Wilhelm Liebknecht


Die Sozialdemokratie in Oberschlesien

Eine Erwiderung

(August 1898)


Quelle: Sozialistische Monatshefte, Jg. 1898, Nr.8, August 1898, S.366-367.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


In der Julinummer der Sozialistischen Monatshefte schreibt Genoase August Winter in einem Artikel über die Sozialdemokratie in Oberschlesien:

„Die polnische sozialistische Partei betonte bis zuletzt (noch auf dem Hamburger Parteitag, cfr. Antrag Berfus), dass Oberschlesien anders zu behandeln sei als andere Gegenden. Nur polnische Agitatoren und Reichstagskandidaten könnten dort etwas ausrichten; auch sei es nöthig, der sozialdemokratischen Agitation einige national polnische Reizmittel beizumischen, da sonst die Erfolge noch geringfügiger als bisher ausfallen dürften. Bekanntlich war Liebknecht einer der eifrigsten Fürsprecher für den Antrag Berfus und das, was hinter ihm steckt.“

Allerdings betonten die polnischen Sozialisten, dass Oberschlesien anders zu behandeln sei als andere Gegenden. Und das betonen sie auch heute noch, soviel ich weiss, denn Kreise mit überwiegend polnischer Bevölkerung müssen natürlich anders behandelt werden, als solche mit bloss deutscher Bevölkerung. Und allerdings habe ich den Antrag Berfus seinem Inhalte nach (und wohl auch sammt Allem, „was hinter ihm steckt“) befürwortet, und zwar deshalb, weil es nothwendig geworden war, den nationalkulturkämpferischen Bestrebungen einiger in Oberschlesien lebender Genossen entgegenzutreten. Der Antrag Berfus besagte, dass in den vorwiegend polnischen Kreisen nur polnisch redende (nicht polnische, wie August Winter schreibt), das heisst der polnischen Sprache mächtige Reichstagskandidaten zu verwenden seien – ein Antrag, so selbstverständlich, dass ich wegen seiner Selbstverständlichkeit zur Zurückziehung rieth.

Es gelang dann auch zwischen den deutschen und polnischen Genossen in Oberschlesien ein besseres Verhaltniss herbeizuführen. Dass die Polen das gleiche Recht auf ihre Sprache haben, wie wir Deutsche auf die unserige, das bedarf für einen Sozialisten keiner Begründung, obgleich manche Sozialisten es nicht begriffen zu haben scheinen. Den polnischen Genossen, weil sie sich der Germanisirung oder richtiger Verpreussung widersetzen, national polnische Tendenzen unterschieben, ist durchaus ungerecht: der Sozialismus unserer polnischen Genossen steht sicher nicht zurück hinter dem Sozialismus des Genossen August Winter. Und ohne die polnischen Sozialisten würden die Erfolge der letzten Reichstagswahl in Oberschlesien nicht möglich gewesen sein. Diese Erfolge sind übrigens nicht einer neu entdeckten Taktik zu verdanken, sondern der fortschreitenden ökonomischen Entwickelung, welche polnische und deutsche Proletarier zum Sozialismus drängt. Wenn jetzt das Steigen der sozialistischen Stimmen in Oberschlesien von 4.969 auf 25.789 als ein grosser Triumph hingestellt wird, so habe ich dagegen nichts einzuwenden bitte jedoch zu bedenken, dass die Agitation in Oberschlesien nicht mit der Wahl von 1893 beginnt. Ich erlaube mir auf folgende Ziffern zu verweisen:

Bei der Wahl von 1884 hatten wir in Oberschltesien 27 Stimmen; 1887 294; 18090 3.976. Zwischen 1887 und 1890 haben wir ein Wachsthum um das Dreizehnfache, während das Wachsthum zwischen 1893 und 1898 nur das Fünffache beträgt. Dass das Wachsthum zwischen 1890 und 1893 nur ein geringes war, hat eben in „nationalen“ und sonstigen Zänkereien seinen Grund, die später nachgelassen haben. Ich hoffe, von deutsch nationalem Sozialismus und deutsch nationalen „Reizmitteln“ werden wir künftig ebensowenig zu hören bekommen, wie von polnisch nationalem Sozialismus und polnisch nationalen „Reizmitteln“. Es giebt nur einen Sozialismus, dieser erkennt aber die Gleichberechtigung aller Menschen „ohne Unterschied des Geschlechts und der Abstammung“ an.

Im Uebrigen verweise ich auf das, was ich in Hamburg gesagt habe.


Zuletzt aktualisiert am 3.10.2008