Rosa Luxemburg


Miliz und Militarismus


III

Wäre die Sozialdemokratie ein Diskussionsklub für sozialpolitische Fragen, so könnte sie den Fall Schippel nach einer theoretischen Auseinandersetzung mit ihm für erledigt erachten. Da sie aber eine politische Kampfpartei ist, so ist für sie durch den theoretischen Nachweis der Verkehrtheit des Schippelschen Standpunktes die Frage nicht gelöst, sondern vielmehr erst gestellt. Die Schippelsche Veröffentlichung über die Miliz ist nicht nur eine Äußerung bestimmter Gedanken, sie ist auch noch eine politische Handlung. Womit sie von der Partei beantwortet werden muß, ist deshalb nicht nur Widerlegung der Ansichten, sondern gleichfalls politische Aktion. Und zwar muß die Aktion im Verhältnis zu der Tragweite der Schippelschen Äußerungen stehen.

Im Laufe des verflossenen Jahres wurden so ziemlich alle bisher als Grundsteine der Sozialdemokratie geltenden Postulate durch Angriffe aus unseren eigenen Reihen in ihrer unbestrittenen Gültigkeit erschüttert. Eduard Bernstein erklärte, ihm sei das Endziel der proletarischen Bewegung nichts. Wolfgang Heine zeigte durch seine Kompensationsvorschläge, daß ihm die hergebrachte sozialdemokratische Taktik tatsächlich nichts ist. Nun beweist Schippel, daß er auch direkt über das politische Programm der Partei erhaben ist. Fast kein einziger Grundsatz des proletarischen Kampfes blieb von der Auflösung in nichts seitens einzelner Vertreter der Partei verschont. Es bietet dies an sich ein durchaus nicht erfreuliches Gesamtbild. Jedoch man muß auch unter diesen sehr bedeutsamen Kundgebungen vom Standpunkte des Parteiinteresses unterscheiden. Die Bernsteinsche Kritik unseres theoretischen Guthabens ist zweifellos eine höchst verhängnisvolle Erscheinung. Allein der praktische Opportunismus ist für die Bewegung unvergleichlich gefährlicher. Die Skepsis in bezug auf das Endziel kann immer noch von der Bewegung selbst, solange sie in ihrem praktischen Kampfe gesund und kräftig ist, einfach weggefegt werden. Sobald aber die nächsten Ziele, also der praktische Kampf selbst, in Frage gestellt ist, dann wird die ganze Partei mitsamt Endziel und Bewegung nicht nur in der subjektiven Vorstellung dieses oder jenes Parteiphilosophen, sondern auch in der objektiven Erscheinungswelt – „nichts“.

Der Schippelsche Angriff zielt bloß auf einen Punkt unseres politischen Programms ab. Aber dieser einzige Punkt ist, angesichts der grundlegenden Bedeutung des Militarismus für den gegenwärtigen Staat, praktisch bereits die Verleugnung des ganzen politischen Kampfes der Sozialdemokratie.

In dem Militarismus kristallisiert sich die Macht und die Herrschaft ebenso des kapitalistischen Staates wie der bürgerlichen Klasse, und wie die Sozialdemokratie die einzige Partei ist, die ihn prinzipiell bekämpft, so gehört auch umgekehrt die prinzipielle Bekämpfung des Militarismus zum Wesen der Sozialdemokratie. Die Verzichtleistung auf den Kampf mit dem militärischen System läuft praktisch auf die Verleugnung des Kampfes mit der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung überhaupt hinaus. Wir haben am Schlusse des vorhergehenden Kapitels gesagt, dem Opportunismus bleibe nur übrig, die Schippelsche Stellungnahme zur Milizfrage auf andere Programmpunkte auszudehnen, um die Sozialdemokratie gänzlich abzuschwören. Wir dachten dabei nur an die subjektive, bewußte Entwicklung der Anhänger dieser Politik. Objektiv, der Sache nach, ist diese Entwicklung in der Äußerung Schippels bereits vollzogen.

Noch eine Seite in den opportunistischen Kundgebungen der letzten Zeit, und namentlich in dem Auftreten Schippels, verdient Beachtung, wenigstens angesichts ihres symptomatischen Wertes. Es ist dies die spielende Leichtigkeit, die unerschütterliche Ruhe, ja, wie im letzten Fall, sogar die heitere Grazie, mit der an Grundsätzen gerüttelt wird, die jedem nicht ganz obenhin die Parteisache auffassenden Genossen in Fleisch und Blut übergegangen sein müßten und deren Erschütterung bei jedem aufrichtigen Sozialdemokraten wenigstens eine ernste Gewissenskrise herbeiführen sollte. Es sind dies untrügliche Zeichen, abgesehen von allem anderen, des Tiefstands des revolutionären Niveaus, der Abstumpfung des revolutionären Instinkts, Erscheinungen, die an sich unfaßbar und unwesentlich sein mögen, aber für eine Partei, die, wie die Sozialdemokratie, vorläufig zum größten Teil nicht auf praktische, sondern auf ideale Erfolge angewiesen ist, und an das individuelle Niveau ihrer Mitglieder notwendigerweise große Ansprüche stellt, zweifellos wesentlich sind. Eine harmonische Ergänzung zu der bürgerlichen Denkweise des Opportunismus ist seine bürgerliche Empfindungsweise.

Die Tragweite der Schippelschen Kundgebung nach allen Seiten hin macht eine entsprechende Gegenkundgebung der Partei zur Notwendigkeit. Worin kann und muß diese Gegenaktion bestehen? Erstens in der klaren und unzweideutigen Stellungnahme der ganzen Parteipresse zu der Frage, desgleichen Besprechung der Angelegenheit in Parteiversammlungen. Steht die Partei im ganzen nicht auf dem Standpunkte Schippels, wonach Volksversammlungen bloß Gelegenheiten sind, in denen man der Menge den Knochen der „Schlagworte“ zuwirft, damit sie im gegebenen Zeitpunkt einen politischen „Herrenmenschen“ in den Reichstag wählt, dann kann sie auch die Erörterung der wichtigsten parteipolitischen Grundsätze nicht als ein „Edelmanns-Essen“ betrachten, das bloß für die Auslese und nicht für den großen Haufen der Genossen bestimmt ist. Im Gegenteil, nur das Hineintragen der Diskussion in die breitesten Kreise der Partei kann einer eventuellen Verbreitung der Schippelschen Ansichten erfolgreich vorbeugen.

Zweitens aber, was noch wichtiger, in der Stellungnahme der sozialdemokratischen Fraktion. Sie ist es, die vor allem berufen war, in der Schippelschen Angelegenheit das maßgebende Wort zu sprechen, einerseits, weil Schippel Reichstagsabgeordneter und Mitglied der Fraktion, andererseits, weil die von ihm behandelte Frage einer der Hauptgegenstände des parlamentarischen Kampfes ist. Wir wissen nicht, ob die Fraktion in der Sache etwas getan hat oder nicht. Da es bald nach dem Erscheinen des Isegrimschen Artikels öffentliches Geheimnis war, wer hinter dem Pseudonym steckte, so hat aller Wahrscheinlichkeit nach die Fraktion nicht mit verschränkten Armen zugesehen, wie eins ihrer Mitglieder ihre eigene Tätigkeit verhöhnte.

Und hat sie’s nicht schon vorher getan, so konnte sie das Versäumte nachholen, nachdem Schippel durch Kautsky aus seinem Wolfsfell herausgeschüttelt worden war. Gleichviel, hat die Fraktion zum Fall Schippel Stellung genommen oder nicht, das Ergebnis ist ungefähr das gleiche, solange sie es nicht zur Kenntnis der Gesamtpartei gebracht hat. Gezwungen, sich auf dem Parkettboden des ihrem eigentlichen Wesen fremden, bürgerlichen Parlamentarismus zu bewegen, hat die Sozialdemokratie anscheinend unwillkürlich und unbewußt auch manche Sitten dieses Parlamentarismus übernommen, die aber mit ihrem demokratischen Charakter nicht recht in Einklang zu bringen sind. Dahin gehört zum Beispiel unseres Erachtens das Auftreten der Fraktion als einer geschlossenen Körperschaft nicht nur den bürgerlichen Parteien, was durchaus notwendig, sondern auch der eigenen Partei gegenüber – was zu Unzuträglichkeiten führen kann. Die Fraktionen der bürgerlichen Parteien, in denen parlamentarischer Kampf meistens in der reizlosen Gestalt von Kuhhandel und Tauschgeschäft ausgefochten wird, haben allen Grund, das Licht der Öffentlichkeit zu scheuen. Die sozialdemokratische Fraktion dagegen hat weder das Bedürfnis noch auch den Anlaß, das Ergebnis ihrer Verhandlungen als Internum zu betrachten, sobald es sich um Parteiprinzipien oder wichtigere taktische Fragen handelt. Die Erledigung einer solchen Frage nur in einer geheimen Fraktionssitzung würde dann genügen, wenn es bei uns, wie bei den bürgerlichen Parteien, lediglich auf die schließliche Erzielung einer bestimmten Abstimmung der Fraktion im Reichstag an käme. Für die Sozialdemokratie aber, für die der parlamentarische Kampf ihrer Fraktion viel wichtiger vom rein agitatorischen als vom praktischen Standpunkt ist, kann es gegebenenfalls nicht auf einen formellen Mehrheitsbeschluß der Fraktion, sondern auf ihre Diskussion selbst, auf die Klärung der Lage ankommen. Für die Partei ist es mindestens so wichtig, zu erfahren, wie ihre Vertreter über die parlamentarischen Fragen denken, als wie sie darüber in ihrer Gesamtheit im Reichstage abstimmen. In einer von Grund aus demokratischen Partei kann das Verhältnis zwischen Wählern und Abgeordneten unter keinen Umständen durch den Wahlakt und die mehr äußerlich-formelle, summarische Berichterstattung auf den Parteitagen als erledigt erachtet werden. Die Fraktion muß vielmehr in möglichst lebendiger ununterbrochener Fühlung mit der Parteimasse verbleiben, und dies wird namentlich zum einfachen Gebote der Selbsterhaltung angesichts der opportunistischen Strömungen, die in der letzten Zeit gerade unter den Parteiparlamentariern zutage treten. Eine öffentliche Stellungnahme der Fraktion zu den Äußerungen Schippels war und ist schon deshalb notwendig, weil die Partei in ihrer Masse, so sehr sie’s auch wünschen mag, einfach nicht die physische Möglichkeit hat, als Ganzes selbst in dieser Frage aufzutreten. Die Fraktion ist eine berufene politische Vertretung der Gesamtpartei und hätte durch ihr eigenes offenes Vorgehen indirekt der Partei zu der notwendigen Stellungnahme verhelfen sollen.

Drittens endlich hat auch die Partei direkt als solche über den Fall Schippel ihr Wort zu sagen, und zwar in der einzigen Form, die ihr dazu zu Gebote steht – auf dem nächsten Parteitage.

Es hieß bei der Stuttgarter Diskussion über die Bernsteinschen Artikel, der Parteitag könne nicht über theoretische Fragen abstimmen. Nun haben wir im Falle Schippel eine rein praktische Frage. Es hieß, die Heineschen Kompensationsvorschläge seien bloß unangebrachte Zukunftsmusik gewesen, mit der die Partei nicht zu rechnen brauche. Nun haben wir bei Schippel Gegenwartsmusik. Und zwar hat sich in der Schippelschen Stellungnahme zur Milizfrage die opportunistische Politik, wie gesagt, zu ihren letzten Konsequenzen entwickelt, sie ist spruchreif geworden. Es erscheint uns als dringende Aufgabe der Partei, aus dieser Entwicklung durch eine klare und unzweideutige Stellungnahme die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Sie hat dazu alle Ursache. Es handelt sich gegebenenfalls um einen Vertrauensmann, einen politischen Vertreter der Partei, der ihr seinem Amte nach zum Schwert im Kampfe, dessen Aktion ihr als Damm gegen die Angriffe des bürgerlichen Staates dienen sollte. Verwandelt sich aber der Damm jeden Augenblick in ein Ding von breiartiger Beschaffenheit und bricht die Klinge im Gefecht wie eine papierne zusammen, dürfte dann nicht die Partei auch ihrerseits dieser Politik einmal zurufen:

„Fort mit dem Brei,
Ich brauch’ ihn nicht!
Aus Bappe schmied’ ich kein Schwert!“


Zuletzt aktualisiert am 19.05.2019