W.I. Lenin

 

Was tun?

 

III
Trade-unionistische und sozialdemokratische Politik

 

b) Die Geschichte darüber, wie Plechanow von Martynow vertieft wurde

„Wieviel sozialdemokratische Lomonossows sind doch bei uns in letzter Zeit aufgetaucht!“ bemerkte einmal ein Genosse und meinte damit die erstaunliche Neigung vieler zum „Ökonomismus“ neigenden Leute, unbedingt „aus eigenem Verstand“ zu erhabenen Wahrheiten zu gelangen (wie z.B. zu der, daß der ökonomische Kampf die Arbeiter auf die Frage ihrer Rechtlosigkeit stößt) und dabei mit der dem urwüchsigen Genie eigenen großartigen Verachtung all das zu ignorieren, was die vorangegangene Entwicklung des revolutionären Denkens und der revolutionären Bewegung bereits hervorgebracht hat. Und ein so urwüchsiges Talent ist Lomonossow-Martynow. Man werfe einen Blick in seinen Artikel Aktuelle Fragen und man wird sehen, wie er „aus eigenem Verstand“ an das herankommt, was bereits vor langer Zeit von Axelrod (über den sich unser Lomonossow natürlich völlig ausschweigt) gesagt wurde, wie er zum Beispiel zu verstehen beginnt, daß wir die oppositionelle Haltung dieser oder jener Schichten der Bourgeoisie nicht ignorieren dürfen (Rabotscheje Delo Nr.9, S.61, 62, 71, vgl. mit der Antwort der Redaktion des Rabotscheje Delo an Axelrod, S.22, 23/24) usw. Aber – leider! – er „kommt nur heran“, er „beginnt nur“, und nicht mehr als das, denn die Gedanken Axelrods hat er trotzdem noch so wenig begriffen, daß er vom „ökonomischen Kampf gegen die Unternehmer und gegen die Regierung“ spricht. Drei Jahre lang (1898-1901) hat das Rabotscheje Delo Anstrengungen gemacht, um Axelrod zu begreifen, und ... hat ihn dennoch nicht begriffen! Vielleicht kommt das auch daher, daß die Sozialdemokratie, „gleich der Menschheit“, sich immer nur Aufgaben stellt, die sie lösen kann?

Aber die Lomonossow zeichnen sich nicht nur dadurch aus, daß sie vieles nicht wissen (das wäre nur das halbe Übel!), sondern auch dadurch, daß sie sich ihrer eigenen Ignoranz nicht bewußt sind. Das ist schon ein wirkliches Übel, und dieses Übel bringt sie dazu, sich so ohne weiteres an die „Vertiefung“ Plechanows zu machen.

Seit der Zeit, da Plechanow das genannte Buch schrieb (Über die Aufgaben der Sozialisten im Kampf gegen die Hungersnot in Rußland), ist viel Wasser ins Meer geflossen #8211; erzählt Lomonossow-Martynow. – Die Sozialdemokraten, die zehn Jahre lang den ökonomischen Kampf der Arbeiterklasse geleitet haben ..., sind noch nicht dazu gekommen, der Parteitaktik eine umfassende theoretische Begründung zu geben. Jetzt ist diese Frage herangereift, und wollten wir eine solche theoretische Begründung geben, so müßten wir unbedingt die Prinzipien der Taktik bedeutend vertiefen, die Plechanow einst entwickelte ... Wir müßten jetzt den Unterschied zwischen Propaganda und Agitation anders definieren, als es Plechanow getan hat. (Martynow hat soeben die Worte Plechanows angeführt: ‚Der Propagandist vermittelt viele Ideen an eine oder mehrere Personen, der Agitator aber vermittelt nur eine oder nur wenige Ideen, dafür aber vermittelt er sie einer ganzen Menge von Personen.‘) Unter Propaganda würden wir die revolutionäre Beleuchtung der gesamten gegenwärtigen Gesellschaftsordnung oder ihrer Teilerscheinungen verstehen, unabhängig davon, ob das in einer Form geschieht, die dem einzelnen oder der breiten Masse zugänglich ist. Unter Agitation im strengen Sinne des Wortes (sic!) würden wir verstehen: den Appell an die Massen zu bestimmten konkreten Aktionen, die Förderung der unmittelbaren revolutionären Einmischung des Proletariats in das öffentliche Leben.

Wir beglückwünschen die russische – und auch die internationale – Sozialdemokratie zu der neuen, exakteren und tieferen, Martynowschen Terminologie. Bisher waren wir (zusammen mit Plechanow sowie mit allen Führern der internationalen Arbeiterbewegung) der Meinung, daß der Propagandist zum Beispiel bei der Behandlung der Frage der Arbeitslosigkeit die kapitalistische Natur der Krisen erklären, die Ursache ihrer Unvermeidlichkeit in der modernen Gesellschaft aufzeigen, die Notwendigkeit der Umwandlung dieser Gesellschaft in eine sozialistische darlegen muß usw. Mit einem Wort, er muß „viele Ideen“ vermitteln, so viele, daß sich nur (verhältnismäßig) wenige Personen alle diese Ideen in ihrer Gesamtheit sofort zu eigen machen werden. Der Agitator hingegen, der über die gleiche Frage spricht, wird das allen seinen Hörern bekannteste und krasseste Beispiel herausgreifen – z.B. den Hungertod einer arbeitslosen Familie, die Zunahme der Bettelei usw. – und wird alle seine Bemühungen darauf richten, auf Grund dieser allen bekannten Tatsache der „Masse“ eine Idee zu vermitteln: die Idee von der Sinnlosigkeit des Widerspruchs zwischen der Zunahme des Reichtums und der Zunahme des Elends, er wird bemüht sein, in der Masse Unzufriedenheit und Empörung über diese schreiende Ungerechtigkeit zu wecken, während er die restlose Erklärung des Ursprungs dieses Widerspruchs dem Propagandisten überlassen wird. Der Propagandist wirkt darum hauptsächlich durch das gedruckte, der Agitator durch das gesprochene Wort. Vom Propagandisten werden nicht die gleichen Eigenschaften verlangt wie vom Agitator. Kautsky und Lafargue werden wir zum Beispiel als Propagandisten bezeichnen, Bebel und Guesde als Agitatoren. Ein drittes Gebiet oder eine dritte Funktion der praktischen Tätigkeit schaffen zu wollen, nämlich „den Appell an die Massen zu bestimmten konkreten Aktionen“, ist der größte Unsinn, denn der „Appell“ als einzelner Akt ist entweder die natürliche und unumgängliche Ergänzung sowohl des theoretischen Traktats und der propagandistischen Broschüre als auch der Agitationsrede, oder er stellt eine rein ausführende Funktion dar. In der Tat, man betrachte zum Beispiel den jetzigen Kampf der deutschen Sozialdemokraten gegen die Kornzölle. Die Theoretiker schreiben Untersuchungen über die Zollpolitik mit dem „Appell“, sagen wir, für Handelsverträge und Handelsfreiheit zu kämpfen; der Propagandist tut das gleiche in der Zeitschrift, der Agitator in öffentlichen Reden. Die „konkreten Aktionen“ der Masse sind in diesem Fall die Unterschriften unter die Petitionen an den Reichstag, in denen verlangt wird, die Kornzölle nicht zu erhöhen. Der Appell zu diesen Aktionen geht mittelbar von den Theoretikern, Propagandisten und Agitatoren aus und unmittelbar von den Arbeitern, die in den Fabriken und in Wohnungen Unterschriften sammeln. Nach der „Martynowschen Terminologie“ wären also Kautsky und Bebel Propagandisten, die Unterschriftensammler – Agitatoren, nicht wahr?

Bei dem Beispiel der Deutschen fällt mir das deutsche Wort „Verballhornung“ ein. Johann Ballhorn war ein Lübecker Verleger aus dem 16. Jahrhundert; er gab eine Fibel heraus, in der er, wie üblich, auch eine Zeichnung brachte, auf der ein Hahn abkonterfeit war; nur sah man auf dem Bilde statt des gewöhnlichen Hahns mit Sporen an den Füßen einen Hahn ohne Sporen, dafür aber lagen neben ihm ein paar Eier. Und auf dem Umschlag der Fibel vermerkte er: „Verbesserte Ausgabe von Johann Ballhorn“. Seitdem bezeichnen die Deutschen eine „Verbesserung“, die in Wirklichkeit eine Verschlechterung ist, als Verballhornung. Und unwillkürlich fällt einem Ballhorn ein, wenn man sieht, wie die Martynow einen Plechanow „vertiefen“ ...

Zu welchem Zweck hat unser Lomonossow dieses Durcheinander „erfunden“? Um zu illustrieren, daß die Iskra „ihr Augenmerk nur auf die eine Seite der Sache richtet, ebenso wie es Plechanow schon vor anderthalb Jahrzehnten getan hat“ (39). „Bei der Iskra werden, wenigstens für die Gegenwart, die Aufgaben der Agitation durch die Aufgaben der Propaganda in den Hintergrund gedrängt.“ (52.) Übersetzt man diesen letzten Satz aus der Martynowschen in eine menschliche Sprache (denn die Menschheit ist noch nicht so weit, daß sie sich die neuentdeckte Terminologie zu eigen gemacht hat), so erhält man folgendes: Bei der Iskra wird die Aufgabe, „an die Regierung konkrete Forderungen nach gesetzgeberischen und administrativen Maßnahmen zu stellen“, „die gewisse greifbare Resultate verheißen“ (oder Forderungen nach sozialen Reformen, wenn es erlaubt ist, einmal noch die alte Terminologie der bisherigen Menschheit zu gebrauchen, die das Martynowsche Niveau noch nicht erreicht hat), durch die Aufgaben der politischen Propaganda und der politischen Agitation in den Hintergrund gedrängt. Wir stellen dem Leser anheim, diese Behauptung mit folgender Tirade zu vergleichen:

Was uns an diesen Programmen (den Programmen der revolutionären Sozialdemokraten) in Staunen setzt, ist auch die Tatsache, daß sie ständig die Vorzüge des Wirkens der Arbeiter im (bei uns nicht bestehenden) Parlament in den Vordergrund schieben, während sie (infolge ihres revolutionären Nihilismus) völlig ignorieren, wie wichtig es ist, daß die Arbeiter an den bei uns bestehenden gesetzgebenden Versammlungen der Fabrikanten zur Regelung der Fabrikangelegenheiten teilnehmen.., oder daß die Arbeiter wenigstens an der städtischen Selbstverwaltung teilnehmen ...

Der Urheber dieser Tirade bringt etwas direkter, klarer und offener denselben Gedanken zum Ausdruck, zu dem Lomonossow-Martynow aus eigenem Verstand gelangt ist. Dieser Verfasser aber ist R.M. aus der Sonderbeilage zur Rabotschaja Mysl (S.15).

 


Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008