W.I. Lenin

 

Briefe aus der Ferne

 

Brief 2
Die neue Regierung und das Proletariat


Geschrieben am 9. (22.) März 1917.
Zum erstenmal veröffentlicht 1924 in der Zeitschrift Bolschewik Nr.3-4.
Nach dem Manuskript.
Transkription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Das wichtigste Dokument, das mir bis zum heutigen Tag (8. [21.] März) zur Verfügung steht, ist eine Nummer der erzkonservativen und erzbürgerlichen englischen Zeitung Times vom 16. (3.) März mit einer Zusammenstellung der Meldungen über die Revolution in Rußland. Es dürfte schwerfallen, eine Queue zu finden, die der Regierung Gutschkow und Miljukow – um es milde auszudrücken – wohlwollender gegenüberstünde.

Der Petersburger Korrespondent dieser Zeitung meldete am Mittwoch, dem 1. (14.) März, als noch die erste provisorische Regierung existierte, d.h. der Exekutivausschuß der Duma, bestehend aus 13 Mann mit Rodsjanko an der Spitze (und den zwei, wie die Zeitung sie nennt, „Sozialisten“ Kerenski und Tschcheïdse als Mitglieder), folgendes:

„Eine Gruppe von 22 gewählten Mitgliedern des Reichsrats [7], Gutschkow, Stachowitsch, Trubezkoi, Professor Wassiljew, Grimm, Wernadski und andere, hat gestern ein Telegramm an den Zaren gesandt“ mit der flehentlichen Bitte, zur Rettung der „Dynastie“ usw. usf. die Duma einzuberufen und einen Regierungschef zu ernennen, der das „Vertrauen der Nation“ genießt. „Welchen Entschluß der Kaiser, der heute eintreffen soll, fassen wird“, schreibt der Korrespondent, „ist zur Zeit noch nicht bekannt, aber eines steht fest: Wenn Seine Majestät die Wünsche der gemäßigtesten Elemente unter seinen loyalen Untertanen nicht unverzüglich erfüllt, so wird das Provisorische Komitee der Reichsduma den Einfluß, den es jetzt besitzt, ganz an die Sozialisten verlieren, die die Errichtung einer Republik wollen, aber nicht imstande sind, irgendeine geordnete Regierung zu schaffen, sondern das Land unvermeidlich in eine innere Anarchie und eine äußere Katastrophe stürzen würden ...“

Wie staatsmännisch-weise und klar das ist, nicht wahr? Wie gut begreift doch der englische Gesinnungsgenosse (wenn nicht gar der Prinzipal) der Gutschkow und Miljukow das Verhältnis der Klassenkräfte und Klasseninteressen! Die „gemäßigtesten Elemente unter den loyalen Untertanen“, d.h. die monarchistischen Gutsbesitzer und Kapitalisten, wollen die Macht in ihre Hände nehmen, denn sie sind sich dessen bewußt, daß sie sonst ihren „Einfluß“ an die „Sozialisten“ verlieren würden. Weshalb aber gerade an die „Sozialisten“ und nicht an irgend jemand anders? Deshalb, weil der englische Gutschkowist sehr gut begreift, daß es in der politischen Arena keine andere gesellschaftliche Kraft gibt und auch nicht geben kann. Die Revolution war das Werk des Proletariats, das Proletariat hat heldenmütig gekämpft, das Proletariat hat sein Blut vergossen, es hat die breitesten Massen der werktätigen und armen Bevölkerung mit sich gerissen, das Proletariat fordert Brot, Frieden und Freiheit, es fordert die Republik, es sympathisiert mit dem Sozialismus. Aber das Häuflein Gutsbesitzer und Kapitalisten mit den Gutschkow und Miljukow an der Spitze will sich über den Willen oder die Bestrebungen der gewaltigen Mehrheit hinwegsetzen, will einen Pakt mit der zusammenbrechenden Monarchie schließen, will sie unterstützen und retten: Ernennen Sie Lwow und Gutschkow, Euer Majestät, und wir sind mit der Monarchie gegen das Volk. Das ist der ganze Sinn, das ganze Wesen der Politik der neuen Regierung!

Wie aber soll der Betrug am Volk, die Täuschung des Volkes, die Mißachtung des Willens der ungeheuren Mehrheit der Bevölkerung gerechtfertigt werden?

Dazu muß das Volk verleumdet werden – eine alte, aber ewig neue Methode der Bourgeoisie. Und der englische Gutschkowist verleumdet, schimpft, speit und geifert: „innere Anarchie, äußere Katastrophe“, keine „geordnete Regierung“!!

Das ist nicht wahr, mein werter Gutschkowist! Die Arbeiter wollen die Republik, die Republik aber ist eine viel „geordnetere“ Regierung als die Monarchie. Wer garantiert dem Volk, daß ein zweiter Romanow sich nicht einen zweiten Rasputin anschafft? Die Katastrophe aber wird gerade durch die Fortsetzung des Krieges, d.h. durch die neue Regierung, herbeigeführt. Nut die proletarische Republik, die von den Landarbeitern und den armen Schichten der Bauern und der Städter unterstützt wird, kann den Frieden gewährleisten, kann Brot, Ordnung und Freiheit geben.

Das Geschrei gegen die Anarchie soll nur die eigennützigen Interessen der Kapitalisten verhüllen, die sich am Krieg und an den Kriegsanleihen bereichern wollen, die die Monarchie gegen das Volk wiedererrichten wollen.

„... Gestern“, fährt der Korrespondent fort, „hat die Sozialdemokratische Partei einen Aufruf erlassen, dessen Inhalt äußerst aufrührerisch ist; dieser Aufruf wurde in der ganzen Stadt verbreitet. Sie“ (d.h. die Sozialdemokratische Partei) „sind reine Doktrinäre; aber in einer Zeit wie der heutigen sind sie imstande, ungeheures Unheil zu stiften. Herr Kerenski und Herr Tschcheïdse, die begreifen, daß sie ohne die Unterstützung der Offiziere und der gemäßigteren Elemente des Volkes nicht darauf hoffen können, die Anarchie zu verhüten, sind genötigt, auf ihre weniger vernünftigen Genossen Rücksicht zu nehmen, und werden unmerklich in eine Haltung gedrängt, die es dem Provisorischen Komitee erschwert, seine Aufgaben zu erfüllen ...“

O großer englischer Gutschkow-Diplomat! Wie „unvernünftig“ haben Sie die Wahrheit ausgeplaudert!

Die „Sozialdemokratische Partei“ und die „weniger vernünftigen Genossen“, auf die Kerenski und Tschcheïdse „Rücksicht zu nehmen genötigt sind“, das ist offenbar das Zentralkomitee oder das Petersburger Komitee unserer durch die Januarkonferenz von 1912 [8] wiederhergestellten Partei, das sind dieselben „Bolschewiki“, die von den Bourgeois stets als „Doktrinäre“ beschimpft werden, weil sie treu zur „Doktrin“, d.h. zu den Grundsätzen, der Lehre, den Zielen des Sozialismus stehen. Als aufrührerisch und doktrinär beschimpft der englische Gutschkowist natürlich den Aufruf und die Haltung unserer Partei, weil sie zum Kampf um die Republik, um den Frieden, um die vollständige Vernichtung der Zarenmonarchie und um Brot für das Volk auffordert.

Brot für das Volk und Frieden – das ist Aufruhr, aber Ministerposten für Gutschkow und Miljukow – das ist „Ordnung“. Welche alten, wohlbekannten Reden!

Wie aber kennzeichnet der englische Gutschkowist die Taktik von Kerenski und Tschcheïdse?

Als schwankend: Einerseits tobt sie der Gutschkowist, weil sie „begreifen“ (diese Musterknaben, diese braven Jungen!), daß sie ohne „Unterstützung“ der Offiziere und der gemäßigteren Elemente die Anarchie nicht verhüten können (wir allerdings glaubten bisher und glauben es heute noch auf Grund unserer Doktrin, unserer sozialistischen Lehre, daß es gerade die Kapitalisten sind, die Anarchie und Krieg in die menschliche Gesellschaft hineintragen, daß uns nur der Übergang der gesamten politischen Macht in die Hände des Proletariats und der armen Schichten des Volkes von Krieg, Anarchie und Hungersnot erlösen kann!). – – – Anderseits seien sie aber „genötigt“, auf „ihre weniger vernünftigen Genossen“, d.h. auf die Bolschewiki, auf die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands, die durch das Zentralkomitee wiederhergestellt und vereinigt worden ist, „Rücksicht zu nehmen“.

Welche Macht aber „nötigt“ Kerenski und Tschcheïdse, auf die bolschewistische Partei „Rücksicht zu nehmen“, der sie niemals angehört haben, die von ihnen selbst oder von denen, die sie publizistisch vertreten (den „Sozialrevolutionären“, den „Volkssozialisten“ [9], den „menschewistischen OK-Leuten“ usw.), stets beschimpft, verurteilt und als ein unbedeutender illegaler Zirkel, als eine Sekte von Doktrinären usw. bezeichnet wurde? Wo und wann hat man je gesehen, daß Politiker, die ihre fünf Sinne beisammen haben, in einer revolutionären Zeit, d.h. einer Zeit, in der die Massenaktion dominiert, auf „Doktrinäre“ „Rücksicht nehmen“??

Unser armer englischer Gutschkowist hat sich in seinen eigenen Widersprüchen verwickelt, er hat weder eine ganze Lüge noch die ganze Wahrheit zu sagen vermocht und nur sich selbst verraten.

Der Einfluß, den die Sozialdemokratische Partei des Zentralkomitees auf das Proletariat, auf die Massen ausübt, hat Kerenski und Tschcheïdse gezwungen, auf diese Partei Rücksicht zu nehmen. Unsere Partei erwies sich als mit den Massen, mit dem revolutionären Proletariat verbunden, obwohl bereits im Jahre 1914 unsere Abgeordneten verhaftet und nach Sibirien verbannt worden waren, obwohl das Petersburger Komitee wegen der illegalen Arbeit, die es während des Krieges gegen den Krieg und gegen den Zarismus leistete, den schärfsten Verfolgungen und Verhaftungen ausgesetzt war.

„Tatsachen sind ein hartnäckig Ding“, sagt der Engländer. Gestatten Sie, daß wir Sie an diese Redensart erinnern, sehr verehrter englischer Gutschkowist! Der englische Gutschkowist mußte „selber“ zugeben, daß die Petersburger Arbeiter in den großen Tagen der Revolution von unserer Partei, geführt oder zumindest rückhaltlos unterstützt wurden. Ebenso mußte er die Tatsache zugeben, daß Kerenski und Tschcheïdse zwischen Bourgeoisie und Proletariat hin und her schwankten. Die Gwosdew-Leute, die „Vaterlandsverteidiger“, d.h. die Sozialchauvinisten, d.h. die Verteidiger des imperialistischen Raubkrieges, leisten jetzt der Bourgeoisie bedingungslos Gefolgschaft, Kerenski ist durch den Eintritt in das Kabinett, d.h. in die zweite Provisorische Regierung, gleichfalls völlig auf die Seite der Bourgeoisie übergegangen; Tschcheïdse ist nicht in die Regierung eingetreten, er schwankt noch immer zwischen der Provisorischen Regierung der Bourgeoisie, den Gutschkow und Miljukow, und der „provisorischen Regierung“ des Proletariats und der armen Massen des Volkes, dem Sowjet der Arbeiterdeputierten und der vom Zentralkomitee vereinigten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands.

Die Revolution hat also das bestätigt, was wir besonders betonten, als wir die Arbeiter aufforderten, sich den Klassenunterschied zwischen den wichtigsten Parteien und den wichtigsten Strömungen in der Arbeiterbewegung und dem Kleinbürgertum klarzumachen – das, was wir zum Beispiel in Nr.47 des Genfer Sozial-Demokrat vor fast anderthalb Jahren, am 13. Oktober 1915, schrieben:

Die Teilnahme von Sozialdemokraten an einer provisorischen revolutionären Regierung zusammen mit dem demokratischen Kleinbürgertum halten wir nach wie vor für zulässig, aber keinesfalls eine Teilnahme zusammen mit revolutionären Chauvinisten. Als revolutionäre Chauvinisten bezeichnen wir diejenigen, die den Sieg über den Zarismus zu dem Zweck wollen, Deutschland zu besiegen, andere Länder zu rauben, die Herrschaft der Großrussen Über die übrigen Völker Rußlands zu festigen usw. Die Grundlage des revolutionären Chauvinismus ist die Klassenlage des Kleinbürgertums. Es schwankt stets zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Gegenwärtig schwankt es zwischen dem Chauvinismus (der es hindert, konsequent revolutionär selbst im Sinne der demokratischen Revolution zu sein) und dem proletarischen Internationalismus. Die politischen Wortführer dieses Kleinbürgertums sind gegenwärtig in Rußland die Trudowiki, die Sozialrevolutionäre, die Gruppe Nascha Sarja (heute Delo), die Fraktion Tschcheïdse [10], das OK, Herr Plechanow usw. Wenn die revolutionären Chauvinisten in Rußland siegten, so würden wir gegen eine Verteidigung ihres 'Vaterlandes' im gegenwärtigen Krieg sein. Unsere Losung: Gegen die Chauvinisten, auch wenn sie Revolutionäre und Republikaner sind, gegen sie und für das Bündnis des internationalen Proletariats zur Durchführung der sozialistischen Revolution. [11]

Doch kehren wir zu dem englischen Gutschkowisten zurück.

„... Das Provisorische Komitee der Reichsduma“, fährt er fort, „hat in Anbetracht der ihm drohenden Gefahren absichtlich davon Abstand genommen, seinen ursprünglichen Plan durchzuführen und die Minister zu verhaften, obgleich das gestern denkbar leicht gewesen wäre. Dadurch ist die Tür für Verhandlungen offengeblieben, und wir“ („wir“ = das englische Finanzkapital und der englische Imperialismus) „können darum alle Vorteile des neuen Regimes erlangen, ohne die schreckliche Prüfung der Kommune und die Anarchie eines Bürgerkriegs durchmachen zu müssen ...“

Die Gutschkowisten waren für einen Bürgerkrieg in ihrem Interesse, sie sind gegen einen Bürgerkrieg im Interesse des Volkes, d.h. der wirklichen Mehrheit der Werktätigen.

„... Die Beziehungen zwischen dem Provisorischen Dumakomitee, das die ganze Nation repräsentiert“ (dieses Komitee der vierten Duma, der Großgrundbesitzer- und Kapitalistenduma!), „und dem Rat der Arbeiterdeputierten, der reine Klasseninteressen vertritt“ (so spricht ein Diplomat, der mit halben Ohr irgendwelche gelehrten Ausdrücke gehört hat und der die Tatsache verbergen will, daß dieser Rat der Arbeiterdeputierten das Proletariat und die armen Volksmassen, d.h. neun Zehntel der Bevölkerung vertritt), „aber in einer Krise wie der gegenwärtigen über eine ungeheure Macht verfügt, haben bei verständigen Leuten in bezug auf die Möglichkeit eines Zusammenstoßes zwischen Komitee und Rat, der die furchtbarsten Folgen haben könnte, keine geringen Befürchtungen geweckt.

Glücklicherweise ist diese Gefahr, wenigstens für den Augenblick“ (man beachte dieses „wenigstens“!), „abgewendet worden; das hat man dem Einfluß des Herrn Kerenski, eines jungen Advokaten mit großer rednerischer Begabung, zu verdanken; er begreift ganz klar“ (zum Unterschied von Tschcheïdse, der auch „begriffen hat“, aber nach der Meinung des Gutschkowisten wohl weniger klar?), „daß eine Zusammenarbeit mit dem Komitee um seiner Arbeiterwähler willen notwendig ist“ (um nämlich die Stimmen der Arbeiter zu bekommen, um sich bei ihnen einzuschmeicheln). „Zu einem zufriedenstellenden Abkommen [12] kam es heute“ (Mittwoch, den 1. [14.] März), „wodurch alle überflüssigen Reibungen vermieden werden.“

Was für ein Abkommen das ist, ob der ganze Sowjet der Arbeiterdeputierten daran beteiligt ist, welche Bedingungen es enthält, wissen wir nicht. Die Hauptsache hat der englische Gutschkowist diesmal ganz verschwiegen. Natürlich! Es liegt nicht im Interesse der Bourgeoisie, daß diese Bedingungen klar, präzis und allen bekannt sind, denn dann wäre es für sie schwerer, sie zu verletzen!

 

Vorstehende Zeilen waren schon geschrieben, als ich zwei sehr wichtige Mitteilungen las. Erstens den Text eines Aufrufs des Sowjets der Arbeiterdeputierten über die „Unterstützung“ der neuen Regierung in der Pariser erzreaktionären und erzbürgerlichen Zeitung Le Temps vom 20. März und zweitens Auszüge aus der Rede Skobelews in der Reichsduma vom 1. (14.) März, die ein Züricher Blatt (Neue Zürcher Zeitung, 1. Mittagsblatt, 21.3.) auf Grund von Meldungen einer Berliner Zeitung (National-Zeitung) wiedergibt.

Der Aufruf des Sowjets der Arbeiterdeputierten ist, wenn sein Text von den französischen Imperialisten nicht entstellt wurde, ein äußerst bemerkenswertes Dokument; er läßt erkennen, daß das Petersburger Proletariat zumindest zur Zeit des Erscheinens des Aufrufs unter dem vorherrschenden Einfluß von kleinbürgerlichen Politikern gestanden hat. Ich erinnere daran, daß ich, wie schon oben erwähnt, Leute vom Schlage Kerenskis und Tschcheïdses zu Politikern dieser Art zähle.

Der Aufruf enthält zwei politische Ideen und dementsprechend zwei Losungen.

Erstens: Im Aufruf heißt es, daß die (neue) Regierung aus „gemäßigten Elementen“ besteht. Eine sonderbare, völlig ungenügende Charakterisierung,. eine rein liberale, unmarxistische Charakterisierung. Auch ich bin bereit zuzugeben, daß jede Regierung jetzt, nach der Vollendung der ersten Etappe der Revolution, in einem gewissen Sinne – ich werde im nächsten Brief erläutern, in welchem Sinne – „gemäßigt“ sein muß. Aber es ist absolut unzulässig, sich und das Volk darüber täuschen zu wollen, daß diese Regierung den imperialistischen Krieg fortsetzen will, daß sie ein Agent des englischen Kapitals ist, daß sie die Monarchie wiederherstellen und die Herrschaft der Gutsbesitzer und Kapitalisten konsolidieren will.

Der Aufruf erklärt, daß alle Demokraten die neue Regierung „unterstützen“ müssen und daß der Sowjet der Arbeiterdeputierten Kerenski ersucht und bevollmächtigt, in die Provisorische Regierung einzutreten. Die Bedingungen sind: Durchführung der versprochenen Reformen noch während des Krieges, Gewährleistung einer „freien kulturellen“ (nur??) Entwicklung der Nationalitäten (ein rein kadettisches, liberal-armseliges Programm) und Bildung eines besonderen Ausschusses zur Überwachung der Tätigkeit der Provisorischen Regierung, eines Ausschusses, der aus Mitgliedern des Sowjets der Arbeiterdeputierten und aus „Militärs“ bestehen soll. [13]

Auf diesen Überwachungsausschuß, der zu der zweiten Art von Ideen und Losungen gehört, werden wir noch besonders eingehen.

Aber die Ernennung Kerenskis, eines russischen Louis Blanc, und die Aufforderung zur Unterstützung der neuen Regierung sind – so darf man sagen – ein klassisches Beispiel für den Verrat an der Sache der Revolution und an der Sache des Proletariats, für eben jene Art des Verrats, die im 19. Jahrhundert zum Scheitern einer ganzen Reihe von Revolutionen führte, unabhängig davon, in welchem Maße die Führer und Anhänger einer solchen Politik aufrichtig und der Sache des Sozialismus ergeben sind.

Das Proletariat kann und darf eine Regierung des Krieges, eine Regierung der Restauration nicht unterstützen. Was der Kampf gegen die Reaktion, was die Abwehr alter möglichen und wahrscheinlichen Versuche der Romanows und ihrer Freunde zur Wiederherstellung der Monarchie und zur Aufstellung einer konterrevolutionären Armee erfordert, das ist keineswegs die Unterstützung der Gutschkow und Co., sondern die Organisierung einer proletarischen Miliz, ihr Ausbau, ihre Festigung und die Bewaffnung des Volkes unter der Führung der Arbeiter. Ohne diese wichtige, grundlegende, radikale Maßnahme kann weder von einem ernsthaften Widerstand gegen die Wiedererrichtung der Monarchie und gegen die Versuche, die versprochenen Freiheiten aufzuheben oder einzuschränken, die Rede sein noch davon, entschlossen den Weg zu beschreiten, der zu Brot, Frieden und Freiheit führt.

Wenn Tschcheïdse, der zusammen mit Kerenski Mitglied der ersten Provisorischen Regierung (des dreizehnköpfigen Dumakomitees) war, es wirklich aus grundsätzlichen Erwägungen von obenerwähntem oder ähnlichem Charakter abgelehnt hat, in die zweite Provisorische Regierung einzutreten, so gereicht ihm das zur Ehre. Das muß offen gesagt werden. Leider aber steht diese Auslegung im Widerspruch zu anderen Tatsachen und vor allem zur Rede Skobelews, der immer mit Tschcheïdse ein Herz und eine Seele war.

Skobelew hat, wenn man der genannten Quelle Glauben schenken darf, erklärt, daß „die soziale“ (?offenbar sozialdemokratische) „Gruppe und die Arbeiter mit den Zielen der Provisorischen Regierung nur einen leichten Kontakt haben“, daß die Arbeiter den Frieden fordern und daß eine Fortsetzung des Krieges unaufhaltsam zu einer Katastrophe im Frühjahr führen werde, daß „die Arbeiterschaft mit der Gesellschaft“ (der liberalen Gesellschaft) „eine vorläufige Waffenfreundschaft geschlossen habe, obgleich die politischen Ziele der Arbeiterschaft von denen der Gesellschaft himmelweit verschieden seien“, daß „die Liberalen von den unsinnigen Kriegszielen lassen sollten“ usw.

Diese Rede ist ein Musterbeispiel für das, was wir weiter oben in dem Zitat aus dem Sozial-Demokrat als „Schwanken“ zwischen Bourgeoisie und Proletariat bezeichnet haben. Die Liberalen können, solange sie Liberale bleiben, nicht von „unsinnigen“ Kriegszielen „lassen“, die, nebenbei gesagt, nicht von ihnen allein festgesetzt werden, sondern vom englisch-französischen Finanzkapital, einer Weltmacht, die über Hunderte von Milliarden verfügt. Nicht die Liberalen „überreden“, sondern den Arbeitern klarmachen, weshalb die Liberalen in eine Sackgasse geraten sind, weshalb sie an Händen und Füßen gebunden sind, weshalb sie sowohl die Verträge zwischen dem Zarismus und England usw. als auch die Abmachungen zwischen dem russischen und dem englisch-französischen Kapital usw. usf. geheimhalten.

Wenn Skobelew davon spricht, daß die Arbeiter ein Abkommen mit der liberalen Gesellschaft getroffen haben, und gegen dieses Abkommen nicht protestiert, wenn er nicht von der Dumatribüne herab die Schädlichkeit eines solchen Abkommens für die Arbeitet darlegt, dann billigt er dieses Abkommen. Und das durfte keinesfalls geschehen.

Wenn Skobelew das Abkommen zwischen dem Sowjet der Arbeiterdeputierten und der Provisorischen Regierung direkt oder indirekt, offen oder stillschweigend billigt, dann schwankt et in der Richtung zur Bourgeoisie. Wenn Skobelew erklärt, daß die Arbeiter den Frieden fordern, daß zwischen ihren Zielen und denen der Liberalen ein himmelweiter Unterschied besteht, dann schwankt er in der Richtung zum Proletariat.

Rein proletarisch, wahrhaft revolutionär und in ihrer Absicht vollkommen richtig ist die zweite politische Idee des von uns analysierten Aufrufs des Sowjets der Arbeiterdeputierten, die Idee der Bildung eines „Überwachungsausschusses“ (ich weiß nicht, ob es russisch wirklich so heißt; ich übersetze frei aus dem Französischen), d.h. eines Ausschusses zur Überwachung der Provisorischen Regierung durch Proletarier und Soldaten.

Das ist das Richtige! Das ist der Arbeiter würdig, die ihr Blut für Freiheit, Frieden und Brot für das Volk vergossen haben! Das ist cm realer Schritt zur Schaffung von realen Garantien sowohl gegen den Zarismus und die Monarchie als auch gegen die Monarchisten Gutschkow, Lwow und Co.! Das ist cm Anzeichen dafür, daß das russische Proletariat trotz allem schon weiter ist als das französische Proletariat im Jahre 1848, das einen Louis Blanc „bevollmächtigte“! Das ist ein Beweis dafür, daß sich der Instinkt und der Verstand der proletarischen Massen nicht zufriedenstellen lassen mit Deklamationen, Gerede, Versprechungen von Reformen und Freiheiten, mit dem Titel eines „von den Arbeitern bevollmächtigten Ministers“ und ähnlichem Firlefanz, sondern daß sie eine Stütze nur dort suchen, wo sie vorhanden ist, bei den bewaffneten Volksmassen, die vom Proletariat, von den klassenbewußten Arbeitern organisiert und geführt werden.

Das ist ein Schritt auf dem richtigen Wege, aber nur der erste Schritt.

Bleibt dieser „Überwachungsausschuß“ eine rein parlamentarische, nur politische Institution, d.h. eine Kommission, die an die Provisorische Regierung „Anfragen richtet“ und von ihr Antworten erhält, so wird er trotz allem ein Spielzeug, so wird er ein Nichts sein.

Wenn dies aber dazu führt, daß sofort und allen Hindernissen zum Trotz eine wirklich das ganze Volk, wirklich alle Männer und Frauen umfassende Arbeitermiliz oder Arbeiterwehr geschaffen wird, die nicht nur die vernichtete und verjagte Polizei ersetzt, nicht nur Dafür sorgt, daß diese von keiner, ob monarchistisch-konstitutionellen oder demokratisch-republikanischen, Regierung wiederhergestellt wird, weder in Petrograd noch irgendwo anders in Rußland, dann werden die fortgeschrittenen Arbeitet Rußlands wirklich den Weg neuer und großer Siege beschreiten, den Weg, der sie zum Sieg Über den Krieg führen. wird, zur praktischen Verwirklichung der Losung, die nach den Meldungen der Zeitungen das Banner der Kavallerietruppen schmückte, die in Petrograd auf dem Platz vor der Reichsduma demonstrierten:

„Es leben die sozialistischen Republiken aller Länder!“

Meine Gedanken über diese Arbeiterwehr werde ich im nächsten Brief darlegen.

Ich werde mich bemühen, in diesem Brief zu zeigen einerseits, daß eben die Schaffung einer von den Arbeitern geführten allgemeinen Volkswehr die richtige Losung des Tages ist und den taktischen Aufgaben des besonderen Übergangsstadiums entspricht, das die russisch Revolution (und die Weltrevolution) gegenwärtig durchmacht, und anderseits, daß diese Arbeiterwehr, wenn sie erfolgreich sein soll, erstens eine Volkswehr der Massen, eine im wahrsten Sinne des Wortes allgemeine Volkswehr sein muß, die wirklich die gesamte arbeitsfähige Bevölkerung beiderlei Geschlechts umfaßt, und zweitens dazu übergehen muß, nicht allein rein polizeiliche, sondern auch allgemein staatliche Funktionen mit militärischen Funktionen und mit der Kontrolle der gesellschaftlichen Produktion und Verteilung der Güter zu vereinigen.

Zürich, den 22. (9.) März 1917.
N. Lenin

P.S. Ich habe vergessen, den vorigen Brief mit dem Datum 20. (7.) März zu versehen.

 

 

Anmerkungen

7. Reichsrat – eines der höchsten Staatsorgane im vorrevolutionären Rußland. Er wurde 1810 als gesetzesberatende Körperschaft gebildet, deren Mitglieder vom Zaren ernannt und bestätigt wurden. Durch ein Gesetz vom 20. Februar (5. März) 1906 wurde der Reichsrat reorganisiert und erhielt das Recht, Gesetzentwürfe nach ihrer Beratung in der Reichsduma zu bestätigen oder abzulehnen. Das Recht jedoch, grundlegende Gesetze zu ändern und eine Reihe besonders wichtiger Gesetze zu erlassen, blieb weiterhin dem Zaren vorbehalten.

Ab 1906 bestand der Reichsrat zur Hälfte aus gewählten Vertretern des Adels, der Geistlichkeit, der Großbourgeoisie und zur Hälfte aus vom Zaren ernannten Würdenträgern. Infolgedessen war der Reichsrat eine ausgesprochen reaktionäre Körperschaft, die sogar von der Reichsduma bereits angenommene gemäßigte Gesetzentwürfe ablehnte.

8. Es handelt sich um die Sechste (Prager) Gesamtrussische Konferenz der SDAPR, die vom 5. bis 17. (18. bis 30.) Januar 1912 stattfand. Die Konferenz hatte faktisch die Bedeutung eines Parteitags. W.I. Lenin leitete die Konferenz. Er hielt die Referate über die gegenwärtige Lage und die Aufgaben der Partei, über die Arbeit des Internationalen Sozialistischen Büros und zu anderen Fragen.

Die Prager Konferenz spielte eine hervorragende Rolle beim Aufbau der Partei der Bolschewiki, bei der Festigung ihrer Einheit. Sie zog die Bilanz einer ganzen historischen Epoche des Kampfes der Bolschewiki gegen. die Menschewiki und festigte durch den Ausschluß der menschewistischen Liquidatoren aus der Partei den Sieg der Bolschewiki. Die Konferenz bestimmte die politische Linie und die Taktik der Partei unter den Bedingungen des neuen revolutionären Aufschwungs. Die Leninschen Dokumente der Prager Konferenz siehe Werke, Bd.17, S.441-478.

9. Sozialrevolutionäre – kleinbürgerliche Partei in Rußland; sie entstand Ende 1901-Anfang 1902 durch den Zusammenschluß verschiedener volkstümlerischer Gruppen und Zirkel. Die Anschauungen der Sozialrevolutionäre waren ein eklektisches Gemisch von volkstümlerischen und revisionistischen Ideen. Die Sozialrevolutionäre sahen nicht die Klassenunterschiede zwischen Proletariat und Bauernschaft, sie verschleierten die Klassendifferenzierung und die Widersprüche innerhalb der Bauernschaft und leugneten die führende Rolle des Proletariats in der Revolution. Während des ersten Weltkriegs bezog die Mehrheit der Sozialrevolutionäre eine sozialchauvinistische Position. Nach der bürgerlich-demokratischen Februarrevolution bildeten die Sozialrevolutionäre zusammen mit den Menschewiki die Hauptstütze der bürgerlichen Provisorischen Regierung.

Volkssozialisten – Mitglieder der kleinbürgerlichen Volkssozialistischen Arbeitspartei, die 1906 aus dem rechten Flügel der Partei der Sozialrevolutionäre hervorgegangen war. Die Volkssozialisten traten für einen Block mit den Kadetten ein. Während des ersten Weltkriegs bezogen sie eine sozialchauvinistische Position. Nach der bürgerlich-demokratischen Februarrevolution verschmolz die Partei der Volkssozialisten mit den Trudowiki (siehe Brief I, Anm. 5). Sie unterstützte aktiv die bürgerliche Provisorische Regierung, indem sie ihre Vertreter in diese Regierung entsandte.

10. Gemeint ist die menschewistische Fraktion der IV. Reichsduma, die von N.S. Tschcheïdse geleitet wurde. Während des imperialistischen Weltkriegs nahm die menschewistische Fraktion in der Duma zentristische Positionen ein, unterstützte jedoch in Wirklichkeit voll und ganz die Politik der russischen Sozialchauvinisten.

11. W.I. Lenin: Werke, Bd.21, S.410.

12. Gemeint ist das Abkommen über die Bildung der bürgerlichen Provisorischen Regierung, das am 1. (14.) März 1917 zwischen dem Provisorischen Komitee der Reichsduma und den sozialrevolutionären und menschewistischen Führern des Exekutivkomitees des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten getroffen worden war. Dadurch, daß die Sozialrevolutionäre und Menschewiki dem Provisorischen Komitee der Reichsduma das Recht einräumten, nach eigenem Ermessen die Provisorische Regierung zu bilden, überließen sie freiwillig der Bourgeoisie die Macht. Die Provisorische Regierung wurde am 2. (15.) März 1917 gebildet. Mitglieder der Regierung waren Fürst Lwow, der Kadettenführer Miljukow, der Führer der Oktobristen Gutschkow und andere Vertreter der Bourgeoisie und der Gutsbesitzer. Als Vertreter der „Demokratie“ erhielt der Sozialrevolutionär Kerenski einen Sitz in der Regierung.

13. Es handelt sich um die sogenannte „Kontaktkommission“, die auf Beschluß des versöhnlerischen Exekutivkomitees des Petrograder Sowjets vom 8. (21.) März 1917 gebildet wurde, um auf die Provisorische Regierung „einzuwirken“ und ihre Tätigkeit zu „kontrollieren“. Die „Kontaktkommission“ half der Provisorischen Regierung, die Autorität des Petrograder Sowjets zur Verschleierung ihrer konterrevolutionären Politik auszunutzen. Mit ihrer Hilfe glaubten die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre die Massen vom aktiven revolutionären Kampf für den Übergang der Macht an die Sowjets abhalten zu können. Die „Kontaktkommission“ wurde Mitte April 1917 aufgelöst, ihre Funktionen gingen an das Büro des Exekutivkomitees über.

 


Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008