Wladimir Iljitsch Lenin

 

Der Fünfte Internationale Kongress
für den Kampf gegen die Prostitution

(Juli 1913)


Ursprünglich: Rabotschaja Prawda, Nr. 1, 13. Juli 1913. (Unterschrift: W.)
Aus: Lenin, Werke, Bd. 19, Berlin (Dietz), S. 250–251.
Transkription: Rosemarie Nünning.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


In London wurde vor Kurzem der „Fünfte Internationale Kongress zur Unterdrückung des Mädchenhandels“ beendet.

Herzoginnen waren dort aufmarschiert, Gräfinnen, Bischöfe, Pastoren, Rabbiner, Polizeibeamte und alle Sorten bürgerlicher Philanthropen! Wie viele Festessen gab es da und wie viele prunkvolle offizielle Empfänge! Wie viele feierliche Reden wurden gehalten über die Schädlichkeit und Verwerflichkeit der Prostitution!

Welches aber waren die Kampfmittel, die von den vornehmen bürgerlichen Kongressdelegierten gefordert wurden? In der Hauptsache waren es zwei Mittel: Religion und Polizei. Das sei das Sicherste und Verlässlichste gegen die Prostitution. Ein englischer Delegierter tat sich, wie der Londoner Korrespondent der „Leipziger Volkszeitung“ berichtet, etwas zugute darauf, im Parlament die Prügelstrafe für Kuppelei gefordert zu haben. Da habt ihr den modernen „zivilisierten“ Helden des Kampfes gegen die Prostitution.

Eine Dame aus Kanada sprach entzückt von der Polizei und der weiblichen Polizeiaufsicht über die „gefallenen“ Mädchen, in Bezug auf die Erhöhung der Arbeitslöhne aber bemerkte sie, dass die Arbeiterinnen höhere Löhne nicht wert seien.

Ein deutscher Pastor wetterte gegen den modernen Materialismus, der im Volke immer mehr Boden gewinne und die Verbreitung der freien Liebe begünstige.

Als der österreichische Delegierte Gärtner den Versuch machte, die Frage der sozialen Ursachen der Prostitution, der Not und des Elends der Arbeiterfamilien, der Ausbeutung der Kinderarbeit, der unerträglichen Wohnungsverhältnisse usw. aufzuwerfen – da wurde der Redner durch feindselige Zwischenrufe zum Schweigen gebracht!

Dafür aber erzählte man sich in Kreisen der Delegierten lehrreiche und feierliche Dinge über hohe Persönlichkeiten. Wenn z. B. die deutsche Kaiserin irgendeine Entbindungsanstalt in Berlin besucht, wird den Müttern „illegitimer“ Kinder ein Ehering an den Finger gesteckt – um die hohe Frau nicht durch den Anblick unverheirateter Mütter zu schockieren!!

Man kann daran ermessen, welch widerwärtige bürgerliche Heuchelei auf diesen aristokratisch-bürgerlichen Kongressen herrscht. Die Wohltätigkeitsakrobaten und die polizeilichen Verteidiger der Verhöhnung von Not und Elend versammeln sich zum „Kampf gegen die Prostitution“, die gerade von der Aristokratie und der Bourgeoisie gefördert wird …


Leztzte Aktualisierung: 29. September 2016