Wilhelm Liebknecht

Aufruf zur Reichstagswahl

(15. Oktober 1881)


Dieses Flugblatt trägt den Vermerk „Vereins-Buchdruckerei Hottingen-Zürich“. Es wurde jedoch in Wamsdorf (Böhmen) in 20 000 Exemplaren gedruckt und illegal über die Grenze gebracht, nachdem die Polizei das erste Wahlflugblatt Wilhelm Liebknechts beschlagnahmt hatte. Mit 6231 Stimmen unterlag Liebknecht im Wahlkreis Dresden-Neustadt, er erhielt jedoch das Mandat für Offenbach.
Quelle: Institut für Marxismus Leninismus beim ZK der SED (Hrsgb.): Dokumente und Materialien zur Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung, III, 1871-1898, Dietz 1974, S. 163ff.
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An die Wähler von Neustadt-Dresden und Umgegend!

Von meinen Parteigenossen in Euerem Kreis bin ich als Kandidat für die bevorstehende Reichstagswahl aufgestellt worden, und ich habe mich für verpflichtet gehalten, die Kandidatur anzunehmen.

Durch das Sozialistengesetz verhindert, in offener Volksversammlung mein Programm zu entwickeln, spreche ich durch dieses Flugblatt zu Euch. Viel brauche ich nicht zu sagen, da meine Grundsätze, meine Bestrebungen bekannt sind. Ich bin Sozialdemokrat und werde nach bestem Wissen und Gewissen, falls Ihr mich wählt, im Reichstag für Euere Interessen und die Interessen des Gesamtvolkes eintreten.

Als Sozialdemokrat verurteile ich die heutige Ordnung der Dinge in Staat und Gesellschaft und suche eine durchgehende soziale und politische Umgestaltung herbeizuführen ; mit Reformen, die sich auf Nebensächliches beschränken, ist nichts getan; die Wurzel der Übel, an denen wir kranken, muss ausgerottet werden. Die Anhänger der heutigen Ordnung, die uns als geschlossene Mächte gegenüberstehen, wollen diese Übel erhalten - das ist der Unterschied zwischen uns und unseren Gegnern aller Parteifarben.

Sie haben zwar auch verschiedene Wunderheilmittel, die sie Euch anpreisen, die aber sämtlich bei näherer Prüfung sich als wertlos erweisen. Dem „kleinen Mann“, dem „armen Mann“ kann nur durch den „kleinen Mann“, durch den „armen Mann“ geholfen werden, das heißt durch das Volk. Die Fürsten, Grafen, Rittergutsbesitzer, Fabrikanten, kurz, die Privilegierten und ihr Anhang, welche den „armen“ und „kleinen Mann“ jetzt umschmeicheln, beweisen schon durch ihre gesellschaftliche Stellung, dass ihre Sache nicht die Sache des „armen“, des „kleinen Mannes“ ist. Das erhellt auch aus ihren Heilsvorschlägen, welche die vollständige Unfähigkeit derselben bekunden, die Lage des „armen Mannes“ zu bessern, sein Elend und die Ursachen seines Elends zu begreifen.

Nur eine vernünftige Regelung der Produktion und der gesamten Arbeitsverhältnisse auf genossenschaftlicher Grundlage, nur die systematische Pflege und Förderung der Industrie und des Ackerbaues durch den Staat kann den Arbeiter erlösen, den Handwerker retten, der Massenverarmung steuern.

Die neue Wirtschafts- und Steuerpolitik des Fürsten Bismarck sollte Euch Hilfe bringen. Nun, diese Politik ist seit dritthalb Jahren in Kraft, und was hat sie genützt? Seid Ihr reicher geworden? Hat der Handel, haben die Gewerbe sich gehoben? Hat die „Vagabundage“, haben die Verbrechen abgenommen? Von allem das Gegenteil. Und Ihr wisst das, denn neun Zehntel von Euch leiden aufs empfindlichste unter diesen ungesunden Zuständen.

Die einzige Wirkung der neuen Zoll- und Wirtschaftspolitik ist, dass die Steuern vermehrt und die Preise aller Lebensmittel verteuert worden sind.

Urteilt nicht nach den Versprechungen, urteilt nach den Tatsachen!

Inzwischen steigen die Steuern fortwährend. Im Jahre 1865, also vor dem unheilvollen Bruderkrieg von 1866, betrugen alle Staatsausgaben im jetzigen Reichsgebiete ungefähr 930 Millionen Mark jährlich. Heute sind die Ausgaben für das Reich und die Einzelstaaten auf mindestens 2 100 Millionen Mark jährlich gestiegen, in 15 Jahren also um 125 Prozent, [um] weit mehr als das Doppelte! Das Budget des Reiches ohne [das] der Einzelstaaten betrug 1871 238 Millionen, 1873 388 Millionen, 1877/1878 540 Millionen, 1881/1882 593 Millionen! Von diesen ungeheueren, lawinenartig wachsenden Summen hat das Heerwesen (mit Marine und Militärpensionen) im Jahre 1873 276, im Jahre 1876 378, im Finanzjahre 1877/1878 425 und im Finanzjahre 1881/1882 462 Millionen Mark jährlich verschlungen!

Vom Jahre 1872 bis zum Finanzjahre 1881/1882 sind für Militär- und Marinezwecke 4729 Millionen Mark ausgegeben worden, d.h. eine Summe, fast so groß wie die französischen Milliarden, die ebenfalls fast ausschließlich zu Militär- und Marinezwecken verwandt worden sind. Trotz der französischen Milliarden hat in den letzten 10 Jahren die Person in Deutschland, Mann, Frau und Kind, durchschnittlich - die Bevölkerung zu 44 Millionen geschätzt - über 107 Mark auf den Kopf und jede Familie - die Familie zu 5 Köpfen gerechnet - 537 Mark für Militär- und Marinezwecke entrichten müssen!

Und was ist mit diesen kolossalen Opfern erreicht worden? Nichts als dass, wie man uns versichert, immer neue und größere Opfer gebracht werden müssen, „um Deutschlands Weltstellung zu sichern“.

Ist das auch wahr? Nein! Russland hat nicht die Macht, uns zu bedrohen; Österreich hat weder die Macht noch den Willen, und in Frankreich hat das Volk sich so entschieden von der Revanchepolitik abgewandt, dass nach dieser Seite hin jede Kriegsgefahr verschwunden ist.

Wäre Fürst Bismarck der Mann des Friedens, für den er jetzt ausgegeben wird, so wäre es ihm ein leichtes, eine allgemeine Abrüstung zu erwirken. Allein, er will dies nicht und kann es nicht wollen. Der Mann, dessen Blut-und-Eisen-Politik uns schon drei Kriege gebracht hat, kann unmöglich Zustände herbeiführen, welche den Frieden verbürgen. Der Militarismus aber, dessen Last uns erdrückt, gehört organisch zu dem System Bismarck, das zu seinem Fortbestand eines ungeheueren stehenden Heeres sowohl nach außen als nach innen bedarf.

Sowenig das System Bismarck den Frieden nach außen bedeutet, sowenig bedeutet es den Frieden nach innen. Wohl niemals im Laufe unserer Geschichte ist es vorgekommen, dass die verschiedenen Schichten der Gesellschaft so gegeneinander verhetzt worden sind wie in den letzten Jahren; eine ganze mächtige Partei ist durch das sogenannte Sozialistengesetz proskribiert (geächtet) worden, und an die Sozialistenhetze hat sich als würdige Ergänzung eine Judenhetze angereiht.

Diese empörenden Vorgänge sind nicht zufällig, sie gehören gleichfalls organisch zu dem herrschenden System.

Durch Versprechungen materieller Vorteile soll das immer unzufriedener werdende Volk nun mit dem herrschenden System ausgesöhnt werden. Lasst Euch nicht berücken! Seht Euch die Personen an, welche Euch die Versprechungen machen! Verdienen sie durch ihre Stellung, durch ihre Vergangenheit, durch ihre Handlungen Euer Vertrauen?

Ihr sollt durch die neue Steuerpolitik entlastet werden - sagt man Euch.

Wohlan, die Entlastung besteht darin, dass man dem deutschen Volk an indirekten Steuern, die weit schwerer auf dem „armen Mann“ lasten als die direkten, für 130 Millionen neue Steuern aufgehalst und für 21 Millionen alte direkte Steuern erlassen, also das Volk nach Abzug der erlassenen Steuern um 109 Millionen Mark jährlich mehr belastet hat.

Die Behauptung, dass die indirekten Steuern das Volk nicht drücken, dass sie teils vom Ausland, teils vom Produzenten getragen werden, ist, wie jeder weiß, der die Anfangsgründe der Nationalökonomie kennt, frecher, verlogener Schwindel.

Und diese 109 Millionen genügen nicht. Es sind abermals neue Steuern in Sicht. Die gegenwärtigen Einnahmequellen reichen für das System Bismarck nicht aus: Seiner Natur nach muss es die unproduktiven Ausgaben ins unendliche steigern. Da ist denn Fürst Bismarck auf das Tabakmonopol verfallen. Es soll um jeden Preis durchgesetzt werden. Anfangs hieß es, der Ertrag sei für den „armen Mann“ - zur Errichtung einer Arbeiterinvaliden- und Altersversorgungskasse - bestimmt. Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“, deren Beziehungen kein Geheimnis sind, hat aber ausgeplaudert, dass das Tabakmonopol dazu dienen solle, die Reichsregierung finanziell unabhängig zu machen, das heißt, das Budgetrecht des Reichstags zu vernichten. Der „arme Mann“, dem geholfen werden soll, ist demnach Fürst Bismarck.

Dieselbe „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ hat die Schamlosigkeit gehabt, offen zu erklären, dass die Tabakfabrikanten und sonstigen Tabakinteressenten gar kein Recht auf Entschädigung hätten - das ist ja die Logik eines Schinderhannes, die reine Räuberpolitik, von der jeder ehrliche Mann sich mit Entrüstung abwenden muss.

„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“

Vor dem „Staatssozialismus“ des Fürsten Bismarck brauche ich Euch nicht zu warnen. Die deutschen Arbeiter, deren Stimmen man fangen will, wissen, was sie von dem Köder zu halten haben. Die eine Tatsache, dass Fürst Bismarck der Urheber des Sozialistengesetzes ist, genügt, den Staatssozialismus des Fürsten Bismarck zu beurteilen, und legt die innersten Beweggründe bloß: Der Arbeiter soll unter das Doppeljoch ökonomischer und politischer Sklaverei gezwängt werden. Kein deutscher Arbeiter wird sich durch ein solches Danaergeschenk bestechen lassen; und wenn wirkliche Vorteile geboten werden, so wird er sie zwar selbstverständlich nicht von sich weisen, allein auch die Motive und Zwecke nicht aus den Augen verlieren.

Genug - lasst Euch nicht durch Schmeicheleien und trügerische Versprechungen vom Wege ablenken, den Euer Interesse Euch vorzeichnet, und lasst Euch nicht einschüchtern!

Wie ich höre, wird von Gegnern, die den Sieg ihrer Sache mit ehrlichen Mitteln nicht [für] möglich halten, das alberne Märchen aufgetischt, meine Wahl werde die Verhängung des Kleinen Belagerungszustandes zur Folge haben.

Ganz das Gegenteil ist der Fall. Mein Gegner ist einer der Geburtshelfer des Sozialistengesetzes ; wer für ihn stimmt, gibt ein Votum zugunsten des Belagerungszustandes ab; wer dagegen für mich stimmt, der erhebt durch sein Votum Protest gegen den Belagerungszustand. Es ist aber klar, dass die sächsische Regierung eher geneigt sein wird, den Belagerungszustand zu proklamieren, wenn die Mehrheit der Wähler durch Wahl eines Anhängers des Belagerungszustandes sie förmlich dazu auffordert, als wenn die Mehrheit des Volkes Verwahrung gegen den Belagerungszustand einlegt. Oder will man behaupten, die sächsische Regierung kümmere sich nicht um die Stimme des Volkes?!

Von jedem Versuch der Wahlbeeinflussung bitte ich mich schleunigst in Kenntnis zu setzen, da ich entschlossen bin, derlei gesetzwidriges Beginnen im Landtag zu brandmarken und die gebührende Bestrafung zu fordern.

Nachstehend in kurzen Worten mein Wahlprogramm:

Keine neuen Steuern! Kein Tabakmonopol!

Ersetzung der indirekten Steuern in jeder Gestalt durch eine einheitliche progressive Einkommensteuer.

Gerechte Verteilung der Steuerlast, namentlich auch in Armensteuern, die auf den Staat zu übertragen sind.

Beseitigung des Militarismus und Einführung der allgemeinen Volksbewaffnung. Kein besonderer Wehrstand, dessen Existenz sich mit Friede und Freiheit nicht verträgt: Jeder Bürger Soldat, jeder Soldat Bürger!

Hebung der Volksschulen, Errichtung von Fachschulen, unentgeltlicher Schulunterricht.

Abschaffung aller Ausnahmegesetze.

Planmäßige Hebung und Unterstützung der Landwirtschaft und der Industrie durch den Staat.

Eine Arbeitergesetzgebung auf demokratischer Grundlage, welche dem Arbeiter möglichst die Früchte seiner Arbeit sichert, ihn zum Herrn seines Eigentums macht, während der Arbeit ihm möglichsten Schutz für Leben und Gesundheit verleiht und ihn so stellt, dass er ohne Sorgen dem Alter entgegensehen kann.

Kein reaktionärer Staatssozialismus, der das Grab der Freiheit wäre.

Vereinfachung der Gesetze und unentgeltliche Rechtspflege.

Erweiterung der Volksrechte - Bekämpfung jedes Attentats auf die Freiheit!

Gleiche Rechte und gleiche Pflichten! Freiheit, Friede, allgemeiner Wohlstand mit allgemeiner Bildung!

Das ist mein Programm.

Meine Vergangenheit bürgt dafür, dass ich mit allem Ernst und aller Kraft für dieses Programm eintreten werde.

Wer es billigt, wer die Notwendigkeit eines Bruchs mit dem herrschenden System begriffen hat, der gebe mir am 27. Oktober dieses Jahres seine Stimme!

Borsdorf bei Leipzig, den 15. Oktober 1881

Wilhelm Liebknecht

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2007