht abgeschlossen werden, dann die Arbeiter selbst lesen alles und wollen alles lesen, auch das, was für die Intelligenz geschrieben wird, und nur einige (schlechte) Intellektuelle glauben, „für Arbeiter“ genüge es, wann man ihnen von den Zuständen in der Fabrik erzählt und langst bekannte Dinge wiederkäut.

N. Man sagt oft: Die Arbeiterklasse fühlt sich spontan zum Sozialismus hingezogen. Das ist vollkommen richtig in dem Sinne, daß die sozialistische Theorie tiefer und richtiger als jede andere die Ursachen des Elends der Arbeiterklasse aufzeigt; darum wird sie von den Arbeitern auch so leicht erfaßt, falls diese Theorie nur selber vor der Spontaneität nicht die Segel streicht, falls sie sich die Spontaneität unterordnet. Gewöhnlich versteht sich das von selbst, aber das Rabotscheje Delo vergißt und entstellt gerade diese selbstverständliche Tatsache. Die Arbeiterklasse fühlt sich spontan zum Sozialismus hingezogen, aber die am weitesten verbreitete (und in den mannigfaltigsten Formen ständig wiederauferstehende) bürgerliche Ideologie drängt sich trotzdem spontan dem Arbeiter am meisten auf.

 


Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008