W.I. Lenin

 

Marxismus und Revisionismus

(April 1908)


Geschrieben nicht nach dem 3. (16.) April 1908.
Veröffentlicht 1908 in dem Sammelband Karl Marx (1818-1883).
Unterschrift Wl. Iljin.
Lenin: Werke, Bd. 15, Berlin 1962, S.17-28.
Kopiert mit Dank von der jetzt verschwundenen Webseite Marxistische Bibliothek.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Ein bekannter Ausspruch lautet: Würden geometrische Axiome an menschliche Interessen rühren, so würde man sicherlich versuchen, sie zu widerlegen. Naturgeschichtliche Theorien, die an alte theologische Vorurteile rührten, wurden und werden bis zum heutigen Tage aufs schärfste bekämpft. Kein Wunder, dass die Lehre von Marx, die unmittelbar der Aufklärung und Organisierung der fortgeschrittensten Klasse der modernen Gesellschaft dient, die die Aufgaben dieser Klasse zeigt und die infolge der ökonomischen Entwicklung unausbleibliche Ablösung der heutigen Ordnung durch eine neue nachweist, kein Wunder, dass diese Lehre sich jeden Schritt auf ihrem Lebensweg erst erkämpfen musste.

Von der bürgerlichen Wissenschaft und Philosophie, die von staatlich ausgehaltenen Professoren in staatserhaltendem Geiste gelehrt werden, um die heranwachsende Jugend der besitzenden Klassen zu verdummen und sie auf den äußeren und inneren Feind zu „dressieren“, braucht man gar nicht erst zu reden. Diese Wissenschaft will vom Marxismus nichts wissen, erklärt ihn für widerlegt und vernichtet; junge Wissenschaftler, die durch die Widerlegung des Sozialismus Karriere machen, wie Mummelgreise, treue Hüter der verschiedensten verschimmelten „Systeme“, sie alle fallen mit gleichem Eifer über Marx her. Das Wachstum des Marxismus, die Verbreitung und das Erstarken seiner Ideen in der Arbeiterklasse führen unausbleiblich zu immer häufigerer Wiederkehr und zur Verschärfung solcher bürgerlichen Ausfälle gegen den Marxismus, der aber aus jeder „Vernichtung“ durch die offizielle Wissenschaft immer stärker, gestählter und lebenskräftiger hervorgeht.

Doch selbst unter den Lehren, die mit dem Kampf der Arbeiterklasse zusammenhängen und vornehmlich unter dem Proletariat verbreitet sind, hat sich der Marxismus bei weitem nicht mit einem Schlage durchgesetzt. In den ersten fünfzig Jahren seines Bestehens (von den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts an) kämpfte der Marxismus gegen Theorien, die ihm von Grund aus feindlich waren. In der ersten Hälfte der vierziger Jahre rechneten Marx und Engels mit den radikalen Junghegelianern ab, die auf dem Standpunkt des philosophischen Idealismus standen. Ende der vierziger Jahre trat der Kampf auf dem Gebiet der ökonomischen Lehren in den Vordergrund der Kampf gegen den Proudhonismus. Die fünfziger Jahre bildeten den Abschluss dieses Kampfes: Kritik an den Parteien und Lehren, die im stürmischen Jahr 1848 in Erscheinung getreten waren. In den sechziger Jahren verschob sich der Kampf vom Gebiet der allgemeinen Theorie auf ein der unmittelbaren Arbeiterbewegung näher liegendes Gebiet: Vertreibung des Bakunismus aus der Internationale. Anfang der siebziger Jahre trat in Deutschland kurze Zeit der Proudhonist Mülberger in den Vordergrund, Ende der siebziger Jahre der Positivist Dühring. Doch der Einfluss des einen wie des anderen auf das Proletariat war schon verschwindend gering. Der Marxismus trug bereits unbestreitbar über alle anderen Ideologien in der Arbeiterbewegung den Sieg davon.

An der Schwelle der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts war dieser Sieg in den Hauptzügen vollendet. Selbst in den romanischen Ländern, wo die proudhonistischen Traditionen sich am längsten behaupteten, hatten die Arbeiterparteien ihre Programme und ihre Taktik faktisch auf marxistischer Grundlage aufgebaut. Die neuerstandene internationale Organisation der Arbeiterbewegung in Gestalt periodischer internationaler Kongresse stellte sich in allen wesentlichen Punkten von Anfang an und fast kampflos auf den Boden des Marxismus. Doch als der Marxismus alle einigermaßen in sich geschlossenen, ihm feindlichen Lehren verdrängt hatte, begannen die Tendenzen, die in diesen Lehren zum Ausdruck kamen, nach anderen Wegen zu suchen. Formen und Anlässe des Kampfes änderten sich, doch der Kampf selbst ging weiter. Und das zweite Halbjahrhundert der Existenz des Marxismus begann (in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts) mit dem Kampf einer dem Marxismus feindlichen Strömung innerhalb des Marxismus.

Der ehemals orthodoxe Marxist Bernstein, der sich am lautesten gebärdete und den Korrekturen an Marx, der Überprüfung Marx’, den ausgeprägtesten Ausdruck verlieh, gab dieser Richtung, dem Revisionismus, den Namen. Selbst in Russland, wo sich der nichtmarxistische Sozialismus naturgemäß infolge der ökonomischen Rückständigkeit des Landes, infolge des Überwiegens der von den Überresten der Leibeigenschaft niedergedrückten bäuerlichen Bevölkerung am längsten behauptete, selbst in Russland wächst er vor unseren Augen offenkundig in den Revisionismus hinüber. In der Agrarfrage (Programm der Munizipalisierung des gesamten Grund und Bodens) wie in allgemeinen programmatischen und taktischen Fragen ersetzen unsere Sozialvolkstümler die absterbenden, verfallenden Überreste des alten, in seiner Art geschlossenen und dem Marxismus von Grund aus feindlichen Systems immer mehr durch „Korrekturen“ an Marx.

Der vormarxistische Sozialismus ist zerschlagen. Er kämpft weiter, doch nicht mehr auf eigenständigem Boden, sondern auf dem allgemeinen Boden des Marxismus, als Revisionismus. Untersuchen wir, worin der Ideengehalt des Revisionismus besteht.

Auf dem Gebiet der Philosophie segelte der Revisionismus im Kielwasser der bürgerlichen professoralen „Wissenschaft“. Die Professoren gingen „zurück zu Kant“ und der Revisionismus trottete hinter den Neokantianern her; die Professoren käuten die abgedroschenen pfäffischen Banalitäten gegen den philosophischen Materialismus wieder und die Revisionisten murmelten mit herablassendem Lächeln (Wort für Wort nach dem letzten Handbuch), der Materialismus sei längst „widerlegt“; die Professoren behandelten Hegel als „toten Hund“, zuckten über die Dialektik verächtlich die Achseln, obwohl sie selber Idealismus predigten, aber einen tausendmal seichteren und vulgäreren als den Hegelschen und die Revisionisten folgten ihnen in den Sumpf der philosophischen Verflachung der Wissenschaft, indem sie die „raffinierte“ (und revolutionäre) Dialektik durch die „einfache“ (und ruhige) „Evolution“ ersetzten; die Professoren arbeiteten ihr Staatsgehalt ab, indem sie ihre idealistischen wie ihre „kritischen“ Systeme der herrschenden mittelalterlichen „Philosophie“ (d.h. Theologie) anpassten und die Revisionisten rückten ihnen an die Seite, bemüht, die Religion nicht dem modernen Staat, sondern der Partei der fortgeschrittensten Klasse gegenüber zur „Privatsache“ zu machen.

Auf die wahre Klassenbedeutung derartiger an Marx vorgenommener „Korrekturen“ braucht nicht erst hingewiesen zu werden sie liegt auf der Hand. Wir wollen nur hervorheben, dass der einzige Marxist in der internationalen Sozialdemokratie, der vom Standpunkt des konsequenten dialektischen Materialismus aus an den unglaublichen Plattheiten, die die Revisionisten zusammenredeten, Kritik übte, Plechanow war. Dies muss umso nachdrücklicher betont werden, als gegenwärtig ganz fehlerhafte Versuche unternommen werden, unter der Flagge einer Kritik an Plechanows taktischem Opportunismus alten und reaktionären philosophischen Plunder durchzuschmuggeln. [1]

Geht man zur politischen Ökonomie über, so ist vor allem zu bemerken, dass auf diesem Gebiet die „Korrekturen“ der Revisionisten noch weitaus vielseitiger und tiefgehender waren; man suchte durch „neues Material über die Wirtschaftsentwicklung“ auf das Publikum Eindruck zu machen. Man erklärte, in der Landwirtschaft vollziehe sich überhaupt keine Konzentration und keine Verdrängung des Kleinbetriebes durch den Großbetrieb, und auf dem Gebiet des Handels und der Industrie gehe sie nur äußerst langsam vor sich. Man erklärte, die Krisen seien jetzt seltener und schwächer geworden, und die Trusts und Kartelle würden es wahrscheinlich dem Kapital ermöglichen, die Krisen gänzlich zu beseitigen. Man erklärte, die „Theorie des Zusammenbruchs“, dem der Kapitalismus entgegengehe, sei unhaltbar, denn es trete eine Tendenz zur Abstumpfung und Milderung der Klassengegensätze zutage. Man erklärte schließlich, dass es nicht schaden könne, auch die Marxsche Werttheorie nach Böhm-Bawerk zu korrigieren.

Der Kampf gegen die Revisionisten in diesen Fragen führte zu einer ebenso fruchtbaren Belebung des theoretischen Denkens des internationalen Sozialismus wie zwanzig Jahre zuvor die Polemik Engels’ gegen Dühring. Die Beweisgründe der Revisionisten wurden an Hand von Zahlen und Tatsachen widerlegt. Es wurde nachgewiesen, dass die Revisionisten in Bezug auf den heutigen Kleinbetrieb systematisch Schönfärberei treiben. Die Tatsache der technischen und kommerziellen Überlegenheit der Großproduktion über die Kleinproduktion nicht nur in der Industrie, sondern auch in der Landwirtschaft wird durch unwiderlegliche Tatsachen bewiesen. Aber in der Landwirtschaft ist die Warenproduktion ungleich schwächer entwickelt und die heutigen Statistiker und Ökonomen verstehen es gewöhnlich schlecht, jene besonderen Zweige (manchmal sogar einzelne Arbeiten) der Landwirtschaft herauszugreifen, in denen sich die fortschreitende Einbeziehung der Landwirtschaft in den Austauschverkehr der Weltwirtschaft ausdrückt. Der Kleinproduzent hält sich auf den Trümmern der Naturalwirtschaft nur durch außerordentliche Verschlechterung der Ernährung, durch chronisches Hungern, durch Verlängerung des Arbeitstags, durch Verschlechterung der Qualität des Viehs und der Viehhaltung, kurz, durch dieselben Mittel, mit deren Hilfe sich auch die Hausindustrie gegen die kapitalistische Manufaktur behauptete. Jeder Schritt vorwärts, den Wissenschaft und Technik machen, untergräbt unvermeidlich und unerbittlich die Grundlagen des Kleinbetriebs in der kapitalistischen Gesellschaft, und Aufgabe der sozialistischen Ökonomie ist es, diesen Prozess in allen seinen oft komplizierten und verworrenen Formen zu untersuchen und dem Kleinproduzenten die Unmöglichkeit nachzuweisen, sich unter dem Kapitalismus zu behaupten, ihm die Ausweglosigkeit der Bauernwirtschaft unter dem Kapitalismus, die Notwendigkeit des Übergangs des Bauern auf den Standpunkt des Proletariers zu zeigen. Die Revisionisten sündigten in dieser Frage in wissenschaftlicher Beziehung durch oberflächliche Verallgemeinerung einseitig herausgegriffener Tatsachen, die sie aus ihrem Zusammenhang mit der ganzen kapitalistischen Ordnung herausrissen, in politischer Beziehung dadurch, dass sie unvermeidlich, bewusst oder unbewusst, den Bauern auf den Eigentümerstandpunkt (d.h. auf den Standpunkt der Bourgeoisie) lockten oder stießen, statt ihn auf den Standpunkt des revolutionären Proletariers zu drängen.

Mit der Krisen und Zusammenbruchstheorie war es beim Revisionismus noch schlechter bestellt. Nur ganz kurzsichtige Leute konnten und nur für ganz kurze Zeit unter dem Einfluss einiger Jahre des industriellen Aufschwungs und der Prosperität an eine Umgestaltung der Grundlagen der Marxschen Lehre denken. Dass die Krisen sich noch lange nicht überlebt haben, zeigte die Wirklichkeit den Revisionisten sehr rasch. Auf die Prosperität folgte die Krise. Die Formen, die Aufeinanderfolge, das Bild der einzelnen Krisen wandelten sich, doch die Krisen blieben ein unvermeidlicher Bestandteil der kapitalistischen Ordnung. Die Kartelle und Trusts, die die Produktion konzentrierten, steigerten zugleich vor aller Augen die Anarchie der Produktion, die Existenzunsicherheit des Proletariats und den Druck des Kapitals und verschärften so in noch nie da gewesenem Maße die Klassengegensätze. Dass der Kapitalismus dem Zusammenbruch entgegengeht im Sinne einzelner politischer und ökonomischer Krisen wie im Sinne des völligen Zusammenbruchs der ganzen kapitalistischen Ordnung , das haben gerade die neuesten Riesentrusts mit besonderer Anschaulichkeit und in besonders großem Ausmaß bewiesen. Die jüngste Finanzkrise in Amerika, die erschreckende Zunahme der Arbeitslosigkeit in ganz Europa, ganz abgesehen von der herannahenden Krise der Industrie, auf die viele Anzeichen hindeuten dies alles hatte zur Folge, dass die erst vor kurzem aufgestellten „Theorien“ der Revisionisten von aller Welt und, wie es scheint, sogar von vielen Revisionisten selbst vergessen wurden. Nur darf man die Lehren nicht vergessen, die diese intelligenzlerische Wankelmütigkeit der Arbeiterklasse erteilt hat.

Hinsichtlich der Werttheorie ist nur zu sagen, dass die Revisionisten hier, außer höchst unklaren Andeutungen und Anspielungen auf Böhm Bawerk, rein gar nichts geleistet und daher in der Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens keinerlei Spuren hinterlassen haben.

Auf dem Gebiet der Politik hat der Revisionismus versucht, nun wirklich die Grundlage des Marxismus, nämlich die Lehre vorn Klassenkampf, zu revidieren. Politische Freiheit, Demokratie, allgemeines Wahlrecht entzögen dem Klassenkampf den Boden, sagte man uns, und dadurch werde der alte Satz des Kommunistischen Manifests die Arbeiter haben kein Vaterland unrichtig. In der Demokratie dürfe man, da ja der „Wille der Mehrheit“ herrsche, weder den Staat als Organ der Klassenherrschaft betrachten noch auf Bündnisse mit der fortschrittlichen, sozialreformerischen Bourgeoisie gegen die Reaktionäre verzichten.

Unbestreitbar liefen diese Einwände der Revisionisten auf ein ziemlich geschlossenes System von Anschauungen hinaus nämlich auf die längst bekannten bürgerlich liberalen Anschauungen. Die Liberalen haben stets gesagt, Klassen und Klassenteilung würden durch den bürgerlichen Parlamentarismus aufgehoben, da unterschiedslos alle Bürger das Stimmrecht, das Recht der Mitwirkung an den Staatsgeschäften besäßen. Die ganze Geschichte Europas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die ganze Geschichte der russischen Revolution zu Anfang des 20. Jahrhunderts zeigt mit aller Deutlichkeit, wie widersinnig solche Ansichten sind. Unter der Freiheit des „demokratischen“ Kapitalismus werden die ökonomischen Unterschiede nicht geringer, sondern größer und tiefer. Der Parlamentarismus beseitigt nicht das Wesen der allerdemokratischsten bürgerlichen Republiken als Organe der Klassenunterdrückung, sondern er enthüllt es. Dadurch, dass der Parlamentarismus dazu beiträgt, unvergleichlich größere Bevölkerungsmassen, als früher je an den politischen Ereignissen aktiv beteiligt waren, aufzuklären und zu organisieren, bereitet er nicht etwa die Beseitigung der Krisen und der politischen Revolutionen vor, sondern die äußerste Verschärfung des, Bürgerkriegs während dieser Revolutionen. Die Pariser Ereignisse im Frühjahr 1871 und die russischen im Winter 1905 zeigten so klar wie noch niemals, wie unausbleiblich eine solche Verschärfung eintritt. Um die proletarische Bewegung niederzuwerfen, ging die französische Bourgeoisie, ohne auch nur einen Augenblick zu schwanken, ein Abkommen mit dem Feind der gesamten Nation ein, mit den fremdländischen Truppen, die ihr Vaterland verheert hatten. Wer die zwangsläufige innere Dialektik des Parlamentarismus und des bürgerlichen Demokratismus nicht begreift, die eine noch heftigere Austragung des Streites durch Massengewalt mit sich bringt als in früheren Zeiten, der wird, niemals imstande sein, auf dem Boden dieses Parlamentarismus eine prinzipienfeste Propaganda und Agitation zu betreiben, die die Arbeitermassen tatsächlich auf eine siegreiche Beteiligung an solchem „Streit“ vorbereitet. Die Erfahrungen der Bündnisse, Abkommen und Blocks mit dem sozialreformerischen Liberalismus im Westen und mit dem liberalen Reformismus (Kadetten) in der russischen Revolution haben überzeugend erwiesen, dass diese Abkommen das Bewusstsein der Massen nur abstumpfen und die wirkliche Bedeutung ihres Kampfes nicht verstärken, sondern abschwächen, weil sie die Kämpfenden an die am wenigsten kampffähigen, an die wankelmütigsten und am meisten verräterisch gesinnten Elemente binden. Der französische Millerandismus der bedeutsamste Versuch, die revisionistische politische Taktik in breitem, wirklich nationalem Maßstab anzuwenden hat zu einem praktischen Urteil über den Revisionismus geführt, das das Proletariat der ganzen Welt niemals vergessen wird.

Die natürliche Ergänzung der ökonomischen und politischen Tendenzen des Revisionismus bildete seine Stellung zum Endziel der sozialistischen Bewegung. „Die Bewegung ist alles, das Endziel nichts“ dieses geflügelte Wort Bernsteins lässt das Wesen des Revisionismus besser erfassen als viele langatmige Ausführungen. Die Haltung von Fall zu Fall festlegen, sich an Tagesereignisse, an das Auf und Ab im politischen Kleinkram anpassen, die Grundinteressen des Proletariats, die Grundzüge der ganzen kapitalistischen Ordnung und die gesamte kapitalistische Entwicklung vergessen, diese Grundinteressen um wirklicher oder vermeintlicher Augenblicksvorteile willen opfern darin besteht die revisionistische Politik. Und aus dem Wesen dieser Politik selbst geht augenfällig hervor, dass sie unendlich mannigfaltige Formen annehmen kann und dass jede irgendwie „neue“ Frage, jede irgendwie unerwartete und unvorhergesehene Wendung der Ereignisse, selbst wenn diese Wendung die grundlegende Entwicklungslinie auch nur ganz unbedeutend und für allerkürzeste Zeit ändern würde, stets und unvermeidlich die eine oder andere Spielart des Revisionismus ins Leben rufen wird.

Die Unvermeidlichkeit des Revisionismus ist durch seine Klassenwurzeln in der modernen Gesellschaft bedingt. Der Revisionismus ist eine internationale Erscheinung. Für jeden einigermaßen erfahrenen und denkenden Sozialisten kann nicht der geringste Zweifel darüber bestehen, dass das Verhältnis zwischen Orthodoxen und Bernsteinianern in Deutschland, Guesdisten und Jaurèsisten (jetzt besonders Broussisten) in Frankreich, zwischen der Sozialdemokratischen Föderation und der Unabhängigen Arbeiterpartei in England, zwischen de Brouckère und Vandervelde in Belgien, Integralisten und Reformisten in Italien, Bolschewiki und Menschewiki in Russland im Grunde genommen überall von gleicher Art ist, trotz größter Mannigfaltigkeit der nationalen Bedingungen und der geschichtlichen Momente in der gegenwärtigen Situation aller dieser Länder. Die „Scheidung“ innerhalb des heutigen internationalen Sozialismus verläuft in den verschiedenen Ländern der Welt heute schon im Grunde genommen auf einer Linie und dokumentiert damit den gewaltigen Fortschritt gegenüber der Lage vor 30 40 Jahren, als sich in den verschiedenen Ländern innerhalb des einheitlichen internationalen Sozialismus verschiedenartige Tendenzen bekämpften. Und jener „Revisionismus von links“, der heute in romanischen Ländern als „revolutionärer Syndikalismus“ auftritt, passt sich ebenfalls dem Marxismus an, indem er ihn korrigiert“: Labriola in Italien, Lagardelle in Frankreich appellieren auf Schritt und Tritt vom falsch verstandenen an den richtig verstandenen Marx.

Wir können hier keine Analyse des ideologischen Inhalts dieses Revisionismus vornehmen, der bei weitem noch nicht zu solcher Entfaltung gelangt, noch nicht zu einer internationalen Erscheinung geworden ist wie der opportunistische Revisionismus und der in der Praxis noch keine einzige große Schlacht mit einer sozialistischen Partei auch nur eines Landes bestanden hat, Wir beschränken uns daher auf den oben umrissenen „Revisionismus von rechts“.

Worin besteht seine Unvermeidlichkeit in der kapitalistischen Gesellschaft? Warum ist er tiefer als die Unterschiede in den nationalen Besonderheiten und in den verschiedenen Entwicklungsstufen des Kapitalismus? Weil es in jedem kapitalistischen Land neben dem Proletariat immer auch große Schichten des Kleinbürgertums, der Kleineigentümer gibt. Der Kapitalismus entstand und entsteht immer wieder aus der Kleinproduktion. Eine ganze Anzahl von „Mittelschichten“ wird vom Kapitalismus unausbleiblich immer wieder neu geschaffen (Anhängsel der Fabrik, Heimarbeit, kleine Werkstätten, die infolge der Bedürfnisse der Großindustrie, zum Beispiel der Fahrrad und Automobilindustrie, über das ganze Land verstreut sind, usw.). Diese neuen Kleinproduzenten werden ebenso unausbleiblich wieder in die Reihen des Proletariats geschleudert. Es ist ganz natürlich, dass die kleinbürgerliche Weltanschauung in den großen Arbeiterparteien immer wieder zum Durchbruch kommt. Es ist ganz natürlich, dass es bis zu den, Peripetien der proletarischen Revolution so sein muss und stets so sein wird; denn es wäre ein großer Fehler zu glauben, die „volle“ Proletarisierung der Mehrheit der Bevölkerung sei notwendig, damit die Revolution durchführbar werde. Was wir heute oft nur auf ideologischem Gebiet erleben Auseinandersetzungen mit theoretischen Korrekturen an Marx was heute in der Praxis nur in einzelnen Teilfragen der Arbeiterbewegung zum Durchbruch kommt, als taktische Meinungsverschiedenheiten mit den Revisionisten und die Spaltungen auf dieser Grundlage , das alles wird die Arbeiterklasse fraglos in noch viel größerem Maßstab durchzumachen haben, wenn die proletarische Revolution alle Streitfragen verschärfen, alle Meinungsverschiedenheiten auf Punkte von unmittelbarster Bedeutung für die Bestimmung der Haltung der Massen konzentrieren, wenn sie das Proletariat zwingen wird, im Feuer des Kampfes Feind von Freund zu scheiden und die schlechten Bundesgenossen von sich abzuschütteln, um entscheidende Schläge gegen den Feind führen zu können.

Der ideologische Kampf des revolutionären Marxismus gegen den Revisionismus am Ausgang des 19. Jahrhunderts bedeutete nur eine Vorstufe zu den großen revolutionären Schlachten des Proletariats, das trotz aller Schwankungen und Schwächen des Spießbürgertums dem vollen Sieg seiner Sache entgegenschreitet.


Anmerkung

1. Siehe das Buch Beiträge zur Philosophie des Marxismus von Bogdanow, Basarow u.a. Hier ist nicht der geeignete Ort, auf dieses Buch näher einzugehen, und ich muss mich vorläufig auf die Erklärung beschränken, dass ich in nächster Zukunft in einer Reihe von Aufsätzen oder in einer besonderen Broschüre nachweisen werde, dass alles, was im Text über die neokantianischen Revisionisten gesagt ist, im Grunde auch für diese „neuen“, neohumeistischen und neoberkeleyanischen Revisionisten gilt. (Siehe Werke, 4. Ausgabe, Bd.14. – Die Red.)


Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008