Karl Liebknecht

 

Militarismus und Antimilitarismus

 

Zweiter Teil
Antimilitarismus

 

V. Die Notwendigkeit einer besonderen antimilitaristischen Propaganda

 

Gewiß trägt der Militarismus viele Keime der Selbstvernichtung. der Zersetzung in sich; gewiß enthält auch die Gesamtheit der kapitalistischen Kultur viele einander widersprechende, sich gegenseitig zerfleischende Elemente, nicht zum wenigsten Tendenzen wissenschaftlicher, künstlerischer, ethischer Bildung, die dem Militarismus zu Leibe gehen. Die unterwühlende Wirksamkeit zum Beispiel der Simplizissimusliteratur soll keineswegs unterschätzt werden. [1] Gewiß lehren die Geschichte Cromwells, die Geschichte des Jahres 1789 in Frankreich und des Jahres 1806 in Deutschland, wie ein militärisches System aus sich heraus vermorschen, verfaulen und zusammenbrechen kann. Gewiß wird bei allen blutigen Konflikten zwischen Volk und Staatsgewalt eine besondere Psychologie des Blutes lebendig und mächtig, eine Suggestion, eine Hypnose des Blutes, oder auch – um mit Andrejews zu reden – eine Logik des Blutes, die das Kräfteverhältnis im Augenblick entscheidend zu verschieben vermag. Das alles berührt aber die Frage der Notwendigkeit der Propaganda, die selbst ein Teil des organischen Zersetzungsprozesses ist, überhaupt nicht. Ähnliches gilt von allen anderen Lebensäußerungen des Kapitalismus und vom Kapitalismus selbst. Es kommt nur für die Chancen erfolgreicher Agitation in Betracht.

Die besondere Gefährlichkeit des Militarismus ist dargelegt. Dem Proletariat steht er als ein bis an die Zähne bewaffneter Räuber gegenüber, dessen Ultimatum aber nicht lautet: la bourse ou la vie – Geld oder Leben! sondern, die Räubermoral übertrumpfend: la bourse et la vie – Geld und Leben! Er ist außer der großen künftigen eine stets gegenwärtige, stets verwirklichte Gefahr, auch wenn er nicht gerade zuschlägt. Nicht nur ist er der Moloch des Wirtschaftslebens, der Vampir des kulturellen Fortschritts, der Hauptfälscher der Klassengruppierung. Er ist auch der geheime oder offenbare letzte Regulator der Form, in der sich die politische und gewerkschaftliche Bewegung des Proletariats abspielt, der Klassenkampftaktik, die sich in allen wichtigen Fragen nach ihm als dem Hauptpfeiler der brutalen Macht des Kapitalismus richtet. Er lähmt unsere Aktivität; er ist das Gewitter, in dessen drückender Vorschwüle unser Parteileben zeitweilig erschlafft und der Parlamentarismus immer mehr von Schlafsucht und Lähmung befallen wird.

Schwächung des Militarismus heißt Förderung der Möglichkeiten friedlich organischer Fortentwicklung oder wenigstens Einschränkung der Möglichkeiten gewaltsamer Zusammenstöße; sie heißt aber weiter und vor allem Gesundung, Auffrischung des politischen Lebens, des Parteikampfes. Schon der rücksichtslose und systematisierte Kampf an und für sich gegen den Militarismus führt zur revolutionären Befruchtung und Kräftigung der Partei, ist ein Jungborn revolutionären Geistes.

Aus alledem folgt die Notwendigkeit nicht nur einer Bekämpfung, sondern auch einer speziellen Bekämpfung des Militarismus. Ein so verzweigtes und gefährliches Gebilde kann nur durch eine ebenso verzweigte, energische, große, kühne Aktion gefaßt werden, die den Militarismus rastlos in alle seine Schlupfwinkel hinein verfolgt, toujours en vedette (stets auf dem Posten). Auch die Gefährlichkeit des Kampfes gegen den Militarismus zwingt eine solche besondere Aktion auf, die elastischer und anpassungsfähiger sein kann als die allgemeine Agitation. Wie sehr man sich auch gegen diese Auffassung in Deutschland gesträubt hat und noch immer sträubt, schon der Hinweis darauf, daß wir eine besondere Frauen- und Jugendpropaganda haben, daß wir nicht nur die Landarbeiteragitation spezialisiert haben, sondern in den Gewerkschaften die Propaganda innerhalb der einzelnen Berufe, und schließlich der Hinweis auf die erfolgreiche antimilitaristische Propaganda in andern Ländern genügt, um diese Bedenken und Zweifel in den Wind zu blasen, dieses Sträuben zu überwinden. Die allgemeine Anerkennung des Grundgedankens des in Mannheim abgelehnten Antrages 114 ist nur eine Frage der Zeit, und voraussichtlich sehr kurzer Zeit.

Sie ist der deutschen Sozialdemokratie auch durch den bekannten einstimmig gefaßten Beschluß des internationalen Kongresses vom Jahre 1900 zur Pflicht gemacht.

Die Forderung einer solchen besonderen Propaganda hat ganz und gar nichts zu tun mit jener unhistorischen, anarchistischen Auffassung über den Militarismus. Wir sind uns aufs klarste der Rolle bewußt, die der Militarismus innerhalb des Kapitalismus spielt, und denken natürlich nicht im entferntesten daran, ihn über oder neben den Kapitalismus zu setzen, weil er eben nur ein Teil des Kapitalismus ist, ein Teil oder richtiger eine besonders schädliche und gefährliche Lebensäußerung des Kapitalismus. Aber unsre ganze Agitation gegen den Kapitalismus richtet sich gegen die Lebensäußerungen des Kapitalismus, in denen er sich realisiert. Man kann das Gebiet des antimilitaristischen Kampfe gewissermaßen als ein besonderes neben dem des allgemeinen politischen Kampfe, neben dem des gewerkschaftlichen Kampfs, meinetwegen auch neben dem des genossenschaftlichen und des Bildungskampfs, bezeichnen. Mit andern Worten: Wir sind Antimilitaristen als Antikapitalisten.

Wenn sich geschichtlich der Antimilitarismus allenthalben erst aus den Allgemeinheiten eines mehr theoretischen Daseins zu einer aktuell-praktischen Bewegung von Bedeutung herausgestaltet hat parallel mit der Verwendung von Truppen im Bürgerkrieg, gegen den inneren Feind, so ist damit natürlich nicht der geringste stichhaltige Grund gegen eine besondere antimilitaristische Propaganda m den Ländern gegeben, in denen eine solche Verwendung bisher noch ganz oder fast ganz vermieden ist oder so weit zurückliegt, daß sie aus dem Bewußtsein der Massen verschwunden ist. Seit je ist es der Stolz der Sozialdemokratie, nicht erst das Feuer zu scheuen, wenn sie sich gebrannt hat, vielmehr aus der Geschichte, aus der Gesellschaftserkenntnis und den Erfahrungen der Bruderparteien weit vorausschauend zu lernen und vorbauend Nutzen zu ziehen. Die Geschichte, die soziale Erkenntnis und jene Erfahrungen aber sprechen in puncto Antimilitarismus eine wahrlich deutliche Sprache. Und die Zeit ist reif.

 

Fußnote

1. Generalmajor von Zepelin beschäftigt sich mit dieser Gefährlichkeit eingehend in der Kreuz-Zeitung vom 25. Dezember 1906.

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003