Wilhelm Liebknecht

 

Zum Landsturm

Rede im Deutschen Reichstag

(22. Januar 1875)


Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages. 2. Legislatur-Periode. II. Session 1874/75, Zweiter Band, Berlin 1875, S.1200/1201.
Wilhelm Liebknecht, Gegen Militarismus und Eroberungskrieg, Berlin 1986, S.80-4.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Meine Herren, durch Schluß der Debatte bin ich daran verhindert worden, den Standpunkt unserer Partei dem Landsturmgesetze [1] gegenüber prinzipiell darzulegen; ich kann bloß zu dem Paragraphen 5 sprechen. Es drückt sich indes auch in diesem Paragraphen schon vollständig der Charakter des Gesetzes aus, und wenn von einem Vorredner [2] behauptet worden ist, daß das Volk diesen Charakter nicht begriffen habe, nicht soviel Urteilskraft besitze, das Wesen und die Tragweite dieses Gesetzes zu erkennen, so hat er der Intelligenz des Volkes in der Tat ein sehr schlechtes Zeugnis ausgestellt. Das Volk weiß, worum es sich handelt. Es sind nicht bloß zahlreiche Protestpetitionen hier eingelaufen, nein, eine Menge von Volksversammlungen hat sich außerdem gegen dieses Gesetz erklärt, zu gleicher Zeit aber auch den Beschluß gefaßt, nicht an den Reichstag zu appellieren, weil man im Volke das Vertrauen an den Reichstag verloren hat (Unruhe.), weil man glaubt, daß der Reichstag – ich spreche das Urteil des Volkes aus – (Große Heiterkeit.) nicht des deutschen Volkes Reichstag, sondern eine Jasagemaschine des Fürsten Bismarck ist. (Große Unruhe.)

Präsident [3]: Die Äußerungen, die der Herr Abgeordnete hier referiert, sind Beleidigungen gegen den Reichstag. Das Referieren von .dergleichen Beleidigungen hier im Schoße des Reichstags, und zwar in dieser Weise, kann ich nicht dulden; ich rufe deshalb den Herrn Abgeordneten Liebknecht zur Ordnung. („Bravo“)

Abgeordneter Liebknecht: Wenn von der Bewegung, die im Volke gegen dieses Gesetz statffindet, nicht mehr zu Ihren Ohren gekommen ist, so ist dies der einzige Grund. Ich kann das auf Grund zahlreicher Zuschriften konstatieren. Meine Herren, Sie haben gelacht, als ich im Namen des Volkes redete – Sie haben nicht das Recht

Präsident: Ich muß den Herrn Redner wiederholt unterbrechen. Ich habe es gerügt, daß Beleidigungen des Reichstags im Reichstage in der geschehenen Art und Weise referiert werden. Es scheint mir, als ob der Herr Abgeordnete Weder im Begriff ist, dasselbe zu tun, weswegen ich ihn schon einmal zur Ordnung gerufen habe.

Abgeordneter Liebknecht: Ich bin nicht im Begriff gewesen, Gesagtes zu wiederholen; ich habe nur erklären wollen und erkläre, daß ich das Recht habe, im Namen des Volkes zu reden, und daß niemand das Recht hat, mir dieses Recht streitig zu machen. Ich füße damit auf dem Boden der Verfassung, nach der jeder Abgeordnete Vertreter des Gesamtvolkes ist. Jeder von Ihnen redet im Namen des Volkes. Ich stehe hier aber auch direkt als Vertreter von 400.000 sozialdemokratischen Wählern (Heiterkeit.), die soeben in meiner Person durch den Schlußantrag mundtot gemacht worden sind ...

Präsident: Ich muß den Herrn Redner wieder unterbrechen. Es ist nicht zulässig, eben gefaßte Beschlüsse des Reichstags in dieser Art und Weise zu kritisieren, und daher auch nicht zulässig, zu sagen, daß einer durch einen Beschluß des Reichstags „mundtot“ gemacht sei.

Abgeordneter Liebknecht: Nun, ich habe kein Urteil, sondern eine Taßache ausgesprochen.

Ich halte mich an Paragraph 5. Es heißt darin: „Der Landsturm erhält bei Verwendung gegen den Feind militärische, auf Schußweite erkennbare Abzeichen und wird in der Regel in besonderen Abteilungen formiert.“

In diesen Worten ist der militärische Charakter des Gesetzes aufs schärfste ausgeprägt, es zeigt schon dieser einzige Satz, daß der Landsturm, wie er hier geplant ist, nicht derjenige Landsturm ist, den wir in den Liedern aus den Befreiungskriegen kennengelernt haben; das ist nicht der Landsturm, von dem es heißt: „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los“; nicht die allgemeine Massenerhebung, wo der Mann, der Greis, der Jüngling, der Knabe, der kaum der Schulstube entwachsen war, ja selbst Frauen und Jungfrauen zur Waffe griffen. – Meine Herren, das war der Landsturm! Diesen Landsturm fürchtet man aber, wie das deutlich ausgedrückt ist in der Rede, welche Feldmarschall Moltke am 16. Februar vorigen Jahres zum Militärgesetzentwurf gehalten hat. Man fürchtet die einmal entfesselte Volkskraft, man weiß nicht, ob man sie Weder beschwichtigen kann. Diejenigen, welche dieses Gesetz eingebracht haben, wollen nicht einen Landsturm, wollen nicht eine organisierte Volkswehr haben, nein, sie wollen bloß, daß das stehende Heer um eine Million, vielleicht gar, wie das neulich ausgesprochen ward, um zwei Millionen vermehrt werden soll. Der Name des Landsturmgesetzes ist überhaupt ein falscher, das Gesetz ist nicht, was es heißt; es bezweckt einfach eine Landwehr zweiten Aufgebots, eine Vermehrung des stehenden Heeres, und nichts weiter.

Den Passus von „auf Schußweite erkennbare Abzeichen“ hat man offenbar eingefügt im Hinblick auf die Vor gänge in Frankreich während des letzten Kriegs; dort war der Volkskrieg, über den man sich neuerdings so geringschätzend auszudrücken gewöhnt hat, trotz schlechter Organisation der deutschen Heerleitung so gefährlich geworden, daß sie sich zu den entsetzlichsten Repressalien veranlaßt gesehen hat; man hat die gefangenen Franktireurs, Männer, die nur das taten, was die Deutschen in den Jahren 1813, 1814 und 1815 getan haben, summarisch erschossen; sie nicht als ehrliche Soldaten betrachtet und behandelt, nicht als Patrioten, die für ihr Vaterland kämpften, sondern als Banditen ...

Präsident: Ich muß den Herrn Redner wiederum unterbrechen. Die letzten Bemerkungen gehören nicht zu Paragraph 5. Ich rufe den Herrn Redner zur Sache und mache ihn aufmerksam auf Paragraph 43 der Geschäftsordnung. Der Paragraph 43 bestimmt: „Der Präsident ist berechtigt, die Redner auf den Gegenstand der Verhandlung zurückzuweisen und zur Ordnung zur rufen. Ist das eine oder das andere in der nämlichen Rede zweimal ohne Erfolg geschehen und fährt der Redner fort, sich vom Gegenstande oder von der Ordnung zu entfernen, so kann die Versammlung auf die Anfrage des Präsidenten ohne Debatte beschließen, daß ihm das Wort über den vorliegenden Gegenstand genommen werden solle, wenn er zuvor auf diese Folge vom Präsidenten aufmerksam gemacht ist.“

Ich konstatiere, daß ich den Herrn Redner einmal zur Ordnung gerufen habe und einmal zur Sache, und werde, wenn er jetzt wieder gegen die Geschäftsordnung fehlt von dem Rechte dieses Paragraphen Gebrauch machen.

Abgeordneter Liebknecht: Das zweite Alinea sagt: „In Fällen außerordentlichen Bedarfs kann die Landwehr aus den Mannschaften des aufgebotenen Landsturmes ergänzt werden, jedoch nur dann, wenn bereits sämtliche Jahrgänge der Landwehr und die verwendbaren Mannschaften der Ersatzreserve einberufen sind.“

In diesem Passus ist es ausdrücklich ausgesprochen, daß der Landsturm nichts anderes ist als eine Vermehrung des stehenden Heeres, als das jüngste Kind, die letzte Konsequenz der Armeeorganisation, von der unser Kollege, der Herr Abgeordnete Gneist, einst gesagt hat: Sie trägt das Kainszeichen des Eidbruchs auf der Stirn. (Unruhe.) Was die Regierung will, ist nichts anderes als eine Verlängerung der Dienstzeit, eine Vermehrung des stehenden Heeres; und wenn gesagt ist, daß bloß bei außerordentlichem Bedarf die Landwehr aus dem Landsturm ergänzt werden kann, so ist der Begriff „außerordentlich“ ein so dehnbarer, daß es ausschließlich von dem Ermessen derjenigen, die momentan die Gewalt haben, abhängt, zu erklären, wann der „außerordentliche Bedarf“ vorhanden ist.

Ich kann mich, da ich an diesen Paragraphen gebunden bin, nicht über die Grundzüge des Gesetzes aussprechen; ich protestiere aber hier von meinem Parteistandpunkte, im Namen meiner Wähler und meiner Partei nicht bloß gegen diesen einzelnen Paragraphen, sondern auch gegen das Gesetz im allgemeinen. Das Landsturmgesetz bedeutet eine schwere Schädigung des Volkes, eine furchtbare Neulast an Blutsteuer und an Geldsteuer, die dem Volk auferlegt wird. Vorhin ist mir freilich gesagt worden, daß es bloße Phrasen seien, wenn man sage, die Steuerschraube sei schon tiefer geschraubt worden, als die Kräfte des Volkes es ertragen können, das Volk erfreue sich des besten Wohlstands. Ich verweise Sie auf die Rede des preußischen Finanzministers [4], die vor einigen Tagen gehalten wurde und zur „großen Bewegung“ des preußischen Landtags die Tatsache enthüllte, daß in Preußen 6½ Millionen Personen nicht zur Klassensteuer herangezogen werden können, weil sie ein Einkommen unter 140 Talern haben. (Gelächter.) Sie lachen, meine Herren! – Es ist das eben eine Tatsache, die in einen entsetzlichen Abgrund des Elends blicken läßt und allerdings die Herren vom Landtage wohl mag in „große Bewegung“ versetzt haben.

Ich werde gegen das Gesetz stimmen; und wenn Ihnen das Wohl des Vaterlandes und das Wohl des Volkes teuer ist, werden Sie ebenfalls gegen das Landsturmgesetz stimmen und es der Regierung vor die Füße werfen.

 

 

Anmerkungen

1. Liebknecht sprach in der dritten Beratung im Deutschen Reichstag zu dem von der Regierung am 29. Oktober 1874 eingebrachten Gesetzentwurf über den Landsturm, der dessen Eingliederung in das preußische Heeressystem vorsah und eine Vergrößerung des stehenden Heeres bedeutete. Das Gesetz wurde am 22. Januar 1875 vom Reichstag mit 198 gegen 84 Stimmen angenommen. Die Sozialdemokraten stimmten dagegen.

2. August Friedrich Wilhelm Grumbrecht (1811-1883), Mitglied der Nationalliberalen Partei.

3. Max v. Forckenbeck (1821-1892), Präsident des Deutschen Reichstages 1874-1879.

4. Otto v. Camphausen (1812-1896), Finanzminister 1869-1878.

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003