Georg Lukács

 

Methodisches zur Organisationsfrage

 

1.

Die Probleme der Organisation, obwohl sie zeitweilig – wie z.B. als die Anschlußbedingungen diskutiert wurden – im Vordergrund der Kämpfe standen, gehören zu den Fragen, die theoretisch am allerwenigsten durchgearbeitet sind. Die Konzeption der Kommunistischen Partei, befehdet und verleumdet bei allen Opportunisten, instinktiv aufgegriffen und zu eigen gemacht von den besten revolutionären Arbeitern, wird trotzdem noch häufig als eine bloß technische Frage und nicht als eine der wichtigsten geistigen Fragen der Revolution behandelt. Nicht als ob die Materialien zu einer solchen theoretischen Vertiefung der Organisationsfrage fehlen würden. Die Thesen des II. und des III. Kongresses, die Richtungskämpfe der russischen Partei, die praktischen Erfahrungen der letzten Jahre bieten ein überreichliches Material. Aber es scheint, als ob das theoretische Interesse der kommunistischen Parteien (die russische immer ausgenommen) von den Problemen der wirtschaftlichen und politischen Weltlage, von den aus ihr zu ziehenden taktischen Folgerungen und ihrer theoretischen Begründung so sehr in Anspruch genommen wären, daß kein lebendiges und lebhaftes theoretisches Interesse für die Verankerung der Organisationsfrage in der kommunistischen Theorie übrig bliebe. So daß vieles, was hier richtig geschieht, mehr aus einem revolutionären Instinkte heraus richtig ist, als aus einer klaren theoretischen Einstellung. Andererseits lassen sich viele taktisch falsche Einstellungen, z.B. in den Einheitsfrontdebatten, auf unrichtige Auffassung der Organisationsfragen zurückführen.

Diese „Unbewußtheit“ in den Organisationsfragen ist aber ganz bestimmt ein Zeichen der Unreife der Bewegung. Denn Reife oder Unreife lassen sich eigentlich nur daran ermessen, ob eine Einsicht oder Einstellung über das, was zu tun ist, für das Bewußtsein der handelnden Klasse und ihrer führenden Partei in einer abstrakt-unmittelbaren oder konkret-vermittelten Form vorhanden ist. D.h., solange ein zu erreichendes Ziel in noch unerreichbarer Ferne liegt, können zwar besonders Scharfsichtige das Ziel selbst, sein Wesen und seine gesellschaftliche Notwendigkeit bis zu einem gewissen Grade klar sehen. Sie werden aber dennoch unfähig sein, die konkreten Schritte, die zum Ziele führen könnten, die konkreten Mittel, die aus ihrer – eventuell – richtigen Einsicht zu gewinnen wären, sich selbst bewußt zu machen. Zwar können auch die Utopisten den Tatbestand, von dem ausgegangen werden muß, richtig sehen. Was sie zu bloßen Utopisten macht, ist, daß sie ihn nur als Tatsache, oder höchstens als zur Lösung aufgegebenes Problem zu sehen imstande sind, ohne zur Einsicht gelangen zu können, daß gerade hier, gerade im Problem selbst, sowohl die Lösung, wie der Weg zur Lösung mitgegeben sind. So „sehen sie im Elend nur das Elend, ohne die revolutionäre umstürzende Seite darin zu erblicken, welche die alte Gesellschaft über den Haufen werfen wird“. [1] Der hier hervorgehobene von doktrinärer und revolutionärer Wissenschaft geht aber über den von Marx analysierten Fall hinaus und erweitert sich zu einem typischen Gegensatz in der Bewußtseinsentwicklung der revolutionären Klasse. Mit dem Fortschritt auf dem Wege zur Revolutionierung des Proletariats verlor das Elend seinen bloßen Gegebenheitscharakter und ist in die lebendige Dialektik des Handelns einbezogen worden. Aber an seine Stelle treten – je nach dem Stadium, in dem sich die Entwicklung der Klasse befindet – andere Inhalte, denen gegenüber das Verhalten der proletarischen Theorie eine sehr ähnliche Struktur aufweist, wie die, die hier von Marx analysiert wurde. Denn es wäre eine utopistische Illusion, zu glauben, daß die Überwindung des Utopismus durch die gedankliche Überwindung seiner ersten primitiven Erscheinungsform, die Marx hier vollzogen hat, für die revolutionäre Arbeiterbewegung bereits vollbracht worden ist. Diese Frage, die letzten Endes die Frage der dialektischen Beziehung von „Endziel“ und „Bewegung“, die Frage der Beziehung von Theorie und Praxis ist, wiederholt sich in immer entwickelterer Form, allerdings mit stets wechselnden Inhalten, auf jeder enscheidenden Stufe der revolutionären Entwicklung. Denn eine Aufgabe wird in ihrer abstrakten Möglichkeit immer früher sichtbar, als die konkreten Formen ihrer Verwirklichung. Und die Richtigkeit oder Falschheit der Fragestellungen wird eigentlich erst wirklich diskutabel, wenn dieses zweite Stadium erreicht ist, wenn jene konkrete Totalität erkennbar wird, die Umwelt und Weg zu ihrer Verwirklichung zu sein bestimmt ist. So ist der Generalstreik in den ersten Debatten der II. Internationale eine rein abstrakte Utopie gewesen, die erst durch die erste russische Revolution, durch den belgischen Generalstreik usw. die Umrisse einer konkreten Form erlangt hat. So mußten jedes Jahr des akut revolutionären Kampfes vergehen, bevor der Arbeiterrat seinen utopisch-mythologischen Charakter als Allheilmittel für alle Fragen der Revolution verloren hat und als das, was er ist, für das außerrussische Proletariat sichtbar wurde. (Womit ich keineswegs behaupten will, daß dieser Klärungsprozeß schon abgeschlossen ist; Ich bezweifle es sogar sehr, doch da der Arbeiterrat hier nur als Beispiel herbeigezogen wurde, soll darauf nicht näher eingegangen werden.)

Gerade die Fragen der Organisation sind am längsten in einem solchen utopischen Halbdunkel geblieben. Dies ist kein Zufall. Denn die Entwicklung der großen Arbeiterparteien vollzog sich zumeist in Zeiten, in denen die Frage der Revolution nur als eine sämtliche Handlungen des täglichen Lebens unmittelbar bestimmende Frage galt. Wo es also nicht notwendig schien, sich das Wesen und den voraussichtlichen Gang der Revolution theoretisch konkret klar zu machen, um daraus Folgerungen auf die Art, wie der bewußte Teil des Proletariats darin bewußt zu handeln hat, zu ziehen. Die Frage der Organisation einer revolutionären Partei läßt sich aber nur aus einer Theorie der Revolution selbst organisch entwickeln. Erst wenn die Revolution zur Tagesfrage geworden ist, wird die Frage der revolutionären Organisation mit gebieterischer Notwendigkeit ins Bewußtsein der Massen und ihrer theoretischen Wortführer gerückt.

Aber auch dann bloß allmählich. Denn selbst die Tatsache der Revolution, selbst die Notwendigkeit, zu ihr als aktueller Tagesfrage Stellung zu nehmen, wie dies zur Zeit und nach der ersten russischen Revolution der Fall war, konnte hier keine richtige Einsicht erzwingen. Teilweise freilich deshalb, weil der Opportunismus bereits so tief in den proletarischen Parteien Wurzel gefaßt hat, daß dadurch eine richtige theoretische Erkenntnis der Revolution unmöglich geworden ist. Aber selbst dort, wo dieses Motiv vollkommen gefehlt hat, wo eine klare Erkenntnis über die bewegenden Kräfte der Revolution vorhanden war, konnte diese sich nicht zur Theorie der revolutionären Organisation entwickeln. Hier stand, teilweise wenigstens, gerade der unbewußte, theoretisch unverarbeitete, bloß gewachsener Charakter der vorhandenen Organisation im Wege der prinzipiellen Klarheit. Denn die russische Revolution hat die Grenzen der westeuropäischen Organisationsformen klar enthüllt. Das Problem der Massenaktionen, des revolutionären Massenstreiks zeigt ihre Ohnmacht den spontanen Bewegungen der Massen gegenüber; erschüttert die opportunistische Illusion, die in dem Gedanken der „organisatorischen Vorbereitung“ solcher Aktionen steckt; erweist, daß solche Organisationen den realen Aktionen der Masse stets nur nachhinken, sie hemmen und hindern, statt sie fördern oder gar führen zu können. Rosa Luxemburg, die die Bedeutung der Massenaktionen am klarsten sieht, geht weiter über diese bloße Kritik hinaus. Sie erblickt die Schranke des bis dahin üblichen Organisationsgedankens sehr scharf in seiner falschen Beziehung zur Masse: „Die Überschätzung und die falsche Einschätzung der Rolle der Organisation im Klassenkampfe des Proletariats“ sagt sie [2], „wird gewöhnlich ergänzt durch die Geringschätzung der unorganisierten Proletariermasse und ihrer politischen Reife.“ Ihre Folgerungen geben also einerseits auf die Polemik gegen diese Überschätzung der Organisation, andererseits auf die Bestimmung der Aufgabe der Partei, die „nicht in der technischen Vorbereitung und Leitung des Massenstreikes, sondern vor allem in der politischen Führung der ganzen Bewegung bestehen“ soll. [3]

Damit war ein großer Schritt in der Richtung auf klare Erkenntnis der Organisationsfrage getan: indem die Organisationsfrage aus ihrer abstrakten Isoliertheit herausgerissen wurde (Aufhören der „Überschätzung“ der Organisation), ist der Weg beschritten worden, ihr die richtige Funktion im Revolutionsprozeß zuzuweisen. Dazu wäre es aber notwendig gewesen, daß Rosa Luxemburg die Frage der politischen Führung wieder organisatorisch wendet: daß sie jene organisatorischen Momente aufdeckt, die die Partei des Proletariats zur politischen Führung befähigen. Was sie daran verhindert hat, diesen Schritt zu tun, ist an anderer Stelle ausführlich behandelt worden. Hier muß nur darauf hingewiesen werden, daß dieser Schritt schon einige Jahre früher getan wurde: in dem Organisationsstreit der russischen Sozialdemokratie; daß Rosa Luxemburg ihn genau gekannt, sich jedoch in dieser einen Frage auf die Seite der rückständigen, der die Entwicklung hemmende Richtung (der Menschewiki) gestellt hat. Es ist nun keineswegs zufällig, daß die Punkte, die die Spaltung der russischen Sozialdemokratie hervorgebracht haben, einerseits die Auffassung des Charakters der kommenden Revolution und die daraus folgenden Aufgabe (Koalition mit der „progressiven Bourgeoisie oder Kampf an der Seite der Bauernrevolution ), andererseits die Organisationsfragen gewesen sind. Für die außerrussische Bewegung ist es aber verhängnisvoll geworden, daß die Einheit, die unzertrennliche, dialektische Zusammengehörigkeit beider Fragen damals von keinem (Rosa Luxemburg mitinbegriffen) verstanden wurde. Denn dadurch wurde nicht nur versäumt, die Fragen der revolutionären Organisation wenigstens propagandistisch im Proletariate zu verbreiten, um es auf diese Weise wenigstens geistig auf das Kommende vorzubereiten (mehr war damals kaum möglich), sondern selbst die richtigen politischen Einsichten von Rosa Luxemburg, Pannekoek und anderer konnten sich – auch als politische Richtungen – nicht hinreichend konkretisieren; sie blieben, nach Rosa Luxemburgs Worten, latent, bloß theoretisch, ihre Verbindung mit der konkreten Bewegung hat einen noch immer utopischen Charakter beibehalten. [4]

Denn die Organisation ist die Form der Vermittlung zwischen Theorie und Praxis. Und wie in jedem dialektischen Verhältnis erlangen auch hier die Glieder der dialektischen Beziehung erst in und durch ihre Vermittlung Konkretion und Wirklichkeit. Dieser Theorie und Praxis vermittelnde Charakter der Organisation zeigt sich am deutlichsten darin, daß die Organisation für voneinander abweichende Richtungen eine viel größere, feinere und sicherere Empfindlichkeit zeigt, als jedes andere Gebiet des politischen Denkens und Handelns. Während in der bloßen Theorie die verschiedenartigsten Anschauungen und Richtungen friedlich nebeneinander leben können, ihre Gegensätze nur die Form von Diskussionen aufnehmen, die sich ruhig im Rahmen einer und derselben Organisation abspielen können, – ohne diese sprengen zu müssen, stellen sich dieselben Fragen, wenn sie organisatorisch gewendet sind, als schroffe, einander ausschließende Richtungen dar. Aber jede „theoretische“ Richtung oder Meinungsverschiedenheit muß augenblicklich ins Organisatorische umschlagen, wenn sie nicht bloße Theorie, abstrakte Meinung bleiben will, wenn sie wirklich die Absicht hat: den Weg zu ihrer Verwirklichung zu zeigen. Es wäre aber ebenfalls ein Irrtum, zu glauben, daß das bloße Handeln, die bloße Aktion einen wirklichen und zuverlässigen Maßstab für die Richtigkeit der einander bekämpfenden Anschauungen oder selbst für ihre Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit abzugeben fähig ist. Eine jede Aktion ist – an und für sich – ein Gewirr von einzelnen Handlungen einzelner Menschen und Gruppen, das in gleich falscher Weise sowohl als gesellschaftlich-geschichtlich völlig hinreichend motiviertes, „notwendiges“ Geschehen, wie als Folge von „Fehlern“ beziehungsweise von „richtigen“ Entschlüssen Einzelner aufgefaßt werden kann. Dieses an sich wirre Gefühl gewinnt erst Sinn und Wirklichkeit, wenn es in seiner geschichtlichen Totalität, also in seiner Funktion im Geschichtsprozesse, in seiner Vergangenheit und Zukunft vermittelnden Rolle aufgefaßt wird. Eine Fragestellung aber, die die Erkenntnis einer Aktion, als die Erkenntnis ihrer Lehren für die Zukunft, als Antwort auf die Frage: „was nun zu tun sei?“ auffaßt, stellt das Problem bereits organisatorisch. Sie versucht, in der Erwägung der Lage, in der Vorbereitung und Führung der Aktion jene Momente aufzufinden, die von der Theorie notwendig zu einem ihr möglichst angemessenen Handeln geführt haben; sie sucht also die wesentlichen Bestimmungen auf, die Theorie und Praxis verbinden.

Es ist klar, daß eine wirklich fruchtbare Selbstkritik, ein wirkliches fruchtbares Aufdecken der „Fehler“, die begangen wurden, nur auf diese Weise möglich ist. Die Anschauung von der abstrakten „Notwendigkeit“ des Geschehens führt Zum Fatalismus; die bloße Annahme, daß „Fehler“ oder Geschicklichkeit Einzelner das Gelingen oder Versagen verursacht haben, kann wiederum für das kommende Handeln keine entscheidend fruchtbaren Lehren bieten. Es wird von diesem Standpunkt doch als mehr oder weniger „zufällig“ erscheinen müssen, daß gerade dieser oder jener an diesem oder jenem Punkt gestanden ist, diesen oder jenen Fehler gemacht hat usw. Die Feststellung eines solchen Fehlers kann nicht weiter als zur Feststellung, daß die betreffende Person für ihren Posten untauglich war, führen zu einer Einsicht, die, wenn richtig, nicht wertlos, aber für die wesentliche Selbstkritik doch nur sekundär ist. Gerade die übertriebene Bedeutung, die eine solche Betrachtung den einzelnen Personen gibt, zeigt, daß sie die Rolle dieser Personen, ihre Möglichkeit, so entscheidend und auf solche Weise die Aktion zu bestimmen, nicht zu objektivieren fähig ist, daß sie sie ebenso fatalistisch hinnimmt, wie der objektive Fatalismus das ganze Geschehen hingenommen hat. Wird aber diese Frage über das bloß Einzelne und Zufällige hinausgetrieben, wird in dem richtigen oder fehlerhaften Handeln einzelner Personen zwar eine mitbestimmende Ursache des ganzen Komplexes erblickt, aber darüber hinaus der Grund untersucht, welche die objektiven Möglichkeiten ihres Handelns und die objektiven Möglichkeiten der Tatsache waren, daß gerade diese Personen auf diesen Posten standen usw. – so ist die Frage bereits wieder organisatorisch gestellt. [5] Denn in diesem Falle wird die Einheit, die die Handelnden miteinander in ihrer Aktion verknüpft hat, bereits als objektive Einheit des Handelns, auf ihre Tauglichkeit für dieses bestimmte Handeln untersucht; es wird die Frage gestellt, ob die organisatorischen Mittel des Umsetzens der Theorie in die Praxis die richtigen gewesen sind.

Freilich kann der „Fehler“ in der Theorie, in der Zielsetzung oder in der Erkenntnis der Lage selbst liegen. Jedoch nur eine organisatorisch orientierte Fragestellung macht es möglich, die Theorie vom Gesichtspunkt der Praxis aus wirklich zu kritisieren. Wird die Theorie unvermittelt neben eine Aktion gestellt, ohne daß es klar würde, wie ihre Einwirkung auf jene gemeint ist, also ohne die organisatorische Verbindung zwischen ihnen klar zu machen, so kann die Theorie selbst nur in bezug auf ihre immanenten theoretischen Widersprüche usw. kritisiert werden. Diese Funktion der organisatorischen Fragen macht es verständlich, daß der Opportunismus seit jeher die größte Abneigung dagegen empfand, aus theoretischen Differenzen organisatorische Folgerungen zu ziehen. Die Haltung der deutschen Rechtsunabhängigen und der Serratianer zu den Aufnahmebedingungen des II. Kongresses, ihre Versuche, die sachlichen Differenzen zur kommunistischen Internationale vom Gebiet der Organisation auf das Gebiet des „rein Politischen“ hinüberzuspielen, ging von ihrem richtigen opportunistischen Gefühl aus, daß auf diesem Gebiet die Differenzen sehr lange in einem latenten, praktisch unausgetragenem Zustand verharren können, während die organisatorische Fragestellung des II. Kongresses eine augenblickliche und klare Entscheidung erzwingen mußte. Diese Haltung ist aber nichts Neues. Die ganze Geschichte der zweiten Internationale ist voll von solchen Versuchen, die verschiedenartigsten, sachlich scharf auseinandergehenden, einander ausschließenden Anschauungen in der theoretischen „Einheit“ eines Beschlusses, einer Resolution so zusammenzufassen, daß ihnen allen Rechnung getragen wird. Was dann zur selbstverständlichen Folge hat, daß solche Beschlüsse keine Richtung für das konkrete Handeln weisen, ja gerade in dieser Hinsicht stets mehrdeutig bleiben und die verschiedenartigsten Auslegungen gestatten. Die II. Internationale konnte also – eben weil sie in solchen Beschlüssen allen organisatorischen Folgerungen geflissentlich aus dem Wege ging – sich theoretisch auf sehr vieles einlassen, ohne sich im geringsten auf etwas Bestimmtes festlegen und verpflichten zu müssen. So konnte z.B. die sehr radikale Stuttgarter Resolution über den Krieg, in der aber keine organisatorischen Verpflichtungen auf ein konkretes, bestimmtes Handeln, keine organisatorischen Richtlinien, wie gehandelt werden sollte, keine organisatorischen Garantien für das tatsächliche Verwirklichen des Beschlusses enthalten waren, angenommen werden. Die opportunistische Minderheit zog keine organisatorischen Konsequenzen aus ihrer Niederlage, – weil sie empfand, daß der Beschluß selbst keine organisatorischen Konsequenzen haben würde. Darum konnten aber, nach dem Zerfall der Internationale, sich alle Richtungen auf sie berufen.

Der Schwächepunkt von allen außerrussischen radikalen Richtungen der Internationale lag also darin, daß sie ihre vom Opportunismus der offenen Revisionisten und des Zentrums abweichenden, revolutionären Stellungnahmen nicht organisatorisch konkretisieren konnten oder wollten. Damit haben sie es aber für ihre Gegner, besonders fürs Zentrum, ermöglicht, diese Abweichungen vor dem revolutionären Proletariat zu vermischen; ihre Opposition verhinderte auch das Zentrum in keiner Weise daran, vor dem revolutionär empfindenden Teile des Proletariats als Hüter des wahren Marxismus zu figurieren. Es kann unmöglich die Aufgabe dieser Zeilen sein, weder eine theoretische noch eine geschichtliche Erklärung für die Herrschaft des Zentrums in der Vorkriegszeit zu geben. Es soll nur darauf erneut hingewiesen werden, daß die nicht aktuelle Bedeutung, die die Revolution und die Stellungnahme zu ihren Problemen in der Tagesbewegung gespielt hat, die Möglichkeit für die Haltung des Zentrums bot: Polemik sowohl gegen den offenen Revisionismus wie gegen die Forderung des revolutionären Handelns; theoretische Abwehr des ersteren, ohne ihn ernsthaft aus der Parteipraxis entfernen zu wollen; theoretische Bejahung der letzteren Richtung bei Aberkennung ihrer Aktualität für den Augenblick. Dabei konnte, wie z.B. von Kautsky und Hilferding, der allgemein revolutionäre Charakter des Zeitalters, die geschichtliche Aktualität der Revolution zugegeben werden, ohne daß ein Zwang entstanden wäre, diese Einsicht auf die Entscheidungen des Tages anzuwenden. Darum blieben für das Proletariat diese Meinungsverschiedenheit bloße Meinungsverschiedenheiten innerhalb der dennoch revolutionären Arbeiterbewegungen, und eine klare Scheidung der Richtungen ist unmöglich geworden. Aber diese Unklarheit hat auch auf die Anschauungen der Linken selbst zurückgewirkt. Indem die Wechselwirkung mit der Handlung für diese Auffassungen unmöglich gemacht wurde, konnten sie sich selbst auch nicht durch die produktive Selbstkritik der Umsetzung in die Tat weiterentwickeln, konkretisieren. Sie haben – selbst wo sie sachlich der Wahrheit nahe kamen – einen stark abstrakt-utopischen Charakter bewahrt. Man denke etwa an Pannekoeks Polemik gegen Kautsky in der Frage der Massenaktionen. Aber auch Rosa Luxemburg war, aus demselben Grunde, nicht imstande, ihre richtigen Gedanken von der Organisation des revolutionären Proletariats als politischer Führerin der Bewegung weiter zu entwickeln. Ihre richtige Polemik gegen die mechanischen Organisationsformen der Arbeiterbewegung, z.B. in der Frage der Beziehung von Partei und Gewerkschaft, von organisierten und unorganisierten Massen führte einerseits zu einer Überschätzung der spontanen Massenaktionen, andererseits konnte ihre Konzeption der Führung von einem bloß theoretischen, bloß propagandistischen Beigeschmack nicht völlig frei werden.

 

 

Fußnoten

1. Elend der Philosophie, S.109.

2. Massenstreik, S.47

3. Ebenda, S.49. Üner diese Frage sowie andere, später zu behandelnde Fragen vgl. den sehr interessanten Aufsatz J. Révais, Kommunistische Selbstkritik und der Fall Levi, Kommunismus II, 15/16. Zur ausführlichen Auseinandersetzung mit ihm fehlt hier freilich der Raum.

4. Über die Folgen dieser Lage vergleiche die Kritik Lenins der Juniusbroschüre, sowie die der Stellungnahme der deutschen, üpolnischen und holländischen Linke im weltkrieg (Gegen den Strom). Aber noch das Spartakusprogramm behandelt in seiner Skizzierung des Ganges der Revolution die Aufgaben des Proletariats reichlich utopisch-unvermittelt. Bericht über den Gründungsparteitag der KPD, S.51.

5. Vergl. als Muster einer methodisch richtigen, auf Organisationsfragen eingestellten Kritik, die Rede Lenins am 11. Kongreß der KPR, wo er die Unfähigkeit auch der in den früheren Kämpfen bewährten Kommunisten in den wirtschaftsfragen zentral auffaßt, und die einzelnen Fehler als Symptome erscheinen läßt. Daß dies an der Schärfe der Kritik den Einzelnen gegenüber nichts ändert, versteht sich von selbst.

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003