Wladimir I. Lenin

 

Über die Bedeutung des streitbaren Materialismus

(12. März 1922)


Erstmals erschienen in: Pod Snamenem Marxisma, Nr. 3, März 1922.
Unterschrift: N. Lenin.
W. I. Lenin, Sochineniia (Werke), Moskau 1941, Bd. 33, S. 213– 23.
W. I. Lenin, Ausgewählte Werke, Moskau 1987, S. 663–671.
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Über die allgemeinen Aufgaben der Zeitschrift Pod Snamenem Marxisma [1] hat Gen. Trotzki in Heft 1/2 schon alles Wesentliche gesagt und es ausgezeichnet gesagt. Ich möchte auf einige Fragen eingehen, die Inhalt und Programm der Arbeit näher bestimmen, welche sich die Redaktion der Zeitschrift in ihrem Geleitwort zu Heft 1/2 zum Ziel gesetzt hat.

In diesem Geleitwort heißt es, nicht alle, die sich um die Zeitschrift Pod Snamenem Marxisma vereinigt haben, seien Kommunisten, doch alle seien konsequente Materialisten. Ich denke, dass dieses Bündnis von Kommunisten und Nichtkommunisten unbedingt notwendig ist und die Aufgaben der Zeitschrift richtig bestimmt. Einer der größten und gefährlichsten Fehler von Kommunisten (wie überhaupt von Revolutionären, die erfolgreich den Anfang einer großen Revolution vollbracht haben) ist die Vorstellung, dass eine Revolution von Revolutionären allein durchgeführt werden könne. Umgekehrt, für den Erfolg jeder ernsten revolutionären Arbeit ist es notwendig, zu begreifen und für die Praxis als Richtschnur zu nehmen, dass Revolutionäre lediglich als Avantgarde einer wirklich lebensfähigen und fortschrittlichen Klasse ihre Rolle spielen können. Die Avantgarde erfüllt nur dann die Aufgaben einer Avantgarde, wenn sie es versteht, sich von der unter ihrer Führung stehenden Masse nicht loszulösen, sondern die ganze Masse wirklich vorwärtszuführen. Ohne ein Bündnis mit Nichtkommunisten auf den verschiedenartigsten Tätigkeitsgebieten kann von einem erfolgreichen kommunistischen Aufbau keine Rede sein.

Das bezieht sich auch auf die Arbeit, die sich die Zeitschrift Pod Snamenem Marxisma zum Ziel gesetzt hat – auf die Verteidigung des Materialismus und Marxismus. Die Hauptrichtungen des fortschrittlichen gesellschaftlichen Denkens Russlands haben glücklicherweise eine wohlfundierte materialistische Tradition. Von G. W. Plechanow [2] ganz zu schweigen, genügt es, Tschernyschewski [3] zu nennen, demgegenüber die Volkstümler unserer Zeit (die Volkssozialisten [4], Sozialrevolutionäre u. dgl. m.) nicht selten zurückgegangen sind, weil sie reaktionären philosophischen Moderichtungen nachjagten und sich vom Flitterglanz des angeblich „letzten Wortes“ der europäischen Wissenschaft täuschen ließen, unfähig, hinter diesem Flitterglanz die eine oder andere Spielart des Lakaientums vor der Bourgeoisie und ihren Vorurteilen, vor dem reaktionären Geist der Bourgeoisie zu erkennen.

Jedenfalls gibt es bei uns in Russland noch Materialisten aus dem Lager der Nichtkommunisten – und es wird sie zweifellos noch ziemlich lange geben –, und unsere unbedingte Pflicht ist es, alle Anhänger des konsequenten und streitbaren Materialismus im Kampf gegen die philosophische Reaktion und gegen die philosophischen Vorurteile der sogenannten „gebildeten Gesellschaft“ zu gemeinsamer Arbeit heranzuziehen. Dietzgen [5] der Ältere, den man nicht mit seinem Sohn, einem ebenso anmaßenden wie erfolglosen Literaten verwechseln darf, brachte die Grundauffassung des Marxismus von den philosophischen Richtungen, die in den bürgerlichen Ländern herrschen und unter ihren Gelehrten und Publizisten Ansehen genießen, richtig, treffend und klar zum Ausdruck, als er sagte, dass die Professoren der Philosophie in der modernen Gesellschaft in der Mehrzahl der Fälle tatsächlich nichts anderes sind als „diplomierte Lakaien der Pfafferei“.

Unsere russischen Intellektuellen, die sich – wie übrigens auch ihre Kollegen in allen übrigen Ländern – sehr gern für fortschrittliche Leute halten, lieben es durchaus nicht, wenn die Behandlung der Frage in die durch Dietzgens Urteil angegebene Richtung gelenkt wird. Und zwar lieben sie es deshalb nicht, weil ihnen die Wahrheit ein Dorn im Auge ist. Es genügt, ein wenig über die staatliche, ferner die allgemein-ökonomische, die soziale und jeder Art sonstige Abhängigkeit der Gebildeten unserer Zeit von der herrschenden Bourgeoisie nachzudenken, um die absolute Richtigkeit der scharfen Charakteristik Dietzgens zu begreifen. Man braucht sich nur an die übergroße Mehrzahl der in den europäischen Ländern so häufig auftauchenden philosophischen Moderichtungen zu erinnern, angefangen beispielsweise mit denen, die an die Entdeckung des Radiums anknüpften, bis zu denen, die sich heute an Einstein zu klammern suchen, um eine Vorstellung von dem Zusammenhang zu bekommen, der zwischen den Klasseninteressen und der Klassenstellung der Bourgeoisie sowie der Unterstützung, die sie jeglichen Formen der Religion gewährt, und dem Ideeninhalt der philosophischen Moderichtungen besteht.

Aus dem Gesagten ist ersichtlich, dass eine Zeitschrift, die ein Organ des streitbaren Materialismus sein will, erstens ein Kampforgan im Sinne der unentwegten Entlarvung und Verfolgung aller modernen „diplomierten Lakaien der Pfafferei“ sein muss, einerlei, ob diese als Repräsentanten der offiziellen Wissenschaft oder als Freischärler auftreten, die sich „demokratisch-radikale oder idealsozialistische“ Publizisten nennen.

Eine solche Zeitschrift muss zweitens ein Organ des streitbaren Atheismus sein. Wir haben Behörden oder zumindest staatliche Einrichtungen, die für diese Arbeit zuständig sind. Sie wird jedoch äußerst träge, äußerst unbefriedigend geleistet, da sich offenbar der Druck der allgemeinen Verhältnisse unseres echt russischen (obzwar sowjetischen) Bürokratismus auf sie auswirkt. Es ist daher außerordentlich wichtig, dass in Ergänzung der von den entsprechenden staatlichen Einrichtungen geleisteten Arbeit, zur Korrektur und Belebung dieser Arbeit eine Zeitschrift, die ein Organ des streitbaren Materialismus werden will, unermüdlich atheistische Propaganda treibt und für den Atheismus kämpft. Die gesamte einschlägige Literatur in allen Sprachen muss aufmerksam verfolgt und alles, was auf diesem Gebiet von irgendwelchem Wert ist, übersetzt oder mindestens besprochen werden.

Engels hat den Führern des modernen Proletariats schon vor langer Zeit den Rat gegeben, die kämpferische atheistische Literatur vom Ende des 18. Jahrhunderts zur Massenverbreitung unter dem Volk zu übersetzen. [6] Zu unserer Schande haben wir dies bisher noch nicht getan (einer von den zahlreichen Beweisen dafür, dass es viel leichter ist, in einer revolutionären Epoche die Macht zu erobern, als diese Macht richtig zu gebrauchen). Zuweilen will man diese unsere Trägheit, Untätigkeit und Ungeschicktheit mit allerhand „tiefgründigen“ Erwägungen rechtfertigen, zum Beispiel damit, dass die alte atheistische Literatur des 18. Jahrhunderts veraltet, unwissenschaftlich, naiv usw. sei. Es gibt nichts Schlimmeres als dergleichen pseudowissenschaftliche Sophismen, hinter denen sich entweder Pedanterie oder ein vollkommenes Unverständnis für den Marxismus verbirgt. Natürlich finden sich in den atheistischen Schriften der Revolutionäre des 18. Jahrhunderts nicht wenig unwissenschaftliche und naive Dinge. Aber niemand hindert die Herausgeber dieser Schriften daran, sie zu kürzen und ihnen kurze Nachworte beizugeben, in denen auf den Fortschritt, den die Menschheit seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in der wissenschaftlichen Kritik der Religion gemacht hat, auf die entsprechenden neuesten Werke usw. hingewiesen wird. Es wäre der größte und schlimmste Fehler, den ein Marxist begehen kann, zu glauben, die Millionenmassen des Volkes (besonders der Bauern und Handwerker), die von der ganzen modernen Gesellschaft zu geistiger Finsternis, Unwissenheit und Befangenheit in Vorurteilen verdammt sind, könnten aus dieser Finsternis nur auf dem geraden Weg rein marxistischer Aufklärung herauskommen. Diese Massen muss man in der atheistischen Propaganda die mannigfaltigsten Kenntnisse vermitteln, man muss sie mit Tatsachen aus den allerverschiedensten Lebensgebieten bekannt machen, muss bald so, bald anders an sie herantreten, um ihr Interesse wachzurufen, muss sie aus dem religiösen Schlaf erwecken, sie von den verschiedensten Seiten her, mit den verschiedensten Methoden aufrütteln u. dgl. m.

Die schlagfertige, lebendige, talentvolle, geistreich und offen die herrschende Pfafferei attackierende Publizistik der alten Atheisten des 18. Jahrhunderts wird zur Aufrüttelung der Menschen aus ihrem religiösen Schlaf fast durchweg tausendmal geeigneter sein als die langweiligen, trockenen, fast niemals durch geschickt ausgewählte Tatsachen erläuterten Wiedergaben des Marxismus, die in unserer Literatur überwiegen und (sagen wir es offen) den Marxismus häufig entstellen. Alle größeren Werke von Marx und Engels liegen bei uns in Übersetzungen vor. Es gibt nicht den geringsten Grund zu der Befürchtung, dass der alte Atheismus und der alte Materialismus bei uns unergänzt bleiben könnten durch die Korrekturen, die Marx und Engels vorgenommen haben. Die Hauptsache – das gerade vergessen unsere vermeintlich marxistischen, in Wirklichkeit aber den Marxismus verunstaltenden Kommunisten zumeist – besteht darin, dass man es verstehen muss, die noch ganz unentwickelten Massen für eine bewusste Einstellung zu den religiösen Fragen und für eine bewusste Kritik an den Religionen zu interessieren.

Anderseits betrachte man die Vertreter der modernen wissenschaftlichen Religionskritik. Fast stets „ergänzen“ diese Vertreter der gebildeten Bourgeoisie ihre eigene Widerlegung der religiösen Vorurteile durch Argumente, die sie sogleich als ideelle Sklaven der Bourgeoisie, als „diplomierte Lakaien der Pfafferei“ entlarven.

Zwei Beispiele: Professor R. J. Wipper gab 1918 ein Büchlein Der Ursprung des Christentums (Verlag „Pharos“, Moskau) [7] heraus. Der Verfasser berichtet zwar über die wichtigsten Erkenntnisse der modernen Wissenschaft, führt jedoch nicht nur keinen Kampf gegen die Vorurteile und den Betrug, diese Waffen, deren sich die Kirche als politische Organisation bedient, er macht nicht nur einen Bogen um diese Fragen, sondern erhebt auch noch den geradezu lächerlichen und im höchsten Grade reaktionären Anspruch, über den beiden „Extremen“, dem idealistischen wie dem materialistischen, zu stehen. Das ist Liebedienerei vor der herrschenden Bourgeoisie, die in der ganzen Welt Hunderte Millionen Rubel von dem den Werktätigen abgepressten Profit zur Unterstützung der Religion verwendet.

Der bekannte deutsche Gelehrte Arthur Drews [8] widerlegt in seinem Buch Die Christusmythe [9] die religiösen Vorurteile und Märchen, er beweist, dass es einen Christus niemals gegeben hat, spricht sich aber am Schluss des Buches für die Religion aus, freilich für eine erneuerte, frisch aufgeputzte, schlau zurechtgemachte Religion, die fähig wäre, „der täglich immer mächtiger anschwellenden naturalistischen Flutwelle“ zu widerstehen (S. 238 der 4. deutschen Auflage, 1910). Hier haben wir es mit einem direkten, bewussten Reaktionär zu tun, der den Ausbeutern unverhüllt hilft, die alten und verfaulten religiösen Vorurteile durch funkelnagelneue, noch widerlichere und niederträchtigere Vorurteile zu ersetzen.

Das bedeutet nicht, dass man Drews nicht übersetzen sollte. Das bedeutet, dass die Kommunisten und alle konsequenten Materialisten, wenn sie bis zu einem gewissen Grade ihr Bündnis mit dem progressiven Teil der Bourgeoisie verwirklichen, diese unentwegt entlarven müssen, sobald sie ins Reaktionäre verfällt. Das bedeutet, dass es Verrat am Marxismus und Materialismus wäre, wenn man ein Bündnis mit den Vertretern der Bourgeoisie des 18. Jahrhunderts, d. h. der Epoche, da diese revolutionär war, verschmähen wollte, denn im Kampf gegen die herrschenden religiösen Dunkelmänner ist es unsere Pflicht, mit den Drews ein „Bündnis“ in dieser oder jener Form, in diesem oder jenem Grade einzugehen.

Die Zeitschrift Pod Snamenem Marxisma, die ein Organ des streitbaren Materialismus sein will, muss der atheistischen Propaganda, der Berichterstattung über die entsprechende Literatur und der Behebung der gewaltigen Mängel unserer staatlichen Tätigkeit auf diesem Gebiet viel Platz einräumen. Besonders wichtig ist es, die Bücher und Broschüren auszuwerten, die viele konkrete Tatsachen und Gegenüberstellungen enthalten, aus denen der Zusammenhang der Klasseninteressen und Klassenorganisationen der modernen Bourgeoisie mit den Organisationen der religiösen Institutionen und der religiösen Propaganda sichtbar wird.

Außerordentlich wichtig sind alle Materialien, die sich auf die Vereinigten Staaten von Nordamerika beziehen, wo der offizielle, amtliche, staatliche Zusammenhang zwischen Religion und Kapital weniger in Erscheinung tritt. Dafür sehen wir dort um so klarer, dass die sogenannte „moderne Demokratie“ (die die Menschewiki, die Sozialrevolutionäre und zum Teil auch die Anarchisten usw. so unvernünftig verherrlichen) nichts anderes darstellt als die Freiheit, das zu predigen, was für die Bourgeoisie vorteilhaft ist, vorteilhaft ist es für sie aber, wenn die reaktionärsten Ideen, die Religion, der Obskurantismus, die Verteidigung der Ausbeuter u. dgl. m. gepredigt werden.

Man darf wohl erwarten, dass die Zeitschrift, die ein Organ des streitbaren Materialismus sein will, unserem Leserpublikum einen Überblick über die atheistische Literatur bieten wird, versehen mit Hinweisen, für welchen Leserkreis und in welcher Hinsicht diese oder jene Schriften geeignet sein könnten, und mit Angabe, was bei uns schon erschienen ist (als bereits erschienen können nur brauchbare Übersetzungen, deren es nicht allzu viele gibt, betrachtet werden) und was noch herausgegeben werden muss.

Nicht minder wichtig, wenn nicht gar noch wichtiger, als das Bündnis mit den konsequenten Materialisten, die nicht der Partei der Kommunisten angehören, ist für die vom streitbaren Materialismus zu leistende Arbeit das Bündnis mit den Vertretern der modernen Naturwissenschaft, die dem Materialismus zuneigen und sich nicht scheuen, ihn entgegen den in der sogenannten „gebildeten Gesellschaft“ herrschenden philosophischen Modeschwankungen zum Idealismus und Skeptizismus zu verfechten und zu propagieren.

Der in Heft 1/2 der Zeitschrift Pod Snamenem Marxisma erschienene Artikel A. Timirjasews über die Relativitätstheorie Einsteins lässt uns hoffen, dass es der Zeitschrift gelingen wird, auch dieses zweite Bündnis zu verwirklichen. Man muss ihm größere Aufmerksamkeit zuwenden. Man muss bedenken, dass gerade aus dem jähen Umbruch, den die moderne Naturwissenschaft durchmacht, unausgesetzt reaktionäre philosophische Schulen und Richtungen, große wie kleine, emporsprießen. Die Fragen, welche die jüngste Revolution auf dem Gebiet der Naturwissenschaft auf wirft, aufmerksam zu verfolgen und hierzu Naturforscher für die Mitarbeit an der philosophischen Zeitschrift zu gewinnen, ist daher eine Aufgabe, ohne deren Lösung der streitbare Materialismus schlechthin weder streitbar noch materialistisch sein kann. Wenn Timirjasew im ersten Heft der Zeitschrift hervorheben musste, dass schon eine Unzahl Vertreter der bürgerlichen Intelligenz in allen Ländern die Theorie Einsteins, der nach Timirjasews Worten persönlich keinerlei aktiven Feldzug gegen die Grundlagen des Materialismus führt, auszuschlachten versucht, so gilt das nicht nur für Einstein allein, sondern für eine ganze Reihe, wenn nicht die Mehrzahl aller großen Neuerer in der Naturwissenschaft seit dem Ende des 19. Jahrhunderts.

Und um einer solchen Erscheinung nicht ratlos gegenüberzustehen, müssen wir begreifen, dass sich ohne eine gediegene philosophische Grundlage keine Naturwissenschaft, kein Materialismus im Kampf gegen den Ansturm der bürgerlichen Ideen und gegen die Wiederherstellung der bürgerlichen Weltanschauung behaupten kann. Um diesen Kampf bestehen und mit vollem Erfolg zu Ende führen zu können, muss der Naturforscher moderner Materialist, bewusster Anhänger des von Marx vertretenen Materialismus sein, das heißt, er muss dialektischer Materialist sein. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die Mitarbeiter der Zeitschrift Pod Snamenem Marxisma das systematische Studium der Dialektik Hegels vom materialistischen Standpunkt aus organisieren, d. h. jener Dialektik, die Marx sowohl in seinem Kapital wie auch in seinen historischen und politischen Schriften praktisch angewandt hat, und zwar mit so viel Erfolg, dass jetzt jeder Tag, da im Osten (Japan, Indien, China) neue Klassen zum Leben und zum Kampf erwachen – d. h. jene Hunderte Millionen der Menschheit, die den größeren Teil der Erdbevölkerung ausmachen und die durch ihre geschichtliche Untätigkeit und ihren geschichtlichen Schlaf bisher den Stillstand und die Fäulnis in vielen fortgeschrittenen Staaten Europas bedingt haben –, dass jeder Tag, da neue Völker und neue Klassen zum Leben erwachen, den Marxismus immer mehr bekräftigt.

Gewiss ist ein solches Studium, eine solche Auslegung und eine solche Propaganda der Hegelschen Dialektik außerordentlich schwierig, und die ersten Versuche in dieser Richtung werden zweifellos mit Fehlern behaftet sein. Aber nur der macht keine Fehler, der nichts tut. Gestützt auf die Marxsche Anwendung der materialistisch aufgefassten Dialektik Hegels, können und müssen wir diese Dialektik nach allen Seiten hin ausarbeiten, in der Zeitschrift Auszüge aus den Hauptwerken Hegels veröffentlichen und sie materialistisch auslegen, indem wir sie durch Musterbeispiele der Anwendung der Dialektik bei Marx kommentieren, ebenso aber auch durch Musterbeispiele der Dialektik auf dem Gebiet der ökonomischen und politischen Verhältnisse, wie sie uns die neueste Geschichte, besonders der moderne imperialistische Krieg und die Revolution, in so ungewöhnlich großer Anzahl bieten. Die Gruppe der Redakteure und Mitarbeiter der Zeitschrift Pod Snamenem Marxisma sollte nach meiner Meinung eine Art „Gesellschaft materialistischer Freunde der Hegelschen Dialektik“ sein. Die modernen Naturforscher werden (wenn sie es verstehen, danach zu suchen, und wir es lernen, ihnen dabei zu helfen) in der materialistisch gedeuteten Dialektik Hegels eine Reihe von Antworten auf die philosophischen Fragen finden, die durch die Revolution in der Naturwissenschaft aufgeworfen werden und bei denen die intellektuellen Anbeter der bürgerlichen Mode zur Reaktion „abgleiten“.

Stellt man sich eine solche Aufgabe nicht und arbeitet man nicht systematisch an ihrer Lösung, so kann der Materialismus kein streitbarer Materialismus sein. Er wird, um einen Ausdruck Stschedrins zu gebrauchen, sich nicht so sehr schlagen als vielmehr geschlagen werden. [10] Ohne eine solche Aufgabenstellung werden die großen Naturforscher auch künftig ebenso häufig wie bisher in ihren philosophischen Schlussfolgerungen und Verallgemeinerungen hilflos sein. Denn die Naturwissenschaft schreitet so schnell voran, macht eine Periode so tiefgehenden revolutionären Umbruchs auf allen Gebieten durch, dass sie ohne philosophische Schlussfolgerungen unter keinen Umständen auskommen kann.

Zum Schluss möchte ich noch ein Beispiel anführen, das zwar nicht das Gebiet der Philosophie, aber doch jedenfalls das Gebiet der gesellschaftlichen Fragen betrifft, denen die Zeitschrift Pod Snamenem Marxisma ebenfalls Beachtung schenken will.

Es ist eines von den Beispielen dafür, wie die moderne Quasi-Wissenschaft in Wirklichkeit als Schrittmacher der krassesten und niederträchtigsten reaktionären Anschauungen dient.

Unlängst erhielt ich die Zeitschrift Ekonomist [11], Nr. 1 (1922), zugesandt, die von der XI. Abteilung der „Russischen Technischen Gesellschaft“ herausgeben wird. Der junge Kommunist, der mir diese Zeitschrift zusandte (und der wahrscheinlich keine Zeit hatte, sich mit ihrem Inhalt bekannt zu machen), sprach sich über die Zeitschrift unvorsichtigerweise außerordentlich lobend aus. In Wirklichkeit stellt diese Zeitschrift – ich weiß nicht, inwieweit bewusst – ein Organ moderner Anhänger der Leibeigenschaft dar, die sich natürlich in die Toga der Wissenschaftlichkeit, des Demokratismus u. dgl. m. hüllen.

Ein gewisser Herr P. A. Sorokin [12] veröffentlicht in dieser Zeitschrift weitschweifige, angeblich „soziologische“ Untersuchungen Über den Einfluss des Krieges. Der gelehrte Artikel strotzt von gelehrten Hinweisen auf die „soziologischen“ Werke des Verfassers und seiner zahlreichen ausländischen Lehrer und Kollegen. Seine Gelehrtheit sieht so aus:

Auf Seite 83 lese ich:

„Auf 10.000 Ehen in Petrograd kommen gegenwärtig 92,2 Ehescheidungen – eine phantastische Zahl, wobei von 100 geschiedenen Ehen 51,1 weniger als ein Jahr dauerten, 11 Prozent hatten eine Dauer von nicht einmal einem Monat, 22 Prozent von weniger als zwei Monaten, 41 Prozent von weniger als drei bis sechs Monaten und nur 26 Prozent von über sechs Monaten. Diese Zahlen besagen, dass die moderne gesetzliche Ehe die Form ist, die dem Wesen nach außereheliche geschlechtliche Beziehungen verbirgt und Liebhabern ‚galanter Abenteuer‘ die Möglichkeit gibt, mit gesetzlichem Segen ihren Gelüsten zu frönen.“ (Ekonomist, Nr. 1, S. 83.)

Sicher rechnen sich sowohl dieser Herr als selbst auch die „Russische Technische Gesellschaft“, die die Zeitschrift herausgibt und derartige Betrachtungen veröffentlicht, zu den Verfechtern der Demokratie und betrachten es als schwere Beleidigung, wenn man sie als das bezeichnet, was sie in Wirklichkeit sind, nämlich als Anhänger der Leibeigenschaft, als Reaktionäre, als „diplomierte Lakaien der Pfafferei“.

Die oberflächlichste Bekanntschaft mit der Gesetzgebung der bürgerlichen Länder über Ehe, Scheidung und uneheliche Kinder wie auch mit der wahren Lage der Dinge in dieser Hinsicht zeigt jedem, der sich für diese Frage interessiert, dass sich die moderne bürgerliche Demokratie selbst in den demokratischsten bürgerlichen Republiken in dieser Beziehung gerade als Fürsprecherin der Leibeigenschaft gegenüber der Frau und den unehelichen Kindern erweist.

Das hindert die Menschewiki, die Sozialrevolutionäre und einen Teil der Anarchisten sowie alle entsprechenden Parteien des Westens natürlich nicht, mit ihrem Geschrei über die Demokratie und deren Verletzung durch die Bolschewiki fortzufahren. In Wirklichkeit stellt gerade die bolschewistische Revolution in Fragen wie der Ehe, der Ehescheidung und der Lage der unehelichen Kinder die einzige konsequent demokratische Revolution dar. Das ist aber eine Frage, die unmittelbar die Interessen der größeren Bevölkerungshälfte in jedem Lande berührt. Erst die bolschewistische Revolution hat, trotz der großen Zahl der vorangegangenen und sich demokratisch nennenden bürgerlichen Revolutionen, in dieser Beziehung zum erstenmal einen entschiedenen Kampf geführt, und zwar sowohl gegen die reaktionären und leibeigenschaftlichen Zustände als auch gegen die übliche Heuchelei der herrschenden und besitzenden Klassen.

Wenn dem Herrn Sorokin 92 Ehescheidungen auf 10.000 Ehen eine phantastische Zahl zu sein scheinen, so bleibt uns nur die Annahme übrig, dass der Verfasser entweder in einem vom Leben so abgeschlossenen Kloster gelebt hat und erzogen worden ist, dass wohl kaum jemand an die Existenz eines solchen Klosters glauben wird, oder dass dieser Verfasser die Wahrheit zugunsten der Reaktion und der Bourgeoisie verfälscht. Wer auch nur einigermaßen mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in den bürgerlichen Ländern vertraut ist, der weiß, dass die faktische Zahl der faktischen (natürlich nicht von der Kirche und dem Gesetz sanktionierten) Ehescheidungen überall unvergleichlich höher ist. Russland unterscheidet sich in dieser Hinsicht von den anderen Ländern lediglich dadurch, dass seine Gesetze die Heuchelei und die rechtlose Lage der Frau und ihres Kindes nicht sanktionieren, sondern offen und im Namen der Staatsmacht jeder Heuchelei und jeder Rechtlosigkeit den systematischen Krieg erklären.

Eine marxistische Zeitschrift wird auch gegen die modernen „gebildeten“ Anhänger der Leibeigenschaft dieser Sorte Krieg führen müssen. Wahrscheinlich bezieht bei uns ein nicht geringer Teil dieser Leute sogar Staatsgelder und steht im Staatsdienst, um die Jugend aufzuklären, obwohl sie dazu nicht mehr taugen, als notorische Kinderschänder in der Rolle von Erziehern an Schulen für die unterste Altersstufe taugen würden.

Die Arbeiterklasse Russlands hat es vermocht, die Macht zu erobern, aber es noch nicht gelernt, sie zu gebrauchen, denn sonst hätte sie derartige Lehrer und Mitglieder gelehrter Gesellschaften schon längst aufs höflichste in die Länder der bürgerlichen „Demokratie“ hinauskomplimentiert. Dort ist für solche Leibeigenschaftsapostel gerade der richtige Platz.

Sie wird es lernen, wenn sie nur will.

12.III.1922

Anmerkungen

1. Pod Snamenem Marxisma [Unter dem Banner des Marxismus], eine philosophische und ökonomische Monatszeitschrift, erschien in Moskau von Januar 1922 bis Juni 1944.

2. Georgi Walentinowitsch Plechanow (1856–1918), Gründer des russischen Marxismus. Nach der Revolution 1905 bewegte er sich zunehmend nach rechts. Während des 1. Weltkriegs wurde er „Vaterlandsvereteidiger“ und in 1917 stellte er sich gegen die Revolution. Trotz dieser Entwicklung galt er für Lenin und die Bolschewiki immer noch als wichtige Autorität in theoretischen Fragen.

3. Nikolaj Gawrilowitsch Tschernyschewski (1828–89), russischer materialistischer Philosoph.

4. Volksozialisten: Mitglieder der „kleinbürgerlichen“ Partei der Volkssozialisten, die 1906 aus dem rechten Flügel der Partei der Sozialrevolutionäre hervorging.

5. Josef Dietzgen (1828–1888), deutscher sozialistischer Denker, der weitgehend unabhängig von Marx und Engels die Grundzüge des historischen und dialektischen Materialismus entwickelte.

6. Siehe Friedrich Engels, Programm der blanquistischen Kommuneflüchtlinge, (Flüchtlingsliteratur II), 1874.

7. Robert Jurewitsch Wipper (1859–1954), Wosniknowenie christianstwa (Возниковеие христианства), Moskau 1918.

8. Arthur Drews (1865–1935), deutscher Philosoph, schrieb viele religionskritischen Bücher.

9. Arthur Drews, Die Christusmythe, Jena 1911, 2 Bde. – Bd. 2: Spezialtitel: Die Zeugnisse für die Geschichtlichkeit Jesu.

10. Michail Jewgrafowitsch Saltykow-Stschedrin (1826–1889), Die Geschichte einer Stadt (1869).

11. Ekonomist, Zeitschrift der Industrie- und Wirtschaftsabteilung der Russischen Technischen Gesellschaft (sowjetfeindlich), erschien in Petrograd von Dezember 1921 bis Juni 1922.

12. Pitirim Alexandrovitch Sorokin (1889–1968): amerikanischer Soziologe russischer Herkunft, neben journalistischer und politischer Tätigkeit (in der Regierung Kerenskij) Professor in Petrograd, nach der Emigration (1922) an der University of Minnesota (1924–1930) und ab 1930 an der Harvard University.


Zuletzt aktualisiert am 12. April 2017