Karl Liebknecht

 

Militarismus und Antimilitarismus

 

Zweiter Teil
Antimilitarismus

 

IV. Antimilitaristische Taktik

 

An und für sich ist der Antimilitarismus nichts Proletarisch-Revolutionäres, sowenig wie der Militarismus etwas spezifisch Bürgerlich-Kapitalistisches ist. Es braucht aus der Vergangenheit nur zum Beispiel au die russischen Dekabristen und an den bürgerlich- nationalistischen Soldatenkatechismus Ernst Moritz Arndts aus dem September 1812 erinnert zu werden, der die Soldaten offen zum Aufruhr gegen die vaterlandsverräterischen Fürsten aufruft. Aus der neuesten Zeit bildet dafür einen schlagenden Beleg die russische Revolution. Wir haben uns indessen hier auf den Antimilitarismus in den kapitalistischen Staaten zu beschränken.

 

1. Taktik gegen den äußeren Militarismus [1]

Das letzte Ziel des Antimilitarismus ist die Beseitigung des Militarismus, das heißt: Beseitigung des Heeres in jeder Form, mit der dann notwendig alle die gekennzeichneten sonstigen Erscheinungen des Militarismus fallen, die sich im Grunde nur als Nebenwirkungen der Existenz des Heeres darstellen. Der Mantel fällt, der Herzog muß nach.

Dieses Ziel würde auch das Proletariat nur unter der Voraussetzung sofort verwirklichen dürfen, daß ein internationaler Zustand besteht, in dem jede Notwendigkeit, das Heer im Interesse des Proletariats zu verwenden, ausgeschlossen ist, wobei die Interessen des Proletariats den nationalen Interessen keineswegs. zu widersprechen brauchen.

Die Notwendigkeit des Heerwesens auch für den Kapitalismus könnte, logisch betrachtet, beseitigt werden durch Beseitigung der Konfliktsmöglichkeiten oder durch gleichmäßige internationale Wehrlosmachung.

Die Beseitigung der Konfliktsmöglichkeiten hieße vor allem Beseitigung der Expansionspolitik, die, wie an anderer Stelle erwähnt, in einer Vertrustung des Erdballs unter die Großmächte möglicherweise dereinst ihren natürlichen Abschluß finden wird; es hieße auch, was jedoch am letzten Ende das nämliche wäre: Schaffung eines Weltbundesstaates.

Daß ist aber vorläufig romantische Zukunftsmusik; alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß die Weltpolitik diesen ihren „Beharrungszustand“ nicht erreichen wird, bevor das Proletariat sein Endziel verwirklicht und seine Weltpolitik an Stelle der kapitalistischen gesetzt haben wird.

Und mit der internationalen Wehrlosmachung liegt es noch schlimmer. Sie bedeutet nicht nur ein Aufgeben des militärischen Wettrennens durch alle Militärstaaten und damit einen Verzicht auf die Gewinnchancen, die der eine oder der andere gerade der mächtigsten und auf das Zustandekommen einer solchen Wehrlosmachung einflußreichsten Staaten hat oder zu haben glaubt (daher der Vermittelungsvorschlag der verhältnismäßigen Kontingentierung der einzelnen Armeen!); sie bedeutet außerdem nicht mehr und nicht weniger als eine Preisgabe derjenigen internationalen Interessen, die die herrschenden Lassen, den Kapitalismus, zum Appell an die ultima ratio regum (das letzte Mittel der Könige) veranlassen könnten, das heißt aber gerade solcher Interessen, die vom Kapitalismus für höchst wichtig, ja für Lebensinteressen gehalten werden, besonders der Expansionspolitik. Der Glaube, daß all dies unter der Herrschaft des Kapitalismus vor Erreichung jenes natürlichen weltpolitischen Beharrungszustandes durchgesetzt wer- den könne, ist ein wahrer Köhlerglaube. Gewiß verstärkt sich der antiweltpolitische, weltbundesfreundliche Einfluß des Proletariats auf die äußere Politik auch in zurückgebliebenen Ländern mehr und mehr und mag zur Abschwächung der Kriegsgefahren, zur Friedhaftmachung der Weltpolitik beitragen; aber die Steigerung des proletarischen Einflusses steigen auch die Gefahr bonapartistischer Kunststücke, so daß zweifelhaft sein mag, ob auch nur die Summe der Kriegsmöglichkeiten vermindert wird, von ihrer Beseitigung aber keine Rede sein kann.

Eine Tendenz zur Herbeiführung internationaler gleichmäßiger Wehrlosmachung kann auch der Antimilitarismus sein, wenn es ihm gelingt, die tatsächlich vorhandenen Heere aktionsunfähig zu machen oder wenigstens ihre Aktionsfähigkeit zu lähmen. Hervé fordert, dies ist der Kern seiner Ideen, daß auf diese Lähmung um jeden Preis hingearbeitet werde. Gegen die Realisierbarkeit dieses Planes sind viele mehr oder weniger stichhaltige Einwendungen erhoben worden, darunter wohl die ernsteste, die aber den Vorschlag einer Kombination von Wehrlosmachung und Revolution nicht trifft: Eine völlige internationale Verwirklichung, eine gänzliche allgemeine Wehrlosmachung könne nicht erzielt werden – finden sich doch sogar in den fortgeschrittensten Ländern schon bei Streiks fast stets zahlreiche Streikbrecher! –; gerade die zivilisierten Mächte würden verhältnismäßig am stärksten geschwächt und so zur willkommenen Beute niederer Kulturen werden.

Aber die Hervésche Idee ist auch grundsätzlich nur dann annehmbar, wenn das Proletariat unter keinen Umständen und in keinem Falle ein Interesse an der Wehrhaftigkeit des Volkes besitzt. Und darum dreht sich folgerichtig der Hauptstreit, in dem der „realpolitische“ Standpunkt Kautskys, der sich zutreffend mit der äußerlichen und irreführenden Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg nicht begnügt, vor dem verstiegenen, die praktische Lage verkennenden Antipatriotismus der Yonne-Föderation unbedenklich den Vorzug verdient: Bis der wirtschaftliche und soziale Beharrungszustand, den die Sozialdemokratie erstrebt, die Aufhebung des Klassencharakters der Gesellschaft, international verwirklicht ist, gibt es Kriegsmöglichkeiten, denen sich auch die Sozialdemokratie, oder gerade die Sozialdemokratie, nicht verschließen kann. Selbstverständlich sind, wie oben berührt, die regelmäßigen Kriegsursachen im Zeichen des Kapitalismus so geartet, daß das Proletariat mit ihnen nichts zu schaffen, sie vielmehr aufs schärfste zu bekämpfen hat. Unrichtig ist es freilich zu glauben, daß alle Kriege Aktionen gegen das Proletariat darstellten. Im bonapartistischen Sinn ist das wohl möglich; und ein bißchen Bonapartismus mag wohl auch „allweil dabeisein“. Aber das Wesentliche der weltpolitischen Kriegsursachen ist in der Regel: Kampf um die Beute, um den Profit zwischen den Kapitalistenklassen der Weltmächte. Natürlich kann es infolge und im Verlaufe solcher Kriege zu Aufständen, zu Revolutionen kommen und jeder der Kriegsmächte die Notwendigkeit aufgezwungen werden, die Waffen gegen das eigene Proletariat zu kehren, und damit auch eine Interessensolidarität der herrschenden Klassen der kriegführenden Mächte gegen das Proletariat dieser Mächte zustande kommen: Das wird dann aber meist eine Tendenz zur Beendigung des Krieges auslösen. Und ebenso natürlich ist, daß jeder glückliche Krieg aus kapitalistischen Motiven, ob bezweckt oder nicht, bonapartistische Wirkungen zeitigt, während bei ungünstigen Verlauf der sicheren kulturellen Schädigung allerdings die Chance eines Zusammenbruchs der kapitalistischen Reaktion gegenübersteht. So ist für das Proletariat ein außerordentlich starker Antrieb zur Aktion gegen den Krieg gegeben, und es erscheint nur allzu begreiflich und fast rühmlich, wenn hier oder da in der Bekämpfung des Krieges über das Ziel hinausgeschossen wird. Als Erwecker und Anreger hat auch der Hervéismus eine wertvolle Mission zu erfüllen und auch schon erfüllt.

Wir müssen zunächst je nach der Art des Krieges unterscheiden. „Distinguo!“ gilt. Danach wird sich richten, in welchen Fällen die Wehrlosmachung grundsätzlich angestrebt werden kann. Natürlich ist die Frage der grundsätzlichen Stellung zum Krieg von höchster praktischer Wichtigkeit und keineswegs eine theoretische Spintisiererei. Sie entscheidet sich auch nicht etwa von selbst, wenn ein konkreter Fall vorliegt; im Gegenteil: Gerade ein solcher konkreter Fall bringt mit der Erregtheit der Situation gar leicht eine Tendenz zur Verwirrung der klaren Einsicht. In Deutschland mahnen die Vorgänge, die sich bei Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges und des Hereroaufstandes innerhalb der Partei abspielten, zur Vorsicht, zur rechtzeitigen prinzipiellen Klärung.

Weiter ist in jedem einzelnen Fall neben der Frage, was grundsätzlich erwünscht, zu prüfen, was praktisch erreichbar ist. Und auch hier ist Hervé von gefährlichen Illusionen durchdrungen. Zum Generalstreik und Militärstreik gegen jeden der Arbeiterklasse schädlichen Krieg ist die Zeit noch nicht reif. Hervé ruft: Energische antimilitaristische und antipatriotische Agitation, und der Berg wird zu Mohammed kommen! Hier schillert er anarchistisch. Wir müssen sagen: Das Proletariat ist in seiner überwiegenden Masse noch nicht klassenbewußt, noch nicht sozialdemokratisch aufgeklärt, geschweige denn in jedem Fall für jene antipatriotische Aktion zu haben, die ebensoviel Opferwilligkeit und kalten Mut wie Besonnenheit im Strudel der leidenschaftlichsten chauvinistischen Brandung heischt. Ein voller Erfolg ist nicht zu erzielen; das Maß des Erfolges, der Wehrlosmachung, wird im direkten Verhältnis zu dem Maße an Schulung und Bildung stehen, deren die Arbeiterklasse jedes Landes teilhaftig ist: Das rückständigste Volk bleibt am wehrhaftesten. Eine Aktion dieser Art wäre so lange eine Prämie auf kulturelle Rückständigkeit, als nicht die Schulung und Kampfbereitschaft der großen Masse des Proletariats in den vom Kriege betroffenen Ländern fast gleichmäßig aufs höchste gesteigert ist. Organisation und allgemeine revolutionäre Aufklärung der Arbeiterschaft sind die Vorbedingungen für einen erfolgreichen General- und Militärstreik im Falle eines Krieges. Die bloße antimilitaristische Propaganda dazu zu verwenden wäre Phantastik.

Hier liegt’s in der Tat für den Normalfall so: Wenn das Proletariat erst so weit ist, solche Aktionen durchführen zu können, ist es weit genug, sich die politische Macht zu erobern. Denn ungünstigere Verhältnisse zur Entfaltung der proletarischen Macht, als sie beim Kriegsausbruch normalerweise vorliegen, gibt es nicht.

Und was den Hervéschen Plan anlangt, den Militärstreik mit der Insurrektion, also dem Versuch einer Eroberung der politischen Macht und mit eigener Wehrhaftmachung der Revolution zu verbinden, so wäre er zwar rein logisch nicht jene Prämie auf die kulturelle Rückständigkeit. Er brauchte an sich – soweit das bei einer sozialen Revolution überhaupt möglich ist – nur nach der nationalen Realisierbarkeit zu fragen, nicht, wie der bloße Militär- und Generalstreik, nach der internationalen. Diese nationale Verwirklichungsmöglichkeit steht aber zunächst im direkten Verhältnis zur Entwicklung des Proletariats und dem Grad der politischen, sozialen und ökonomischen Spannung, unter der es lebt. Und dieser Druck wirkt wiederum, je nach seinem Maß und seinem Verhältnis zur wirtschaftlichen und geistig-politischen Entwicklung des Proletariats, fördernd oder hemmend, so daß in Ländern mit mäßigem Druck, trotz hoher proletarischer Entwicklung – zum Beispiel England – nicht mehr zu erzielen sein würde wie in Gebieten mit hohem Druck und niedriger proletarischer Entwicklung – zum Beispiel den ländlichen und den vorwiegend katholischen Industriegebieten Deutschlands. Was für Frankreich, Belgien und die Schweiz praktikabel sein mag, ist es noch längst nicht für Deutschland. Und eine bloße antimilitaristische Propaganda kann das Manko gewiß nicht ersetzen, wenn sie auch zur Erweckung des Klassenbewußtseins vortrefflich geeignet sein mag. Weiter ist aber einzuwenden: Auch Insurrektionen können nicht gemacht werden. Daß jeder Krieg, oder auch nur jeder Krieg, den das Proletariat verdammt, der ihm schädlich ist, ohne weiteres selbst bei energischster Agitation die Masse des Volkes, selbst des am besten disponierten Volkes, geschweige denn aller kapitalistisch ausgebeuteten Völker, zu dem revolutionären Glutfieber erhitzen werde, das Voraussetzung einer erfolgreichen Revolte wäre, kann verständige, besonnene Überlegung nicht annehmen. Der Krieg ist ein Faktum, das nirgends so regelmäßig auftritt wie der Konflikt mit dem innerpolitischen Militarismus, sondern im allgemeinen nur eine den Massen mehr theoretisch zum Bewußtsein kommende Gefahr darstellt. Er ist auch keine reine, für die Massen durchsichtige Klassenkampferscheinung, und seine Abhängigkeit von den Aktionen fremder Staaten erschwert die Orientierung ihn und auch den gegen ihn gerichteten Unternehmungen gegenüber.

Hervé unterschätzt auch hier die eminenten Triebkräfte, deren sich eine solche Antikriegsaktion bedienen müßte, will sie nicht lächerlich und gefährlich zugleich verpuffen gleich einer Bombe, die dem, der sie werfen will, in der Tasche platzt.

Es heißt wiederum: Distinguo! Nicht alles über einen Kamm scheren! Gewiß gibt es Kriegsfäule, die die revolutionären Kräfte entfesseln, eine heftige soziale und politische Spannung innerhalb der einzelnen Staaten geradezu schaffen und zur Auslösung bringen: Dazu gehört der praktisch freilich fernliegende Fall einer Intervention in Rußland. Die Einleitung eines solchen Krieges wäre für die westeuropäischen Völker geradezu ein Signal zum Ausbruch des rücksichtslosesten Klassenkampfes, ein Zwang, ein Peitschenhieb zur Erhebung gegen die innere Reaktion, gegen die Knutenanbeter, gegen die schimpflichen Henker eines unglückseligen freiheitsdürstenden Volkes. In der Tat, die Parole Vaillants: Plutöt l’insurrection que la guerre! würde dann im Proletariat aller zivilisierten Länder begeisterten Widerhall finden.

Auch andere Fälle, in denen jene opfermutige Solidarität aus dem Boden gestampft werden könnte, sind schon heute denkbar; zum Beispiel ein Krieg zwischen Schweden und Norwegen. Das ist aber nicht das Normale der Entwicklung, auf das wir doch unsere Taktik grundsätzlich aufzubauen haben. Möglich, daß in absehbarer Zeit auch ein Krieg zwischen Frankreich und Deutschland eine Situation jener Art schaffen würde. An der Sozialdemokratie beider Länder ist es, den Eintritt dieses Zeitpunktes durch revolutionäre Aufklärungsarbeit zu fördern. Natürlich kommt auch viel auf die Kriegsursache an; unverkennbar geben zum Beispiel, trotz aller weltpolitischen Stimmungsmache, die heute besonders aktuellen kolonialen Kriegsanlässe meist nur spärlich Wasser auf die Mühle der Kriegsinteressenten.

Wenn wir uns also auch die absolute Wehrlosmachung vorläufig nur für Ausnahmefälle zum Ziele setzen können, so gibt es doch keine grundsätzlichen und keine praktischen Bedenken gegen die relative Wehrlosmachung, die nur die Tauglichkeit des Heeres zum Angriff mindert. Die Abschaffung des stehenden Heeres und sein Ersatz durch die allgemeine Volksbewaffnung, durch die Miliz, und die damit Hand in Hand gehende, von Gaston Moch fachmännisch dargelegte Herabminderung der Heeresausgaben und Abschwächung aller sonstigen militaristischen Schädlichkeiten [2], das sind Forderungen, die sich ganz folgerichtig das klassenbewußte Proletariat allenthalben auf die Fahne geschrieben hat.

Danach hat es seine guten Gründe, wenn sich die Beschlüsse der internationalen Kongresse, die nur das antimilitaristische Minimumprogramm der Mehrzahl der auf dem Boden der modernen Arbeiterbewegung stehenden Organisationen enthalten, in bezug auf den „Militarismus nach außen“ in Allgemeinheiten bewegen. Nicht minder ist es danach aber auch gerechtfertigt, daß die taktischen Programme der einzelstaatlichen Parteien gegen diese Seite des Militarismus fast allenthalben näherer Spezialisierung entbehren, daß der Kampf gegen ihn sich in der Regel noch in der Arena der allgemeinen Politik abspielt, seinem Ziel durch Beeinflussung der gesamten Gesellschaftsordnung näher zu kommen sucht und nicht so sehr zu einer Spezialisierung der Propaganda treibt. Die Resolution Vaillant des französischen Parteitages von Limoges, die dein Stuttgarter Kongreß vom Jahre 1907 vorgelegt werden soll, ist in ihren Grundzügen gut und brauchbar.

Die Angriffe der Anarchisten, insbesondere Nieuwenhuis’, gegen jene Haltung der Sozialdemokratie sind verfehlt. Mag sie eine gewisse Hilflosigkeit verraten, phrasenhaft ist sie nicht; phrasenhaft und phantastisch ist vielmehr die Haltung derer, die durch Ankündigung unrealisierbarer Unternehmungen dem in dieser Allgemeinheit heute noch unlöslichen taktischen Problem zu Leibe zu geben suchen.

 

 

2. Taktik gegen den inneren Militarismus

Viel einfacher steht es mit dem weit aussichtsreicheren Kampf gegen den „inneren Militarismus“ dessen selbstverständliches Ziel die Wehrlosmachung, und zwar die unbedingte und gründliche Wehrlosmachung der Staatsgewalt, ist und dessen Methode, in höchster Beweglichkeit sich den innerpolitischen Zuständen der einzelnen Länder anpassend, zwischen der langsamen, ruhigen, tiefen Aufklärungsarbeit und dem französischen „Soldats, vous ne tirerez pas!“ liegt.

Dieser Kampf und die Notwendigkeit seiner Spezialisierung drängt sich dem Proletariat besonders dort tagtäglich auf, wo die Verwendung von Militär gegenüber streikenden Arbeitern oder politisch demonstrierenden Proletariern an der Tagesordnung ist. Allenthalben in Frankreich, in Belgien, in Italien, in der Schweiz und in Österreich läßt sich genau nachweisen, wie die spezialisierte antimilitaristische Propaganda ihre besondere Form und Aktualität erhält unter dem Eindruck militärischer Eingriffe in den Klassenkampf selbst. Und das gilt in Frankreich trotz des Hervéismus, dessen große Anhängerschaft in der syndikalistischen Bewegung nur zum recht geringen Teil auf das Konto seiner antipatriotischen Richtung und Eigenart zu setzen ist. Auch für Amerika trifft es zu, wie Lee bezeugt. [3] Und wenn in Deutschland gerade die besondere antimilitaristische Propaganda vorläufig auf eine weitgehende Abneigung stößt, so ist das nicht zum wenigsten darauf zurückzuführen, daß hier bisher ein blutiges Einschreiten der militärischen Waffengewalt bei Streiks nahezu vermieden ist. Sollte es aber das unentrinnbare Schicksal auch fortschrittlicher Volksbewegungen sein, den Brunnen erst zuzudecken, nachdem das Kind hineingefallen ist? Sollte selbst die Sozialdemokratie mit ihrem weitausschauenden zukunftsfrohen und zukunftsklaren Programm allen Kassandrarufen unzugänglich bleiben?

 

 

3. Anarchistischer und sozialdemokratischer Antimilitarismus

Das sozialdemokratische Ziel ist die Folgerung aus einer ökonomisch-historischen Auffassung; es findet nur darin seine Rechtfertigung und ist daher von allem Utopismus weit entfernt. Das Ziel des Anarchismus ist ohne geschichtliche Unterlage ideologisch konstruiert: Das kennzeichnet das Verhältnis, den konträren Gegensatz zwischen beiden Bewegungen.

Die sozialdemokratische Auffassung ist geschichtlich-organisch; die anarchistische willkürlich-mechanisch. Freilich betrachtet der Anarchismus die Menschen als Träger der Entwicklung, die er meint, und ihren Willen als Agens und setzt sich daher zur Aufgabe, diesen Willen zu beeinflussen. Und auch die Sozialdemokratie betrachtet die Beeinflussung des Willens der Arbeiterschaft als ihre Aufgabe.

Dennoch bestehen die fundamentalsten Unterschiede.

Für den Anarchismus ist die Beeinflussung des Willens die einzige wesentliche Voraussetzung des Erfolgs; für die Sozialdemokratie kommt sie neben den objektiven wirtschaftlichen Entwicklungsstufen, von denen keine, auch nicht durch den besten Willen der Massen und einer Klasse, übersprungen werden kann, nur sekundär in Betracht.

Die Anarchisten halten jene Beeinflussung bei gehöriger Energie stets für möglich; die Sozialdemokratie hält sie als Massen- und Klassenerscheinung nur für möglich, sofern eine gewisse, durch die ökonomische Lage geschaffene Prädisposition vorhanden ist. Um die Notwendigkeit dieser Prädisposition streiten, sich beide Auffassungen, während die Differenzen innerhalb der Sozialdemokratie meist aus dem Zweifel entspringen, ob diese Prädisposition in einem bestimmten Falle besteht. Natürlich ist die Frage, ob die ökonomischen Verhältnisse für eine Aktion reif sind, schwer zu entscheiden und das Maß, in dem der Wille zu beeinflussen ist, insbesondere das Maß an Prädisposition, das dafür nötig ist, im Einzelfall schwierig festzustellen; der persönliche Optimismus oder Pessimismus, das Temperament spielen hierbei eine beträchtliche, nie zu eliminierende Rolle. Daraus ergeben sich die Differenzen innerhalb der Sozialdemokratie, wobei sich diejenigen, die ein größeres Maß von Beeinflußbarkeit annehmen und nur ein geringeres Maß von Prädisposition verlangen, dem Anarchismus nähern: Das sind die Anarchosozialisten. Trotz des konträren – aber nicht kontradiktorischen – Gegensatzes zwischen Anarchismus und Sozialismus finden wir daher alle möglichen Übergänge zwischen jenen Richtungen wie die Farben in einem Spektrum nebeneinander.

Das Maß der Beeinflußbarkeit hängt außer von dem Maß an Prädisposition ab von der Labilität des seelischen Gleichgewichts, in dem sich das Volk oder die zu beeinflussende Masse befindet. Diese Labilität ist in leiten der Erregung ungleich größer als in ruhigen Zeiten: Daher die zuzeiten wie ein Irrlicht verwirrende, manchmal geradezu gefährliche, meist höchst wertvolle Möglichkeit, in Zeiten der Erregung mehr zu erreichen als in Zeiten der Ruhe, aber ein Mehr, das bei Eintritt der Ruhe fast stets wenigstens zum Teil mit dem Übermaß an Energie, das es erobern half, wieder verlorengeht: Die Geschichte der Revolutionen ist dessen eine einzige fortlaufende Bestätigung.

Auch darin zeigt sich der grundsätzliche Unterschied beider Grundauffassungen, daß es der Anarchismus für möglich hält, durch ein kleines entschlossenes Häuflein alles zu vollbringen – natürlich indem er sich den Willen der Massen in Passivität oder Aktivität dienstbar macht. Gewiß ist auch der Sozialismus der Ansicht, daß eine gut qualifizierte, entschlossene und zielklare Minderheit, die Massen in entscheidenden Augenblicken mit sich fortreißend, einen wichtigen Einfluß ausüben kann. Der Unterschied ist jedoch der: ob man, wie es der Sozialismus tut, einen solchen Einfluß nur in dem Sinne erstrebt und für möglich hält, daß jene Minderheit nur Erwecker und Vollstrecker des Willens der Masse ist, desjenigen Willens, den diese vermöge der besonderen Situation als ihren sozialen Willen zu entfalten reif und fähig ist, oder in dem Sinne, daß ein entschlossenes Häuflein Handstreichler Vollstrecker nur eines eigenen Willens ist und sich der Massen nur als Werkzeug zu diesem seinem Zwecke bedient, wie es der Anarchismus als ein wahrer aufgeklärter Despotismus tut.

Der Anarchismus will alle in der ökonomischen und sozialen Lage wurzelnden Schwierigkeiten auf ungezäumtem Pferde überspringen oder – je nachdem – das Pferd am Schwanze aufräumen. Ihm gilt das Leitmotiv: Am Anfang war die Tat. Natürlich kann in der Entwicklung des Klassenkampfs ein Zeitpunkt kommen, wo die vom Anarchismus vorgeschlagene Aktion möglich und richtig wird. Aber der Fehler des Anarchismus ist nicht die absolute, sondern die relative Unanwendbarkeit der von ihm propagierten Mittel, die relative Unanwendbarkeit, die sich aus der Verkennung des jeweiligen sozialen Kräfteverhältnisses ergibt, eine Verkennung wiederum, die aus dem Mangel an historischer und sozialer Einsicht geboren ist. Und wenn die Vorschläge des Anarchismus in späteren Entwicklungsstadien realisierbar und gebilligt werden, so ist das keine Rechtfertigung, sondern im Gegenteil eine Verurteilung der anarchistischen Taktik, der aber freilich das Verdienst der Anregung oftmals gerechterweise nicht abgesprochen werden darf.

Der anarchistische und anarchistelnde Antimilitarismus sind Geschwister des anarchistischen und anarchistelnden Generalstreiks, eine Zwillingsbrüderschaft, die sich auch schon äußerlich darin dokumentiert, daß diese Art Antimilitarismus schematisch in die Spitze des Militärstreiks ausläuft. Um das Wesen dieses Antimilitarismus zu erfassen und seinen Unterschied gegenüber dem sozialdemokratischen Antimilitarismus zu erkennen, muß auseinandergehalten werden: Ursache des Antimilitarismus, Methode der Propaganda für den Antimilitarismus, Endziel und Zweck, die durch den Antimilitarismus erreicht werden sollen, Methode, durch die der Antimilitarismus dieses Endziel, diesen Zweck zu erreichen sucht.

Die Ursache der antimilitaristischen Bewegung ist für Anarchismus wie Sozialdemokratie insofern dieselbe, als beide in dem Militarismus ein besonders mechanisch-gewalttätiges Hemmnis der Verwirklichung ihrer sozialen Pläne erblicken. Im übrigen ist sie für beide so verschieden, wie eben nur die anarchistische und sozialdemokratische Weltauffassung verschieden sind. Es kann hier nicht näher ausgeführt werden, wie wenig der Anarchismus den organisch-kapitalistischen Charakter des Militarismus und die danach auf ihn anzuwendenden wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsgesetze konsequent begreift. Hier liegt die Wurzel für alle übrigen wesentlichen Differenzen zwischen dem sozialistischen und dem anarchistischen Antimilitarismus, die sich kurz dahin zusammenfassen lassen: Der sozialdemokratische Antimilitarismus führt den Kampf gegen den Militarismus als gegen eine Funktion des Kapitalismus, in Erkenntnis und unter Anwendung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsgesetze. Der Anarchismus betrachtet den Militarismus mehr als etwas Selbständiges, willkürlich-zufällig von den herrschenden Lassen Hervorgebrachtes und führt den Kampf gegen ihn, wie überhaupt den Kampf gegen Kapitalismus, von einem phantastisch-ideologischen Standpunkte aus, der die sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungsgesetze verkennt und, an der Oberfläche haftend, durch eine in der Luft schwebende Aufreizung der individuellen Entschließung, kurzum, auf individualistischem Wege den Militarismus aus dem Sattel zu heben sucht. Er ist eben nicht nur – je nach seiner Spielart in verschiedenem Grade – individualistisch in seinem gesellschaftlichen Ziele, sondern auch in seiner historischen, sozialen und politischen Auffassung und in seinen Mitteln.

Das Endziel ist für den anarchistischen wie für den sozialdemokratischen Antimilitarismus, wenn man mit einem Schlagwort begnügt, das gleiche: Beseitigung des Militarismus, und zwar des Militarismus nach außen wie des Militarismus nach innen. Indessen betrachtet die Sozialdemokratie, entsprechend ihrer Auffassung vom Wesen des Militarismus, die völlige Beseitigung des Militarismus allein für unmöglich: Nur mit dem Kapitalismus – der letzten Klassengesellschaftsordnung – zugleich kann der Militarismus fallen. Freilich ist der Kapitalismus nichts Konstantes, sondern ein sich fortgesetzt modifizierendes Ding, das durch zahlreiche ihm immanente Gegentendenzen, vor allem die proletarischen, beträchtlich umgestaltet und geschwächt werden kann. So ist auch die Lebensäußerung des Kapitalismus, die wir Militarismus nennen, an und für sich, wie seine verschiedene Gestaltung in den einzelnen Ländern zeigt, einer Abschwächung nicht unfähig; auch kann sich sein Verhältnis zum Kapitalismus immerhin lockern. [4]

Aber das ist doch nur das gleiche, was bald mehr, bald weniger auch von anderen Lebensäußerungen des Kapitalismus gilt, und e. ändert nichts an dem organisch-kapitalistischen [5] Charakter des Militarismus, nichts daran, daß Zweck der antimilitaristischen Propaganda der Sozialdemokratie nicht die isolierte Bekämpfung und ihr Endziel nicht die isolierte Beseitigung des Militarismus ist während die anarchistisch-antimilitaristische Propaganda aufs deutlichste die isolierte Beseitigung des Militarismus als Endziel ansieht. Freilich soll nicht bestritten werden, daß – aber nur parallel laufend – zumeist auch der Kampf gegen den Kapitalismus (auch diesen aber in dem anorganischen anarchistischen Sinne verstanden) geführt wird und daß auch die Anarchisten in wahrhaftem theoretischem Zickzackkurs nicht selten Lichtblicke tieferer sozialer Einsicht aufweisen. [6]

In den Methoden des Kampfes kommt die grundsätzlich verschiedene geschichtliche Betrachtungsweise am stärksten zum Durchbruch. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der Methode zur Herbeiführung einer antimilitaristischen Bewegung und der Methode der Anwendung einer solchen Bewegung gegenüber dem Militarismus. Was die erstere Methode betrifft, so arbeitet der Anarchismus hier in erster Linie mit ethischem Enthusiasmus, mit dem Sporn der Moral, mit Argumenten der Humanität, der Gerechtigkeit, kurzum mit allerhand Impulsen auf den Willen, die den Klassenkampfcharakter des Antimilitarismus verkennen und ihn zu einem abstrakten Ausfluß eines allgemein gültigen kategorischen Imperativs zu stempeln suchen. Er wendet sich daher folgerichtig vielfach nicht nur an die Mannschaften, sondern auch an die Offiziere. [7] So gleicht die Propaganda des anarchistischen Antimilitarismus in sehr diskreditierender Weise den pathetischen Deklamationen der Tolstoianer und den ohnmächtigen Kriegsbeschwörungen jener Weltfriedensfreunde vom Schlage der Bertha von Suttner.

Die sozialdemokratische antimilitaristische Propaganda hingegen ist Klassenkampfpropaganda und wendet sich daher grundsätzlich und ausschließlich an diejenigen Klassen, die im Klassenkampf notwendig Feinde des Militarismus sind, wenn sie natürlich auch die im Verlaufe der Zersetzung für sie abfallenden bürgerlichen Späne ganz gern sieht. Sie klärt auf, um zu gewinnen, aber sie klärt nicht auf über kategorische Imperative, humanitäre Gesichtspunkte, ethische Postulate von Freiheit und Gerechtigkeit, sondern über den Klassenkampf, die Interessen des Proletariats in dem Klassenkampf, die Rolle des Militarismus im Klassenkampf und die Rolle, die das Proletariat im Klassenkampf spielt und zu spielen hat. Sie folgert die Aufgaben des Proletariats gegenüber dem Militarismus aus den Klassenkampfinteressen des Proletariats. Gewiß, sie verwendet auch ethische Argumentationen, das ganze Pathos des kategorischen Imperativs, der primitiven Menschenrechte und die schönen, aber nicht praktizierten Moralgrundsätze des Bürgertums aus der Zeit seiner Morgenröte, ja selbst religiöse, besonders christliche Ideen und Vorstellungen nach Herzenslust. Das spielt indessen hier nur eine sekundäre Rolle. Es dient dazu, die verschlossenen Augen der unaufgeklärten Proletarier leichter zu öffnen, damit das Tageslicht der Klassenerkenntnis in das Gehirn fluten kann, und es dient weiter dazu, den Enthusiasmus zum Handeln anzufeuern.

Die Methode der Anwendung des Antimilitarismus, der Betätigung der antimilitaristischen Gesinnung ist bei dem Anarchismus wiederum eine mehr individualistische und phantastische. Er legt großes Gewicht auf die individuelle Verweigerung des Militärdienstes, die individuelle Weigerung des Waffengebrauchs, auf den individuellen Protest. Die anarchistische Literatur verzeichnet alle derartigen Fälle triumphierend mit großer Sorgfalt und Genauigkeit. Freilich hat sie dabei zweierlei im Auge: die eben erwähnte Aktion gegen den Militarismus und eine Art Propaganda durch die Tat für die antimilitaristische Bewegung. Sie geht davon aus, daß solch- heroische Beispiele zur Nachahmung anreizen, Sympathie und Begeisterung für die Bewegung, zu der sich diese „Heroen“ bekennen, erwecken.

Anders der sozialdemokratische Antimilitarismus. Gewiß ist er sich darüber klar, daß derartige individuelle Akte Signale und Symptome für Massenbewegungen sein können und sein werden; aber nur Signale und Symptome; und Signale natürlich nur in Momenten höchster kritischer Spannung, wo nur noch notwendig ist, die ins Pulverfaß gelegte Lunte anzuzünden. Allmähliche organische Zersetzung und Zermürbung des militaristischen Geistes, das ist das Kampfmittel der Sozialdemokratie gegen den Militarismus. Alles andere dient diesem Zweck oder spielt nur in zweiter und dritter Linie mit. Übrigens gewinnt auch im Anarchismus, wie an der Hand der internationalen antimilitaristischen Assoziation gezeigt ist, eine Strömung, die jenen individuellen Handlungen kritisch gegenübertritt, wachsenden und bestimmenden Einfluß.

Phantastisch ist die Taktik der anarchistischen Antimilitaristen in bezug auf den Militärstreik, den sie gewissermaßen bei gutem Willen und großer Energie aus der blauen Luft glauben hervorzaubern zu können, während die Sozialdemokratie ihn ebenso wie die etwaige Aktivierung der Truppen für die Revolution nur als eine logisch und psychologisch notwendige Konsequenz der Zersetzung des militaristischen Geistes“ betrachtet, welche Zersetzung wiederum sich nur parallel und infolge der Klassenscheidung und Aufklärung vollziehen kann.

Sehr charakteristisch für den anarchistischen Antimilitarisnius ist die kleine Broschüre von Domela Nieuwenhuis Le militarisme. [8] Für ihn sind zwar nicht die gekrönten Könige die Herren der Welt, aber die Bankiers, die Finanzleute, die Kapitalisten (keineswegs der Kapitalismus als organisch notwendige Gesellschaftsordnung); für ihn sind die Kriege von der freien Entschließung der Bankiers abhängig; für ihn ist die Reaktion die Partei der Autorität, die sich ausbreitet „vom Papste bis zu Karl Marx“. Ohne die Klassenlage der Soldaten zu untersuchen, akzeptiert er ganz allgemein das friderizianische Wort des bösen Gewissens: „Wenn die Soldaten begonnen haben werden zu denken, wird keiner von ihnen bei der Fahne bleiben.“ An Mitteln der antimilitaristischen Propaganda übernimmt er zunächst die von Laveleye in seinem Buch Des causes actuelles de guerre en Europe et de l’arbitrage vorgeschlagenen:

  1. Aufhebung aller Beschränkungen des internationalen Verkehrs;
  2. Verbilligung der Fracht-, der Post- und Telegraphentarife;
  3. Einführung eines international einheitlichen Münz-, Maß- und Gewichtssystems und einer international einheitlichen Handelsgesetzgebung;
  4. Rechtliche Gleichstellung der Ausländer mit den Inländern;
  5. Förderung der Kenntnis der fremden Sprachen und überhaupt der fremden Kulturen;
  6. Schaffung einer größeren Literatur von Schriften und Werken der Kunst, die Friedensliebe und Haß gegen den Krieg sowie dessen Freunde erzeugen;
  7. Förderung alles dessen, was dem repräsentativen System Kraft und Wirksamkeit geben und dazu beitragen kann, der exekutiven Gewalt das Bestimmungsrecht über Krieg und Frieden zu entziehen;
  8. Begünstigung aller derjenigen industriellen Unternehmungen, die die überschüssigen Reichtümer eines Landes verwenden, um die natürlichen Reichtümer der andern Länder zu heben, und zwar so, daß das Kapitel kosmopolitisch und die Interessen der internationalen Kapitalisten solidarisch werden;
  9. (nur diesem Punkt setzt Nieuwenhuis einen Widerspruch entgegen) die Geistlichkeit hat nach Art der Quäker die Seelen mit einem Abscheu gegen den Krieg zu erfüllen.

Zu diesen antimilitaristischen Mitteln fügt Nieuwenhuis noch einige andere hinzu, die er als noch wirksamer betrachtet, nämlich:

  1. Förderung der internationalen Interessen der Arbeiter;
  2. Beseitigung der Könige, Präsidenten, der Oberhäuser, der Parlamente als Gesellschaftsinstitutionen, die dem Frieden feindlich sind;
  3. Beseitigung der Gesandtschaften;
  4. Reform des Geschichtsunterrichts zu einem kulturgeschichtlichen Unterricht;
  5. Beseitigung der stehenden Heere;
  6. Schiedsgerichtliche Entscheidung internationaler Streitigkeiten;
  7. Föderation der verschiedenen europäischen Staaten zu vereinigten Staaten von Europa, nach Art der Vereinigten Staaten von Amerika;
  8. Militärstreik im Falle des Krieges und Generalstreik;
  9. Passiver Widerstand und individuelle Dienstverweigerung;
  10. Begünstigung der allgemeinen Entwicklung und der Bedingungen für das Wohlbefinden der gesamten Menschheit.

Wobei Nieuwenhuis den charakteristischen Satz fallenläßt: „Wenn die Menschen durch den Krieg etwas zu verlieren haben, haben sie ein Interesse, den Frieden zu bewahren“, gerade als ob das Proletariat jetzt der Friedensstörer wäre.

Auch der vorsichtigste Kritiker wird hier [9] nichts sehen als Tohuwabohu; Tohuwabohu der sozialen und historischen Grundauffassung, Tohuwabohu der Disposition, Tohuwabohu der Detailauffassung. Die Hauptsache ist nicht erwähnt. Das Wichtigste von dein, was erwähnt ist, nämlich das auf gewisse wirtschaftliche Unterlagen des Militarismus Bezügliche, wird so ganz nebenher, fast zufällig berührt. Ganz nebensächliche, sekundäre und tertiäre Punkte erscheinen im Vordergrunde, daneben aber wiederum durchaus utopische, phantastische Mittel. Die Mittel der Propaganda für den Antimilitarismus werden mit der antimilitaristischen Aktion selbst zusammengeworfen. Die Oberflächlichkeit der Grundauffassung, die Neigung, alles auf persönliche Initiative und guten Willen zu stellen, zeigt sich zur Evidenz. Der Schlußsatz des Nieuwenhuisschen Büchleins ist aber geradezu eine Offenbarung aus der Tiefe unklarer, anarchistischer Auffassung, er lautet: „Kühnheit, nochmals Kühnheit und immer wieder Kühnheit, das ist’s, was not tut, damit uns der Triumph zufällt.“

 

 

Fußnoten

1. Vgl. dazu die Enquete in La Vie Socialiste, 1, Nr.15-18; Mouvemeut Socialiste 1905 und Vorwärts vom 17. September 1905; ferner die Protokolle der internationalen Kongresse.

2. Vgl. Moch, Die Armee der Demokratie; weiter Bebel, Nicht stehendes Heer, sondern Volkswehr, S.44ff. und dort zitiert Berner Der männermordende völkerverderbende Militarismus in Osterreich, S.52ff.; Handbuch für sozialdemokratische Wähler, Berlin 1903, S.20ff.

3. Vgl. La Vie Socialiste, Nr.18, S.80.

4. Siehe dazu Kapitel 2-5.

5. Richtiger: organisch dem Wesen der Klassengesellschaftsordnungen entspringenden.

6. Vgl. z.B. Nieuwenhuis in Ontwaking, August 1901, S.196ff.

7. Daß in Rußland die Offiziere auch vom Standpunkt des Klassenkampfes dem Antimilitarismus zugänglich sind, ist bereits ausgeführt.

8. Publications des Temps Nouveaux, Paris 1901, Nr.17.

9. Viel klarer und tiefer ist, was Nieuwenhuis in Ontwaking, S.196 ff. in seiner Kritik des vom Kongreß der A.I.A. erlassenen Manifestes sagt.

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003