Rosa Luxemburg


Possibilismus und Opportunismus

(September 1898)


Sächsische Arbeiterzeitung, Nr. 227, 30. September 1898.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 1, 1. Hbd., S. 228–230.
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Dresden, 29. September

Genosse Heine hatte bekanntlich zum Parteitag eine Broschüre unter dem Titel Wählen oder nicht wählen? [1*] verfaßt, worin er für die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen eintritt. Es ist nicht dieses Hauptthema des Schriftchens, das uns gegebenenfalls veranlaßt, einige Bemerkungen auszusprechen, sondern zwei Worte, die er im Laufe seiner Beweisführung hat fallen lassen und auf die wir, infolge der bekannten Vorgänge in der Partei in der letzten Zeit, mit besonderer Empfindlichkeit reagieren: Possibilismus und Opportunismus. Heine meint, die ganze Abneigung der Partei gegen die genannten Richtungen beruhe auf einem Mißverständnis über die wahre sprachliche Bedeutung dieser Fremdwörter. Genosse Heine hat nun, ach! wie Faust, Juristerei, aber ach! nicht wie Faust, noch vieles andere durchaus studiert mit heißem Bemühn. Und im Geiste echter juristischer Denkweise sagt er sich: Im Anfang war das Wort. Wollen wir wissen, ob Possibilismus und Opportunismus der Sozialdemokratie schaden oder nützen können, so haben wir nur das Fremdwörterbuch nachzuschlagen, und in fünf Minuten ist die Frage gelöst. Das Fremdwörterbuch belehrt uns nämlich, daß der Possibilismus „eine Politik sei, die das unter den gegebenen Verhältnissen Mögliche anstrebt“, und Heine ruft dann aus: „Ja, ich frage alle vernünftigen Menschen, soll denn die Politik das unter den gegebenen Verhältnissen Unmögliche anstreben?“ [2*] Ja! antworten wir ihm als vernünftige Menschen, wenn die Lösung der Fragen der Politik und Taktik so einfach wäre, so würden die Lexikographen die weisesten Staatsmänner sein, und wir müßten, anstatt sozialdemokratischer Vorträge populäre Vorträge aus der Sprachkunde bei uns einführen.

Gewiß, unsere Politik soll und kann nur das unter den gegebenen Verhältnissen Mögliche anstreben. Aber damit ist noch durchaus nicht gesagt, wie, in welcher Weise wir das Mögliche anstreben sollen. Indes liegt hier der Schwerpunkt.

Es ist seit jeher die Grundfrage der sozialistischen Bewegung gewesen, wie die praktische unmittelbare Tätigkeit in Einklang mit dem Endziel zu bringen sei. Je nach der verschiedenen Lösung In dieser Frage unterscheiden sich verschiedene „Schulen“ und Richtungen des Sozialismus. Und die Sozialdemokratie ist eben die erste sozialistische Partei, die das schließliche revolutionäre Ziel mit einer praktischen alltäglichen Tätigkeit glücklich zu vereinigen verstand und dadurch breite Volksmassen in den Kampf hineinzuziehen vermochte. Worin besteht denn diese besondere glückliche Lösung? Ganz kurz und allgemein ausgedrückt: In der Gestaltung des praktischen Kampfes gemäß den allgemeinen Grundsätzen des Programms. Das wissen wir ja alle auswendig! ruft man uns zu, und sind dabei so klug als wie zuvor. Doch nein, wir glauben, daß dieser Satz bei seiner ganzen Allgemeinheit einen sehr handgreiflichen Wegweiser für unsere Tätigkeit bildet. Wir wollen es an zwei aktuellen Fragen des Parteilebens kurz illustrieren – an dem Militarismus und der Zollpolitik.

Prinzipiell sind wir – wie jedermann weiß, der unser Programm kennt – gegen allen Militarismus und alle Zollpolitik. Folgt daraus, daß unsere Vertreter im Reichstag allen Verhandlungen über diesbezügliche Gesetzesvorlagen ein kurzes und nacktes Nein entgegensetzen müssen? Durchaus nicht, dies wäre eine für eine kleine Sekte und nicht für eine große Volkspartei geziemende Haltung. Unsere Vertreter müssen auf die jedesmalige Vorlage eingehen, die Gründe erwägen, aus den gegebenen konkreten Verhältnissen, aus der augenbliclilichen ökonomischen und politischen Lage, nicht aus einem leblosen und abstrakten Prinzip heraus, urteilen und argumentieren. Aber das Ergebnis muß und wird – wenn wir die jedesmaligen Verhältnisse und die Volksinteressen richtig beurteilen – ein Nein sein. Unsere Losung ist: Diesem System keinen Mann und keinen Groschen! Aber es kann für uns kein System geben, das nicht eben dieses System wäre. Wir sagen bei jeder neuen Zollerhöhung: Wir sehen keinen Anlaß, in der gegebenen Lage dem Zoll zuzustimmen, aber es kann für uns keine Lage geben, in der wir zu einem anderen Schluß kommen. Nur auf diese Weise gestaltet sich unser praktischer Kampf zu dem, was er sein soll: zur Durchführung der Grundsätze in dem gesellschaftlichen Lebensprozeß, zur Verkörperung unserer allgemeinen Prinzipien im praktischen alltäglichen Tun.

Und nur unter dieser Bedingung kämpfen wir auch in einzig zulässiger Weise für das jederzeit „Mögliche“. Sagt man aber: Wir wollen unsere Zustimmung zu militaristischen oder zollpolitischen Maßnahmen gegen politische oder sozialreformerische Konzessionen austauschen, – dann bringt man die Grundsätze des Klassenkampfes augenblicklichen Erfolgen zum Opfer, und dann steht man eben auf dem Boden des Opportunismus. Der Opportunismus ist übrigens ein politisches Spiel, bei dem man doppelt verliert: nicht nur die Grundsätze, sondern auch den praktischen Erfolg. Die Annahme beruht nämlich auf einem völligen Irrtum, daß man auf dem Wege der Konzessionen die meisten Erfolge erzielt. Die Schlausten sind auch hier, wie in allen großen Dingen, die Klügsten nicht. Bismarck hat einmal einer bürgerlichen oppositionellen Partei gesagt: „Ihr macht Euch jeden praktischen Einfluß selbst unmöglich, wenn Ihr immer und von vornherein mit einem Nein kommt.“ Der Alte war darin wie so oft klüger als seine Pappenheimer. In der Tat, eine bürgerliche Partei, das heißt eine Partei, die zur bestehenden Ordnung im ganzen Ja sagt, die aber zu den täglichen Konsequenzen dieser Ordnung Nein sagen wird, ist ein Zwitterding, ein Gebilde, das weder Fleisch noch Fisch ist. Ganz umgekehrt liegen die Dinge bei uns, die wir im grundsätzlichen Gegensatz zu der ganzen gegenwärtigen Ordnung stehen. Bei uns liegt in dem Nein, in der unversöhnlichen Haltung unsere ganze Kraft. Diese Haltung ist es, die uns die Furcht und die Achtung der Feinde, das Vertrauen und die Anhängerschaft des Volkes erwirbt.

Nur weil wir keinen Schritt von unserer Position weichen, zwingen wir die Regierung und die bürgerlichen Parteien, uns das Wenige zu gewähren, was an unmittelbaren Erfolgen zu erringen ist. Fangen wir aber an, im Sinne des Opportunismus, dem „Möglichen“ unbekümmert um die Prinzipien und auf dem Wege staatsmännischer Tauschgeschäfte nachzujagen, so gelangen wir bald in die Lage des Jägers, der das Wild nicht erlegt und die Flinte zugleich verloren hat.

Nicht vor Fremdwörtern: Opportunismus, Possibilismus, graut es uns, wie Heine meint, es graut uns vor ihrer Verdeutschung in unserer Parteipraxis. Mögen sie für uns lieber Fremdwörter bleizen. Und mögen die Genossen sich vor der Rolle des Dolmetschers im gegebenen Falle hüten.


Anmerkungen

1*. Wolfgang Heine, Wählen oder Nichtwählen? Ein Wort zur Frage der Beteiligung der Sozialdemokratie an den preußischen Landtagswahlen, Berlin 1898.

2*. Ebenda, S.22.


Zuletzt aktualisiert am 19.05.2019