Wilhelm Liebknecht

An den Jahreskongress der französischen Arbeiterpartei

(10. August 1899)


Brief Wilhelm Liebknechts an den Jahreskongress der französischen Arbeiterpartei  (Le  Parti ouvrier  francais)  in  Épernay   über  den  Eintritt A.-E. Millerands in die bürgerliche Regierung und über die Einheit der Partei[1*]
Quelle: Institut für Marxismus Leninismus beim ZK der SED (Hrsgb.): Dokumente und Materialien zur Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung, IV, 1898-1914, Dietz 1967, s. 31f
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Meine Freunde!

Sie wissen, dass ich es mir zur Pflicht gemacht habe, mich in die Angelegenheiten der Sozialisten anderer Länder nicht einzumischen. Aber da Sie meine Meinung über die brennenden Fragen, die Ihren Kongress und das ganze arbeitende und sozialistische Frankreich beschäftigen, zu kennen wünschen und da diejenigen Ihrer sozialistischen Landsleute, die in Bezug auf diese Fragen anderer Ansicht sind als Sie, sich ebenfalls an mich gewandt haben, so habe ich keinen Grund, mit meiner Meinung zurückzuhalten. Und es ist im Grunde doch auch keine uns Deutschen fremde Angelegenheit, die Sie jetzt in Frankreich beschäftigt.

Die Internationalität des Sozialismus ist eine Tatsache, die sich von Tag zu Tag mehr fühlbar und geltend macht. Wir Sozialisten sind eine Nation für uns - eine und dieselbe internationale Nation in allen Ländern der Erde. Und die Kapitalisten mit ihren Agenten, Werkzeugen und getäuschten Gläubigen (dupes) sind ebenfalls eine internationale Nation, so dass wir in Wahrheit sagen können: Es gibt heute nur noch zwei Nationen in allen Ländern, die eine die andere bekämpfend in dem großen Klassenkampf, welcher die neue Revolution ist - dem Klassenkampf, welcher gekämpft wird einerseits von dem Proletariat, vertretend den Sozialismus, andererseits von der Bourgeoisie, vertretend den Kapitalismus.

Und da der Kapitalismus die bürgerliche Welt (der Bourgeoisie) beherrscht, so sind, solange der Kapitalismus herrscht, mit Notwendigkeit alle Staaten Klassenstaaten und alle Regierungen Klassenregierungen, dienend den Zwecken und Interessen der herrschenden Klasse und bestimmt, den Klassenkampf für die Bourgeoisie gegen das Proletariat zu führen - für den Kapitalismus gegen den Sozialismus, für unsere Feinde gegen Euch, gegen uns. Vom Standpunkte des Klassenkampfes, dieser Grundlage des kämpfenden (militant) Sozialismus, ist das eine Wahrheit, welche durch die Logik des Gedankens und der Tatsachen über jeden Zweifel hinausgehoben ist. Ein Sozialist, der in eine Bourgeoisregierung eintritt, geht entweder zum Feind über, oder er gibt sich in die Gewalt des Feindes. In jedem Fall trennt ein Sozialist, der Mitglied einer Bourgeoisregierung wird, sich von uns, den kämpfenden Sozialisten. Er mag sich noch für einen Sozialisten halten, ist es aber nicht mehr; er kann von seiner Ehrlichkeit überzeugt sein, aber dann hat er nicht das Wesen des Klassenkampfes begriffen - nicht begriffen, dass der Sozialismus den Klassenkampf zur Grundlage hat.

Heutzutage, unter der Herrschaft des Kapitalismus, kann eine Regierung, selbst wenn sie voll Philanthropie und von den besten Absichten beseelt ist, nichts Ernsthaftes für unsere Sache tun. Man muss sich vor Illusionen (Selbsttäuschungen) hüten. Schon vor Jahrzehnten sagte ich: Wenn der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert ist, so der Weg zu Niederlagen mit Illusionen. In der heutigen Gesellschaft ist eine nichtkapitalistische Regierung eine Unmöglichkeit. Und der unglückliche Sozialist, den der Zufall in eine solche Regierung wirft, ist, wenn er seine Klasse nicht verraten will, zur Ohnmacht verurteilt. Die englische Bourgeoisie hat das Kunststück, die Opposition durch Teilnahme an der Regierung zu lähmen, seit einem Jahrhundert gelernt, und es ist in England traditionelle Praxis aller Regierungen, dass das radikalste Mitglied der Opposition, welches naiv genug ist, sich zu dem Spiel herzugeben, in die Regierung genommen wird. Der Mann dient den „Kollegen“ als Deckung und entwaffnet seine Freunde, die nicht auf ihn schießen können - wie man in der Schlacht nicht auf die Geiseln schießen kann, die der Feind vor sich gestellt hat.

Das meine Antwort auf die Frage, betreffend den Eintritt eines Sozialisten in eine Bourgeoisregierung.

Jetzt zu der zweiten Frage: der Frage der Einheit und Einigung. Die Antwort wird mir diktiert durch die Prinzipien und die Interessen der Partei. Ich bin für die Einheit der Partei - für die nationale und internationale Einheit der Partei. Aber es muss die Einheit des Sozialismus und der Sozialisten sein. Die Einheit mit Gegnern, mit Leuten, die andere Ziele und andere Interessen haben, ist keine sozialistische Einheit. Wir müssen unsere Einheit um jeden Preis und mit allen Opfern erstreben. Aber damit wir uns einigen und organisieren können, haben wir aller fremden und feindlichen Elemente uns zu entledigen. Was würde man von einem General sagen, der in Feindesland die Reihen seiner Armee mit Rekruten aus den Reihen der Feinde füllen wollte? Wäre das nicht der Gipfel der Torheit? Wohlan: In unsere Armee - das ist in unsere Partei, die eine Armee ist für den Klassenkampf und Klassenkrieg - in unsere Armee Gegner hereinziehen, Soldaten mit den unsrigen entgegengesetzten Zielen und Interessen - das wäre Wahnsinn, das wäre Selbstmord.

Auf dem Boden des Klassenkampfes sind wir unbesiegbar; verlassen wir ihn, so sind wir verloren, weil wir keine Sozialisten mehr sind. Die Kraft und Macht des Sozialismus besteht in der Tatsache, dass wir einen Klassenkampf führen, dass die arbeitende Klasse durch die Kapitalistenklasse ausgebeutet und unterdrückt wird und dass in der kapitalistischen Gesellschaft wirksame Reformen, welche der Klassenherrschaft und Klassenausbeutung ein Ende machen, unmöglich sind.

Wir können nicht mit unseren Prinzipien schachern, wir können keinen Kompromiss, keinen Vertrag mit dem herrschenden System schließen. Wir müssen mit dem herrschenden System brechen, es auf Leben und Tod bekämpfen. Es muss fallen, damit der Sozialismus siegen kann; und von der herrschenden Klasse können wir doch wahrhaftig nicht erwarten, dass sie selber sich und ihrer Herrschaft den Gnadenstoß gibt. Die Internationale Arbeiter-Assoziation hat deshalb den Arbeitern gepredigt: Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein.

Kein Zweifel, es gibt Bourgeois, die aus Rechtsgefühl und Menschlichkeit sich auf seilen der Arbeiter und Sozialisten stellen, allein das sind nur Ausnahmen - die Masse der Bourgeoisie hat Klassenbewusstsein, das Bewusstsein der herrschenden und ausbeutenden Klasse. Ja die Masse der Bourgeoisie hat, weil herrschende Klasse, ein viel schärferes und stärkeres Klassenbewusstsein als das Proletariat.

Ich schließe - Sie haben mich um meine Meinung befragt, ich habe sie Ihnen gesagt. An Ihnen ist es zu tun, was die Prinzipien und das Interesse der Partei Ihnen zu tun gebieten.

Brüderlichen Gruß dem Kongress von Épernay. Hoch das Frankreich der Sozialisten und Arbeiter! Hoch der internationale Sozialismus!

Weimar, den 10. August 1899

W. Liebknecht

 

Anmerkungen der Herausgeber

[1*]Am 22. Juni 1899 trat der Sozialist A. E.Millerand in das bürgerliche Kabinett Waldeck-Rousseau ein. Dieser praktische Schritt des Opportunismus löste in der internationalen Arbeiterbewegung lebhafte Debatten aus.

 


Zuletzt aktualisiert am 17.11.2007