Wladimir Iljitsch Lenin

 

Briefe aus der Ferne

 

Brief 5
Die Aufgaben der revolutionären proletarischen Staatsordnung


Geschrieben am 26. März (8. April) 1917
Zuerst veröffentlicht 1924 in der Zeitschrift Bolschewik Nr.3-4
Nach dem Manuskript
Transkription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


In den vorhergehenden Briefen wurden die gegenwärtigen Aufgaben des revolutionären Proletariats in Rußland folgendermaßen skizziert: 1. verstehen, auf dem richtigsten Weg zur nächsten Etappe der Revolution bzw. zur zweiten Revolution zu gelangen, die 2. die Staatsmacht den Händen der Gutsbesitzer- und Kapitalistenregierung (der Gutschkow, Lwow, Miljukow und Kerenski) entreißen und sie der Regierung der Arbeiter und der armen Bauern übergeben muß. 3. Diese Regierung muß nach dem Muster der Sowjets der Arbeiter- und Bauerndeputierten organisiert sein; sie muß 4. die alte, für alle bürgerlichen Staaten charakteristische Staatsmaschine, die Armee, die Polizei, die Bürokratie (das Beamtentum), zerschlagen und völlig beseitigen, indem sie 5. diese Maschine durch eine Organisation des bewaffneten Volkes ersetzt, die nicht nur große Massen, sondern ausnahmslos das gesamte Volk umfaßt. 6. Nur eine solche Regierung – „eine solche“ in bezug auf ihre Klassenzusammensetzung („revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“) und ihre Verwaltungsorgane („proletarische Miliz“) – ist imstande, die außerordentlich schwierige, absolut unaufschiebbare Aufgabe, die }Hauptaufgabe des gegenwärtigen Augenblicks, erfolgreich zu lösen, nämlich den Frieden herbeizuführen, und zwar keinen imperialistischen Frieden, keine Abmachung imperialistischer Mächte über die Teilung der von den Kapitalisten und ihren Regierungen geraubten Beute, sondern einen wirklich dauerhaften und demokratischen Frieden, der ohne die proletarische Revolution in einer Reihe von Ländern nicht erreicht werden kann. 7. In Rußland ist der Sieg des Proletariats in der allernächsten Zeit nur unter der Bedingung möglich, daß die Arbeiter von Anfang an durch den Kampf der gewaltigen Mehrheit der Bauernschaft um die Konfiskation des gesamten gutsherrlichen Grundbesitzes (und um die Nationalisierung des gesamten Bodens, wenn man annimmt, daß das Agrarprogramm der „104“ [1] seinem Wesen nach das Agrarprogramm der Bauernschaft geblieben ist) unterstützt werden. 8. Im Zusammenhang mit einer solchen Bauernrevolution und auf ihrem Boden kann und muß das Proletariat im Bündnis mit dem armen Teil der Bauernschaft weitere Schritte unternehmen, die auf die Kontrolle der Produktion und der Verteilung der wichtigsten Produkte, auf die Einführung der „allgemeinen Arbeitspflicht“ usw. gerichtet sind. Diese Schritte werden mit gebieterischer Notwendigkeit von den Verhältnissen diktiert, die der Krieg geschaffen hat und die sich in der Nachkriegszeit in vieler Beziehung sogar noch zuspitzen werden; in ihrer Gesamtheit und in ihrer Entwicklung aber würden sie den Übergang zum Sozialismus bedeuten, der in Rußland nicht unmittelbar, mit einem Schlag, ohne Übergangsmaßnahmen verwirklicht werden kann, aber als Resultat solcher Übergangsmaßnahmen durchaus realisierbar und überaus notwendig ist. 9. Eine besonders dringende Aufgabe ist hierbei die sofortige Schaffung von besonderen Sowjets der Arbeiterdeputierten auf dem Lande, d.h. von Sowjets der landwirtschaftlichen Lohnarbeiter, getrennt von den Sowjets der übrigen Bauerndeputierten.

Das ist in Kürze das von uns vorgeschlagene Programm; es beruht auf einer Analyse der Klassenkräfte der russischen und der Weltrevolution sowie auf den Erfahrungen von 1871 und 1905.

Versuchen wir jetzt, dieses Programm in seiner Gesamtheit zu betrachten und gehen wir zugleich kurz darauf ein, wie K. Kautsky, der bedeutendste Theoretiker der „Zweiten“ Internationale (1889-1914) und prominenteste Vertreter der in allen Ländern zu beobachtenden Richtung des zwischen den Sozialchauvinisten und den revolutionären Internationalisten schwankenden „Zentrums“, des „Sumpfes“, an dieses Thema herangeht. Kautsky behandelt dieses Thema in seiner Zeitschrift Die Neue Zeit (in der Nummer vom 6. April 1917 neuen Stils), in dem Artikel Die Aussichten der russischen Revolution.

„Vor allem“, schreibt Kautsky, „müssen wir uns klarwerden über die Aufgaben, die einem revolutionären proletarischen Regime ‚erstehen‘.“

„Zwei Dinge sind es“, fährt der Autor fort, „die das Proletariat dringend braucht: Demokratie und Sozialismus.“

Diesen völlig unanfechtbaren Satz stellt Kautsky leider in einer viel zu allgemeinen Form auf, so daß er im Grunde genommen nichts sagt und nichts erklärt. Miljukow und Kerenski, Mitglieder einer bürgerlichen und imperialistischen Regierung, würden diesen allgemeinen Satz gern unterschreiben, der eine in seinem ersten, der andere in seinem zweiten Teil ... [2]

 

Anmerkungen

1. Bei dem Agrarprogramm des „104“ handelt es sich um das „Grundlagenentwurf“ für ein Agrargesetz, der mit den Unterschriften von 104 Bauernabgeordneten am 23. Mai (5. Juni) 1906 in der 1 Duma vorgelegt wurden. Der Entwurf enthielt folgende Forderungen: Bildung eines allgemeinen Volksfonds aus Staats-, Apanage-, Kabinetts- und Klosterländereien und auch aus privaten Gutsländereien, wenn die Größe des Besitzes die festgelegte Arbeitsnorm übersteigt; das Nutzungsrecht am Boden sollte nur denjenigen gewährt werden, die ihn selbst bearbeiten. Für enteignete Privatländereien war eine Entschädigung vorgesehen. Die Durchführung der Bodenreform sollte örtlichen Bauernkomitees übertragen werden, die auf völlig demokratischer Grundlage zu wählen sein würden. Lenin bezeichnete den Entwurf der „104“ als eine „revolutionäre Agrarvorlage“. (Siehe W.I. Lenin, Werke, Bd.23, S.385).

2. Hier bricht das Manuskript ab.

 


Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008