Karl Liebknecht

 

Militarismus und Antimilitarismus

 

Vorwort

Vor wenigen Wochen berichteten Die Grenzboten über ein Gespräch zwischen Bismarck und Professor Dr. Otto Kämmel aus dem Oktober 1892, in dem sich der „Heros des Jahrhunderts“ die Maske des Konstitutionalismus mit dem ihm eigenen Zynismus selbst vom Gesicht riß. Bismarck äußerte unter anderm:

In Rom war aqua et igne interdictus, wer sich außerhalb der Rechtsordnung stellte, im Mittelalter nannte man das ächten. Man müßte die Sozialdemokratie ähnlich behandeln, ihr die politischen Rechte, das Wahlrecht nehmen. Soweit würde ich gegangen sein. Die sozialdemokratische Frage ist eine militärische. Man behandelt jetzt die Sozialdemokratie außerordentlich leichtsinnig. Die Sozialdemokratie strebt jetzt – und mit Erfolg – danach, die Unteroffiziere zu gewinnen ... In Hamburg ... besteht jetzt schon ein guter Teil der Truppen aus Sozialdemokraten, denn die Leute dort haben das Recht, nur in die dortigen Bataillone einzutreten. Wie nun, wenn sich diese Truppen einmal weigern, auf ihre Väter und Brüder zu schießen, wie der Kaiser verlangt hat? Sollen wir dann die hannöverschen und mecklenburgischen Regimenter gegen Hamburg auf bieten? Dann haben wir dort etwas wie die Kommune in Paris. Der Kaiser war eingeschüchtert. Er sagte mir, er wolle nicht einmal „Kartätschenprinz“ heißen wie sein Großvater und nicht gleich an Anfange seiner Regierung „bis an die Knöchel im Blut waten“. Ich sagte ihm damals: „Ew. Majestät werden noch viel tiefer hinein müssen, wenn Sie jetzt zurückweichen!“

„Die sozialdemokratische Frage ist eine militärische.“ Das drückt das ganze Problem aus; das sagt mehr und greift viel tiefer als der von Massowsche Notschrei: „Der einzige Trost, den wir haben, sind die Bajonette und Kanonen unsrer Soldaten.“ [1] „Die sozialdemokratische Frage ist eine militärische.“ Das ist seit je der Grundton aller Scharfmachermelodien. Wem das die früheren Bismarckund Puttkanierschen Indiskretionen, die Alexandrinerrede [1*], die Hamburger Nachrichten und der Vollblutjunker von Oldenburg-Januschau noch nicht beigebracht hatten, dem werden nach den Hohenlohe-Delbrückschen Enthüllungen, die um die Jahreswende ihre Bestätigung durch den Landgerichtsrat Kulemann gefunden haben, dem werden nach jenem lapidaren Wort Bismarcks die Augen aufgegangen sein.

Die sozialdemokratische Frage – soweit sie eine politische Frage ist – ist am letzten Ende eine militärische. Das sollte auch der Sozialdemokratie stets als Menetekel vor Augen schweben und als ein taktisches Prinzip ersten Grades gelten.

Der innere Gegner, die Sozialdemokratie, ist „gefährlicher als der äußere, weil er die Seele unsres Volkes vergiftet und uns die Waffen aus der Hand windet, ehe wir diese noch erheben“. So proklamierte die Kreuz-Zeitung am 21. Januar 1907 die Souveränität des Klasseninteresses über das nationale Interesse in einem Wahlkampf, der gerade „unter der wehenden Standarte des Nationalismus“ geführt wurde! Und dieser Wahlkampf stand unter dem Zeichen fortgesetzt gesteigerter Wahl- und Koalitionsrechtsbedrohung, unter dem Zeichen des „Bonaparteschen Degens“, mit dem Fürst Bülow in seinem Silvesterbrief [2*] um die Köpfe der deutschen Sozialdemokraten fuchelte, um sie ins Bockshorn zu jagen; er stand unter dem Zeichen eines zur Siedehitze gesteigerten Klassenkampfs. [2] Nur der Blinde und Taube kann leugnen, daß diese Zeichen und viele andre auf Sturm, ja auf Orkan deuten.

Damit hat das Problem der Bekämpfung des „inneren Militarismus“ aktuellste Bedeutung gewonnen.

Die Wahlen 1907 wurden aber auch geführt um die nationale Phrase, um die koloniale Phrase, um Chauvinismus und Imperialismus. Und sie haben gezeigt, wie beschämend gering trotz alledem die Widerstandskraft des deutschen Volks gegenüber den pseudopatriotischen Rattenfängereien jener verächtlichen Geschäftspatrioten ist. Sie haben gelehrt, welch grandiose Demagogie die Regierung, die herrschenden Klassen und die ganze heulende Meute des „Patriotismus“ zu entfalten vermögen, wenn es um ihre „heiligsten Güter“ geht. Sie waren für das Proletariat Wahlen der nützlichsten Klärung, Wahlen der Selbstbesinnung und der Belehrung über das soziale und politische Kräfteverhältnis, Wahlen der Erziehung, der Befreiung von der unglückseligen „Sieggewohnheit“, Wahlen des willkommenen Zwangs zur Vertiefung der proletarischen Bewegung und des Verständnisses für die Psychologie der Massen gegenüber nationalen Aktionen. Gewiß sind die Ursachen unsrer sogenannten Schlappe, die keine Schlappe war und über die die Sieger verblüffter waren als die Besiegten, gar mannigfaltige; kein Zweifel aber, daß gerade die militaristisch durchseuchten oder beeinflußten Teile des Proletariats, die freilich an sich schon dem Regierungsterrorismus am wehrlosesten ausgeliefert zu sein pflegen, zum Beispiel die Staatsarbeiter und Unterbeamten, der sozialdemokratischen Ausbreitung einen besonders festen Damm entgegengesetzt haben.

Auch das rückt die antimilitaristische Frage und die Frage der Jugendbewegung, der Jugenderziehung für die deutsche Arbeiterbewegung, energisch in den Vordergrund und sichert ihren Anspruch auf zunehmende Beachtung.

Die folgende Schrift ist die Ausarbeitung eines Referats, das der Verfasser am 30. September 1906 auf der 1. Generalversammlung des Verbandes junger Arbeiter Deutschlands in Mannheim hielt. Sie macht sich nicht anheischig, etwas wesentlich Neues zu bieten; sie soll nur eine Zusammenstellung bereits bekannten, meinethalben gemeinplätzlichen Materials sein. Sie beansprucht auch nicht den Titel erschöpfender Vollständigkeit. Der Verfasser hat sich nach Kräften bemüht, das meist in Zeitungen und Zeitschriften unendlich zerstreute und verzettelte Material aus aller Herren Länder zusammenzuschaffen; und dank vor allem der Hilfe unsres belgischen Genossen de Man ist es gelungen, wenigstens einen Überblick über die antimilitaristische und die Jugendbewegung der wichtigsten Länder zu gewinnen.

Wenn hier und da Irrtümer unterlaufen sein sollten, so mögen sie durch die Schwierigkeit der Stoffbewältigung, aber auch die vielfache Unzuverlässigkeit der Quellen entschuldigt werden, die sich nicht selten selbst in Widersprüchen bewegen.

Auf dem Gebiete des Militarismus ist gerade in unsren Tagen vieles in schnellem Fluß, und zum Beispiel im Punkte der französischen und englischen Militärreformen wird die Darstellung der folgenden Zeilen gewiß durch die Ereignisse gar bald überholt werden.

Noch mehr gilt das aber von dem Antimilitarismus und der proletarischen Jugendbewegung, diesen neuesten Erscheinungen im proletarischen Befreiungskampf, die sich allenthalben in rascher Entwicklung und trotz mancher Rückschläge in erfreulichem Aufschwung befinden. So ist erst nach Drucklegung dieser Schrift in Erfahrung gebracht worden, daß die finnischen sozialistischen Jugendvereine an 9. und 10. Dezember 1906 ihren ersten Kongreß in Tammerfors abhielten, wo ein Verband jugendlicher Arbeiter Finnlands gegründet wurde, der sich der finnischen Arbeiterpartei anschließen wird und neben der Erziehung der jugendlichen Arbeiter zum Klassenbewußtsein auch den Kampf gegen den Militarismus in allen seinen Gestalten zur besonderen Aufgabe hat.

Man wird gegenüber der theoretischen Grundlegung unsrer Arbeit den Vorwurf allzu großer Kürze und ungenügender historischer Vertiefung zu erheben geneigt sein. Demgegenüber muß auf den aktuell politischen Zweck der Schrift verwiesen werden, den Zweck, den antimilitaristischen Gedanken zu fördern.

Mancher wird wiederum mit der Aufhäufung der zahlreichen oft anscheinend unerheblichen Einzelheiten besonders aus der Geschichte der Jugendbewegung und des Antimilitarismus unzufrieden sein. Diese Unzufriedenheit mag gerechtfertigt sein. Der Verfasser ging indessen von der Ansicht aus, daß erst durch die Einzelheiten, das Auf- und Abwogen der organisatorischen Entwicklung, das Werden und Wandeln der taktischen Grundsätze eine lebendige Anschauung und die erstrebte Nutzanwendung ermöglicht wird, zumal ja gerade bei der antimilitaristischen Agitation und Organisation die Hauptschwierigkeit im Detail liegt.

Berlin, den 11. Februar 1907
Dr. Karl Liebknecht

 

Fußnoten

1. Vgl. das Deutsche Wochenblatt Arendts, Mitte November 1896. Weiter Sozialdemokratische Partei-Correspondenz, II. Jahrg., Nr.4.. (Siehe Kapitel 2.5 Rußland. Die Red.)

2. Abend des Stichwahltages (5. Februar 1907) wurden Truppen der Berliner Garnison mit scharfen Patronen versehen und zum Ausrücken bereitgehalten. Bekanntlich waren am 25. Juni 1905, dem vormaligen Stichwahltag, in Spandau die Pioniere bereits auf der Schönwalder Straße, um die über den Wahlausfall erregte Arbeiterschaft „zur Räson zu bringen“.

 

Anmerkungen

1*. Alexandrinerrede – Gemeint ist die Ansprache Wilhelms II. au das Kaiser-Alexander-Garde-Grenadierregiment anläßlich der Übersiedlung des Regiments in eine neue Kaserne am 28. März 1901. Er sagte unter anderem: „Ihr seid ... gewissermaßen die Leibwache des preußischen Königs und müßt bereit sein, Tag und Nacht euer Leben in die Schanze zu schlagen, euer Blut zu verspritzen für euren König! ... Wenn es aber der Stadt einfallen sollte, sich jemals wieder gegen ihren Herrscher zu erheben, dann wird das Regiment mit dem Bajonett die Ungehörigkeit des Volkes gegen seinen Konig zuriickweisen.“

2*. Silvesterbrief – Reichskanzler Fürst von Bülow richtete an den Vorsitzenden des Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie, Generalleutnant von Lieben, zur Jahreswende 1906/1907 einen Brief, der eine zügellose Hetze gegen die Sozialdemokratie enthielt und die Reaktion im Hinblick auf die bevorstehende Reichstagswahl zum festen Zusammenschluß um die Regierung aufrief.

 


Zuletzt aktualisiert am 13.2.2005