Rosa Luxemburg


Die sozialistische Krise in Frankreich

 

III. Die Taktik Jaurès’ und der Radikalismus

Der Widerspruch zwischen den Erwartungen, die man auf die republikanische Verteidigung des Kabinetts Waldeck-Rousseau gesetzt, und seinen tatsächlichen Leistungen hat diejenige Fraktion des französischen Sozialismus, die den Eintritt Millerands in das Kabinett unterstützte, vor eine Alternative gestellt. Sie mußte entweder ihre Enttäuschung eingestehen, die Zwecklosigkeit der Teilnahme Millerands an der Regierung einsehen und seinen Rücktritt fordern oder aber sich mit der Politik des Kabinetts zufriedengeben, sie als die Verwirklichung ihrer Erwartungen erklären und demgemäß diese Erwartungen resp. Forderungen entsprechend der stufenweise in nichts zusammenfallenden Aktion der Regierung immer mehr herabstimmen. Jaurès und seine Freunde haben den letzteren Weg eingeschlagen.

Solange das Ministerium sich um die Hauptsache herumdrückte und erst in der Phase der provisorischen Geplänkel verharrte – und diese Phase dauerte ganze achtzehn Monate – konnte die Richtung, die seine Politik nahm, und die Stellung der Sozialisten dazu noch im Ungewissen schweben. Der erste entscheidende Schritt, das Amnestiegesetz, hat aber sofort die Situation geklärt.

Gerade für die Gruppe Jaurès mußte die Erledigung der Dreyfus-Sache entscheidend sein. Ihre ganze Taktik seit zwei Jahren war auf diese eine Karte gesetzt. Während zweier Jahre bildete der Kampf um Dreyfus die Achse ihrer ganzen Politik, er war für sie „eine der größten Schlachten des Jahrhunderts, eine der größten der menschlichen Geschichte“ (Jaurès, Petite République vom 12. August 1899), die vornehmste Aufgabe der Arbeiterklasse, der nicht nachzukommen „die schlimmste Abdankung und schlimmste Demütigung, die Negation selbst der großen Klassenaufgabe des Proletariats“ wäre. (Petite République vom 15. Juli 1899) „Toute la vérité! La pleine lumière!“ Ganze Wahrheit, volles Licht! Das war das Ziel der sozialistischen Kampagne. Nichts konnte Jaurès und seine Freunde auf halbem Wege aufhalten, nicht Schwierigkeiten und Manöver der Nationalisten, nicht Proteste der anderen, von Guesde und Vaillant geführten Fraktion des Sozialismus. „Wir führen den Kampf weiter“, ruft Jaurès mit edlem Stolze, „und wenn die Richter von Rennes, hintergangen durch die abscheulichen Manöver der Reaktion, noch einmal den Unschuldigen opfern sollten, um die verbrecherischen Armeehäupter zu retten, morgen noch, trotz der Exkommunikationsmanifeste, trotz der vermeintlichen Berufungen auf die Fälschung, Verkleinerung, Verzerrung des Klassenkampfes, werden wir uns wiederaufrichten, trotz aller Gefahren, um den Generalen und den Richtern zuzurufen: Ihr seid Henker und Verbrecher!“ (Petite République vom 15. Juli 1899)

Während des Prozesses in Rennes ruft Jaurès mit strahlender Siegeszuversicht: „Was es auch sei, die Gerechtigkeit kommt! Die Stunde der Befreiung naht für den Märtyrer, die Stunde der Strafe naht für die Verbrecher!“ (Petite République vom 13. August 1899.)

Noch im November vorigen Jahres, kurz vor dem Amnestiegesetz erklärt er in Lille: „Was mich anbelangt, ich wollte weitergehen, ich wollte aushalten, bis die giftige Bestie gezwungen wäre, all ihr Gift auszuspeien. Ja, man mußte alle Fälscher, alle Lügner, alle Henker, alle Verräter verfolgen; man mußte sie verfolgen auf die äußerste Spitze der Wahrheit wie auf die äußerste Spitze des Messers, bis sie gezwungen wären, vor der ganzen Welt ihre Verbrechen, die Schmach ihrer Verbrechen einzugestehen.“ (Les deux Méthodes, Lille 1900, S. 5)

Und Jaurès hatte recht. Die Dreyfus-Affäre hatte alle latenten Kräfte der Reaktion in Frankreich wachgerufen. Der alte Feind der Arbeiterklasse, der Militarismus, stand enthüllt da, und es galt, alle Speere gegen seine Brust zu richten. Die Arbeiterklasse war zum ersten Male berufen, einen großen politischen Kampf auszufechten. Jaurès und seine Freunde haben sie in den Kampf geführt und damit eine neue Epoche in der Geschichte des französischen Sozialismus inauguriert.

Als deshalb das Amnestiegesetz der Kammer vorgelegt wurde, sahen sich die Sozialisten des rechten Flügels mit einem Male vor einen Rubikon gestellt. Es war klar, daß die Regierung, die vor allem zur Liquidierung der Dreyfus-Affäre berufen war, statt „volles Licht“ zu verbreiten, der „ganzen Wahrheit“ zu ihrem Rechte zu verhelfen und die militärischen Gauner auf die Knie zu zwingen, vielmehr Licht und Wahrheit zu ersticken und vor den Gaunern selbst auf die Knie zu fallen sich anschickte. Vom Standpunkt Jaurès’ und seiner Freunde war dies ein Verrat an ihren auf die Regierung gesetzten Hoffnungen. Das Ministerium erwies sich als unbrauchbares Werkzeug der sozialistischen Politik und der republikanischen Verteidigung, das Werkzeug kehrte sich wider den Meister. Wollte die Fraktion Jaurès ihrer Haltung in der Dreyfus-Kampagne und der Aufgabe der republikanischen Verteidigung treu bleiben, so mußte sie sofort den Spieß umdrehen und das Amnestiegesetz mit allen Mitteln zu vereiteln suchen. Die Regierung hatte endlich ihre Karten aufgedeckt, es galt, das Spiel zu durchkreuzen.

Aber die Entscheidung über die Amnestievorlage gestaltete sich zugleich zu einer Entscheidung über die Existenz des Ministeriums. Da die Nationalisten sich gegen die Amnestie erklärten und das Kabinett die Vertrauensfrage gestellt hatte, so konnte sich leicht eine Mehrheit gegen die Vorlage und ein Sturz des Ministeriums ergeben.

Jaurès und seine Freunde standen also vor der Wahl: entweder auf die Realisierung des Zieles ihrer zweijährigen Dreyfus-Kampagne oder auf das Kabinett Waldeck-Rousseau, entweder auf „volles Licht“ oder auf das Ministerium, entweder auf die republikanische Verteidigung oder auf Millerand verzichten. Die Waage schwankte nur einige Minuten. Waldeck-Millerand wogen schwerer als Dreyfus, das Ultimatum des Ministeriums erreichte, was die Exkommunikationsmanifeste nicht zu erreichen vermocht hatten: Jaurès und seine Gruppe gaben, um die Regierung zu retten, ihre Dreyfus-Kampagne preis und erklärten sich für die Amnestie.

Die Würfel waren gefallen. Mit der Annahme des Amnestiegesetzes machte der rechte sozialistische Flügel nicht eigene politische Interessen, sondern die Erhaltung der Regierung am Ruder zur Richtschnur seines Verhaltens. Die Abstimmung über das Amnestiegesetz war das Waterloo seiner Dreyfus-Kampagne; in einem Augenblick machte Jaurès alles zunichte, was er im Laufe von zwei Jahren geleistet hatte.

Nach dieser Preisgabe ihres politischen Haupteinsatzes machte die Jaurèssche Taktik die weitere Entwicklung mit spielender Leichtigkeit und Eile durch.

Erst gab man, um die Regierung zu retten, widerwillig und mit einem inneren Katzenjammer das Teuerste preis, das Ziel zweijähriger Riesenkämpfe: die „ganze Wahrheit und das volle Licht“. Um aber sein eigenes Festhalten an einer Regierung des politischen Fiaskos zu rechtfertigen, muß man das Fiasko der Regierung ableugnen. Der nächste Schritt, das ist also die Rechtfertigung der Kapitulation der Regierung.

Sie hat die Dreyfus-Affäre erstickt, statt sie zu Ende zu führen? Aber das war notwendig, „um mit den nunmehr zwecklosen und langweiligen Prozessen aufzuräumen, um die Übersättigung der Öffentlichkeit zu vermeiden, die sich bald der Wahrheit selbst verschließen würde“. (Jaurès, Petite République vom 18. Dezember 1900)

Zwar wurde „das ganze loyale und ehrliche Frankreich“ vor zwei Jahren aufgefordert auszurufen: „Ich schwöre, daß Dreyfus unschuldig ist, daß der Unschuldige rehabilitiert wird, daß die Verbrecher bestraft werden.“ (Jaurès, Petite République vom 9. August 1899)

Aber heute würden „alle diese gerichtlichen Prozeduren eine Lächerlichkeit sein. Sie würden das Land nur ermüden, ohne es aufzuklären, und der Sache selbst schaden, der wir dienen wollen.“ „Die wahre Sanktion der Dreyfus-Affäre“ liegt heute in der „republikanischen Gesamtarbeit“. (Jaurès, Petite République vom 18. Dezember 1900) Noch ein Schritt, und die früheren Helden der Dreyfus-Kampagne erscheinen als zudringliche Gespenster, mit denen man nicht schnell genug aufräumen kann.

Zola, der „große Arbeiter der Gerechtigkeit“, „der Stolz Frankreichs und des Menschentums“, der Mann des donnernden „J’accuse!“ (Ich klage an!), erläßt einen Protest gegen die Amnestie, er will nach wie vor „die ganze Wahrheit und das volle Licht“, er klagt wieder an. Welche Verblendung! Sieht er denn nicht, ruft Jaurès, daß es schon „genug Licht“ gibt, damit alle Geister davon durchdrungen werden können? Mag Zola sich für seine vereitelte Rechtfertigung vor dem Gerichtshof damit trösten, daß ihn „der große Richter, die ganze Menschheit“ glorifiziert, und uns mit seinem ewigen „J’accuse!“ nunmehr in Ruhe lassen. „Nur keine Klagen, keine leeren Wiederholungen!“ (Petite République vom 24. Dezember 1900) „Die republikanische Gesamtarbeit“ ist die Hauptsache.

Der heldenmütige Picquart, „die Ehre und der Schmuck der französischen Armee“, der „reine Ritter der Wahrheit und Gerechtigkeit“, weist die ihm in Aussicht gestellte Zurückberufung in die Armee zusammen mit der Amnestie als eine Beleidigung zurück – welche Anmaßung! Erweist ihm denn die Regierung mit der beabsichtigten Zurückberufung in die Armee nicht „die eklatanteste Genugtuung“? Freilich, es kommt Picquart auf die gerichtliche Feststellung der Wahrheit an, aber mag Freund Picquart doch nicht vergessen, daß die Wahrheit nicht bloß ihn, den Obersten Picquart, sondern die „ganze Menschheit“ angeht, daß in der Menschheit im ganzen seine, Picquarts, Angelegenheit nur eine winzige Rolle spielt. „In der Tat, in unserem Drange nach der Gerechtigkeit können wir uns nicht auf individuelle Fälle beschränken.“ (Gérault-Richard, Petite République vom 30. Dezember 1900) „Die republikanische Gesamtarbeit“ ist die Hauptsache.

Dreyfus, dieses „Stück des menschlichen Leidens in seiner höchsten Pein“, diese „Verkörperung der Menschheit selbst auf dem Gipfel des Unglücks und der Verzweiflung“ (Jaurès, Petite République vom 10. August 1898), Dreyfus wehrt sich verzweifelt gegen die Amnestie, die ihm die letzte Hoffnung auf eine Rehabilitierung abschneidet – welche Unersättlichkeit! Leiden denn seine Henker nicht bereits genug? Esterhazy schleppt sich „zerlumpt und verhungert“ durch die Straßen Londons, Boisdeffre hat aus dem Generalstab „fliehen müssen“, Gonse ist außer der Front und geht „niedergeschlagen umher“, de Pellieux ist „in Ungnade gestorben“, Henry „hat sich die Gurgel abschneiden müssen“, Du Paty de Clam „ist außer Dienst“, was will man mehr? Sind die eigenen Gewissensbisse der Verbrecher nicht Strafe genug für sie? Und: wenn Dreyfus sich mit diesen Schicksalsschlägen nicht zufriedengibt, sondern sich partout auf eine Bestrafung durch menschliche Gerichte versteift – nur Geduld! „Einst wird die Strafe die Elenden schon ereilen.“ (Jaurès, Petite République vom 5. Januar 1901) Einst! – Jetzt aber ums der gute Dreyfus wohl einsehen, daß es wichtigere Fragen in der Welt gibt als seine „nutzlosen und ermüdenden Prozesse“. (Jaurès, Petite République vom 5. Januar 1901) „Wir haben Besseres aus der Affäre Dreyfus zu gewinnen als diese Aufregungen und diese Racheakte.“ (Gérault-Richard, Petite République vom 15. Dezember 1900) „Die republikanische Gesamtarbeit“ ist die Hauptsache.

Noch ein Schritt weiter, und auch die Kritik an der Regierungspolitik, der die Dreyfus-Kampagne zum Opfer gebracht wurde, erscheint als ein frivoles Spielen mit der Regierung der „republikanischen Verteidigung“.

Im eigenen Lager Jaurès’ erheben sich nach und nach Stimmen der Ernüchterung über die Aktion des Kabinetts zur „Demokratisierung der Armee“ und zur „Laizisierung der Republik“ – welcher Leichtsinn! Wie gefährlich, „systematisch und mit nervöser Ungeduld (nach achtzehn Monaten! – R.L.) die ersten Errungenschaften der gemeinsamen Anstrengungen anzuschwärzen“! „Wozu das Proletariat entmutigen?“ (Jaurès, Petite République vom 5. Januar 1901)

Die Regierungsvorlage über die Kongregationen sollte eine Kapitulation vor der Kirche sein? Das können nur „Dilettanten und Virtuosen“ behaupten. Tatsächlich ist sie „die größte Schlacht zwischen der Kirche und der bürgerlichen Gesellschaft, die seit den Gesetzen über die Weltlichkeit der Schule geschlagen worden ist“. (Jaurès, Petite République vom 12. Januar 1901)

Und im allgemeinen, wenn die Regierung ein Fiasko nach dem anderen einsteckt, bleibt denn dafür nicht „die Sicherheit künftiger Siege“ zum Trost? (Petite République vom 5. Januar.) Auf einzelne Gesetze kommt es ja nicht an, die „republikanische Gesamtarbeit“ ist die Hauptsache.

Was ist aber nach all den Verschiebungen die „republikanische Gesamtarbeit“? Sie ist nicht mehr die Liquidierung der Dreyfus-Affäre, nicht die Reorganisation der Armee, nicht die Unterwerfung der Kirche. Sobald der Sturz des Ministeriums droht, wird alles preisgegeben, und es genügt, daß die Regierung bei einer beliebigen Maßnahme die Vertrauensfrage stellt, um Jaurès und seine Freunde unter ihr Joch zu beugen. Früher war die Rettung der Republik durch die Verteidigungsaktion der Regierung erforderlich, heute – die Rettung der Regierung durch die Preisgabe der Verteidigung der Republik. Die „republikanische Gesamtarbeit“, das ist heute die Sammlung aller republikanischen Kräfte zur Erhaltung des Ministeriums Waldeck-Millerand am Ruder.

Die Haltung der Gruppe Jaurès gegenüber der Politik der heutigen Regierung steht freilich einerseits zu ihrer Haltung in der Dreyfus-Affäre in schroffem Gegensatz. Andererseits bildet sie aber nur ihre direkte Fortsetzung. Es ist nämlich dasselbe Prinzip der Vereinigung mit der bürgerlichen Demokratie, das vor zwei Jahren dem rücksichtslosen Kampf der Sozialisten um die endgültige Lösung der Dreyfus-Affäre zur Grundlage gedient hat und das sie heute dazu bringt, weil die bürgerliche Demokratie ihre Aufgabe im Stiche läßt, auch ihrerseits die Liquidierung der Affäre und die gründliche Reformierung der Armee und des Verhältnisses der Republik zur Kirche preiszugeben.

Es beweist dies, daß in der Jaurèsschen Taktik nicht die selbständigen politischen Bestrebungen der sozialistischen Partei das bleibende, grundlegende Element und die Vereinigung mit den Radikalen das wechselnde, beiläufige ist, sondern daß umgekehrt die Allianz mit den bürgerlichen Demokraten das konstante, feste Element bildet und die jeweiligen politischen Bestrebungen das zufällige Ergebnis davon sind. Schon in der Dreyfus-Kampagne hat der Jaurèsistische Flügel die Demarkationslinie zwischen dem bürgerlichen und dem proletarischen Lager nicht einzuhalten gewußt. Wenn es sich für die bürgerlichen Dreyfus-Freunde lediglich um die Abstellung der Auswüchse des Militarismus, um die Unterdrückung der Korruption in der Armee, um ihre Sanierung handelte, mußte sich der Kampf der Sozialisten gegen die Wurzel des Übels, gegen die ständige Armee selbst richten. Und stand für die Radikalen die Rechtfertigung des Dreyfus und die Bestrafung der Schuldigen dieses einzelnen Falles im Mittelpunkt der Agitation, so konnte die Angelegenheit Dreyfus für die Sozialisten nur den Angriffspunkt zu einer Agitation für das Milizheer abgeben. Nur in diesem Falle hätten die Dreyfus-Krise und die bewundernswürdigen Opfer Jaurès’ und seiner Freunde dabei agitatorisch dem Sozialismus die enormen Dienste geleistet, die sie hätten leisten können. Tatsächlich hielt sich aber die Agitation des sozialistischen Lagers im großen und ganzen, abgesehen von einzelnen Äußerungen, die auf die Natur der Affäre tiefer eingingen, in denselben Bahnen wie die der bürgerlichen Revisionisten. Bereits hier waren die Sozialisten, trotzdem sie an Ausdauer, Kraftaufwand und Glanz ihrer Kampagne das bürgerliche Lager weitaus übertrafen, politisch nicht der weitergehende, der leitende Teil, sondern die Mit- und Nachläufer der Radikalen. Mit dem Eintritt Millerands in das radikale Ministerium haben sie sich vollends auf den Boden ihrer bürgerlichen Alliierten begeben.

Worin sich die sozialistische Politik von der bürgerlichen unterscheidet, ist der Umstand, daß die Sozialisten als Gegner der gesamten bestehenden Ordnung im bürgerlichen Parlament grundsätzlich auf die Opposition angewiesen sind. Die vornehmste Aufgabe der parlamentarischen Tätigkeit der Sozialisten, die Aufklärung der Arbeiterklasse, findet vor allem in der systematischen Kritik der herrschenden Politik ihre Lösung. Allein, weit entfernt, praktische, handgreifliche Erfolge, unmittelbare Reformen fortschrittlichen Charakters unmöglich zu machen, ist die grundsätzliche Opposition vielmehr für jede Minderheitspartei im allgemeinen, ganz besonders aber für die sozialistische, das einzige wirksame Mittel, praktische Erfolge zu erzielen.

Ohne die Möglichkeit, der eigenen Politik die direkte Sanktion der parlamentarischen Mehrheit zu geben, sind die Sozialisten darauf angewiesen, der bürgerlichen Mehrheit in stetem Kampfe Konzessionen zu entreißen. Dies erreichen sie aber durch ihre oppositionelle Kritik auf dreierlei Wegen: indem sie mit ihren am weitesten gehenden Forderungen den bürgerlichen Parteien eine gefährliche Konkurrenz bereiten und sie durch den Druck der Wählermassen vorwärtsdrängen; dann, indem sie die Regierung vor dem Lande bloßstellen und sie durch die öffentliche Meinung beeinflussen; endlich, indem sie durch ihre Kritik in und außerhalb der Kammer immer mehr die Volksmassen um sich gruppieren und so zu einer achtunggebietenden Macht anwachsen, mit der Regierung und Bourgeoisie rechnen müssen.

Die um Jaurès gruppierten französischen Sozialisten haben sich mit dem Eintritt Millerands alle drei Wege verschlossen.

Vor allem ist für sie eine rückhaltlose Kritik der Regierungspolitik unmöglich geworden. Wollten sie ihre Schwäche, ihre Halbheiten, ihre Feigheit geißeln, so würden die Hiebe auf ihren eigenen Rücken zurückfallen. Denn ist das republikanische Wirken der Regierung ein Fiasko, dann entsteht sofort die Frage, welche Rolle ein Sozialist in dieser Regierung spielt. Um also die Ministerschaft Millerands nicht zu kompromittieren, sehen sich Jaurès und seine Freunde gezwungen, über alles zu schweigen, was der Arbeitermasse über die Mängel der herrschenden Politik die Augen öffnen könnte. Tatsächlich ist seit dem Bestehen des Kabinetts Waldeck-Millerand aus dem Organ des rechten sozialistischen Flügels, der „Petite République“, alle Kritik der Regierungstätigkeit verschwunden, und jeder Versuch einer solchen Kritik wird von Jaurès augenblicklich als „Nervosität“, „Pessimismus“, „Übertreibung“ zu Boden geschlagen. Die erste Konsequenz der sozialistischen Ministerschaft ist also der Verzicht auf die oberste Aufgabe der Tätigkeit der Sozialdemokratie im allgemeinen und ihrer parlamentarischen Tätigkeit im besonderen: die politische Aufklärung und Erziehung der Massen.

Ferner aber haben die Anhänger Millerands auch dort, wo sie an der Regierungstätigkeit Kritik üben, ihr jede praktische Bedeutung benommen. Ihr Verhalten zu der Amnestievorlage hat gezeigt, daß ihnen, um die Regierung am Ruder zu erhalten, kein Opfer zu groß ist, daß sie auf jeden Fall im voraus entschlossen sind, sobald die Regierung ihnen mit der Vertrauensfrage die Pistole auf die Brust setzt, sie mit ihren Stimmen zu unterstützen. Und damit haben sie sich der Regierung ausgeliefert.

Allerdings sind die Sozialisten in einem parlamentarisch regierten Lande in ihrem Verhalten nicht so frei wie z. B. im deutschen Reichstag, wo sie ihrer oppositionellen Haltung rücksichtslos durch das Mißtrauensvotum für die Regierung jederzeit unzweideutigen Ausdruck geben können. Aus Rücksichten auf das „geringere Übel“ sehen sich die französischen Sozialisten im Gegenteil häufig gezwungen, eine bürgerliche Regierung mit ihren Stimmen vor dem Sturze zu bewahren. Aber gerade durch das parlamentarische Regime gewinnen die Sozialisten andererseits in ihrem Votum eine scharfe Waffe, die sie der Regierung wie ein Damoklesschwert über dem Haupte halten und womit sie ihrer Kritik und ihren Forderungen Nachdruck verleihen können. Indem Jaurès und seine Freunde sich durch die Ministerschaft Millerands von der Regierung abhängig gemacht haben, haben sie die Regierung von sich unabhängig gemacht; indem sie sich des Mittels begeben haben, durch das Gespenst der Ministerkrise das Kabinett zu Konzessionen zu bewegen, haben sie umgekehrt die Ministerkrise zum Damoklesschwert für sich gemacht, mit dem das Kabinett jederzeit ihre Nachgiebigkeit erzwingen kann.

Ein glänzendes Beispiel dieser Lage des gefesselten Prometheus, in die sich die Gruppe Jaurès selbst versetzt hat, zeigen die gegenwärtigen Verhandlungen über das Assoziationsgesetz. [1] Freilich hat der Freund Jaurès’, Viviani, in einer glänzenden Kammerrede die Regierungsvorlage über die Kongregationen zerzaust und ihr die wahre Lösung der Aufgabe gegenübergestellt. Wenn aber Jaurès nach dieser Rede am anderen Tage nebst den überschwenglichsten Lobsprüchen auf sie der Regierung selbst die Antwort in den Mund legt, mit der sie diese Kritik ablehnen soll [1*], wenn er noch vor der Eröffnung der Debatten, vor jedem Versuch, die Regierungsvorlage zu bessern, an die Sozialisten und Radikalen die Losung ausgibt, um jeden Preis die Annahme der Regierungsvorlage zu sichern, so ist damit der ganze politische Effekt der Kundgebung Vivianis vernichtet.

Die Ministerschaft Millerands verwandelt – dies ihre zweite Konsequenz – die sozialistischen Kritiken seiner Freunde in der Kammer in leere Paradestücke, in Schaustellungen der „weiten Horizonte“ des Sozialismus ohne jeden Einfluß auf die praktische Politik der Regierung.

Endlich zeigt sich auch das Weitertreiben der bürgerlichen Parteien durch die Sozialisten in dieser Lage als ein schöner Traum.

Zur Sicherung des Fortbestandes der Regierung erscheint es für die Anhänger Millerands notwendig, das innigste Zusammenhalten mit den anderen Gruppen der Linken zu beobachten. Da es ihnen aber dabei nicht auf das jedesmalige Erzielen eines politischen Effekts, sondern auf die Treue der vereinigten Linken gegenüber dem Kabinett ankommt, so sehen sie sich gezwungen, nicht die sie von den anderen bürgerlichen Gruppen trennenden Momente, sondern umgekehrt die gemeinsamen Momente herauszukehren. In dem allgemeinen „republikanischen“ Brei der Linken, den zusammenzuhalten der leitende Gedanke Jaurès’ ist, verschwindet seine Gruppe vollkommen.

Im Dienste Millerands spielen seine sozialistischen Freunde gegenwärtig die Rolle von bürgerlichen Radikalen.

Ja, umgekehrt, in der heutigen republikanischen Mehrheit sind die Radikalen das weitergehende, das oppositionelle, die Sozialisten des rechten Flügels das gemäßigte, gouvernementale Element.

Es waren die Radikalen d’Octon und Pelletan, die in der Kammersitzung vom 7. Dezember v. J. die parlamentarische Untersuchung der Kolonialgreuel mit aller Schärfe forderten, während sich vom rechten Flüge! der Sozialisten zwei Abgeordnete gefunden haben, die gegen die Enquete stimmten. – Es war der Radikale Vazeille, der sich dem Ersticken der Dreyfus-Affäre durch die Amnestie widersetzte, während die Sozialisten schließlich gegen Vazeille stimmten. Es ist endlich der sozialistische Radikale Pelletan, der den Sozialisten in der Dépèche (Toulouse) vom 29. Dezember folgende Lehre erteilt:

Es handelt sich darum, zu wissen, ob eine Regierung dazu da ist, um den Ideen der sie unterstützenden Partei zu dienen oder aber um die Partei zum Verrat an ihren Ideen zu verleiten. O, die Männer, die wir am Ruder halten, verwöhnen uns nicht. Außer zwei oder drei Ministern regieren alle ungefähr so, wie es ein Kabinett Méline tun könnte. Und die Parteien, die in ihrem eigenen Interesse das Ministerium warnen und ihm den Rücken steifen sollten, liegen vor ihm auf dem Bauche. Ich meinerseits gehöre zu denen, die es als ausgezeichnet erachteten, daß die kollektivistische (sozialistische – R.L.) Partei sich nicht durch die Taktik eines systematischen Kampfes isoliert, sondern daß einer von den Ihrigen zur Macht gelangt. Jawohl, ich erachtete den Gedanken als vorzüglich. Aber zu welchem Zweck? Damit die fortschrittliche Politik im Kabinett eine Kraft und eine Garantie mehr gewinnt, und nicht damit die schlimmsten Unterlassungen im Kabinett eine Geisel gewinnen, deren Name genügt, um die Irreleitung der sozialistischen Stimmen herbeizuführen. – Heute ist Waldeck-Rousseau nicht der Alliierte, wie wir es wünschten, sondern der Lenker des Gewissens der fortschrittlichen Parteien. Und er führt sie, wie mir scheint, etwas zu weit ab. Es genügt ihm, den Popanz der Ministerkrise aus der Tasche zu ziehen, um sich Gehorsam zu verschaffen. Passen Sie auf: Die Politik des Landes verliert manches, wenn man aus den Unsrigen und den Euren eine neue Kategorie von Unteropportunisten gemacht haben wird.

Sozialisten, die kleinbürgerliche Demokraten von der oppositionellen Haltung abzubringen suchen, und bürgerliche Demokraten, die die Sozialisten des Bauchrutschens vor der Regierung und des Verrats an den eigenen Ideen zeihen – das ist die tiefste Erniedrigung, die von dem Sozialismus je erreicht wurde, und zugleich die letzte Konsequenz der sozialistischen Ministerschaft.

So hat sich die Taktik Jaurès’, die durch die Aufopferung der oppositionellen Haltung praktische Erfolge erzielen wollte, als die unpraktischste der Welt erwiesen.

Statt den Einfluß der Sozialisten auf die Regierung und das bürgerliche Parlament zu vergrößern, hat sie die Sozialisten zum willenlosen Werkzeug der Regierung und zum passiven Anhängsel des radikalen Kleinbürgertums gemacht. Statt der fortschrittlichen Politik in der Kammer einen neuen Antrieb zu geben, hat sie mit der Opposition der Sozialisten das einzige treibende Moment beseitigt, das Parlament und Regierung noch zu einer entschiedenen und mutigen Politik hätte bringen können.

Und dies ist ihr größter Fehler. Das Fiasko der von Waldeck-Millerand erhofften republikanischen Verteidigungsaktion ist nicht eine zufällige Erscheinung, sondern ein logisches Ergebnis sowohl der Ohnmacht, in der sich der Radikalismus in der Kammer von vornherein befand, wie der Ohnmacht, zu der sich obendrein die Sozialisten durch den Anteil an der radikalen Regierung selbst verurteilt haben.

Wenn für einen Unbefangenen die klägliche „Aktion“ der Regierung Waldeck-Rousseau das traurige Ende ihrer „republikanischen“ Mission bedeutet, so ist sie für Jaurès bei all der Schwäche, die er unter dem Druck der Kritiken in den eigenen Reihen nicht völlig abzuleugnen vermag, der erfreuliche Anfang einer großen Ära der demokratischen Renaissance in Frankreich, basiert auf der festen Allianz des Sozialismus mit der kleinbürgerlichen Demokratie.

„Deshalb eben“, schreibt Jaurès, „ist die Bildung einer noch so schüchternen Majorität der Linken zur festen Unterstützung einer noch so schwankenden und schwachen Regierung der Linken in meinen Augen eine Tatsache von der höchsten Wichtigkeit. Das ist nach mir ein unförmliches, aber notwendiges Rudiment des legislativen und administrativen Organismus, der nächstens den Gang unserer Gesellschaft zur Verwirklichung der höchsten von uns erstrebten Gleichheit führen wird.“ (Petite République vom 8. Januar 1901)

Der weite Ausblick auf diese kommende Epoche des politischen Kondominiums des sozialistischen Proletariats mit dem radikalen Kleinbürgertum ist es, um deswillen in letzter Linie die Aufrechterhaltung der Regierung Waldeck-Millerand unter Preisgabe der unmittelbaren politischen Ziele, die Aufrechterhaltung der Allianz mit der bürgerlichen Linken unter Hintansetzung der selbständigen sozialistischen Opposition notwendig erscheint. Allein, Jaurès hat bei seiner großangelegten Konstruktion außer acht gelassen, daß der kleinbürgerliche Radikalismus, den er heute durch die sozialistische Unterstützung zur politischen Herrschaft führen will, bereits längst und gerade durch eine Taktik zusammengebrochen ist, die verhängnisvolle Ähnlichkeit mit der heutigen Jaurèsschen hat.

Die Grundlage der politischen Rolle des Kleinbürgertums in Frankreich seit der großen Revolution war das republikanische Programm. Solange die Großbourgeoisie sich hinter der Monarchie verschanzte, konnte das Kleinbürgertum als der Führer der Volksmasse auftreten, denn auch der Gegensatz zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie war in hohem Masse in die Form des Gegensatzes zwischen Republik und Monarchie gekleidet und bildete das feste Rückgrat der kleinbürgerlichen Opposition.

Mit der Entwicklung der Dritten Republik haben sich die Verhältnisse geändert. Indem das Gros der Bourgeoisie aus einem Feinde der Republik zu ihrem Träger wurde und die Hauptpunkte des kleinbürgerlichen Programms: die republikanische Staatsform, die „Souveränität des Volkes“ durch das parlamentarische Regime, die Presse-, Vereins- und Gewissensfreiheit, verwirklicht waren, war der politischen Rolle des Kleinbürgertums der Boden entzogen und ihrem Gegensatz zur Bourgeoisie die Spitze abgebrochen. Für das „radikale“ Programm blieben nur noch untergeordnete Akzessorien zur Ausschmückung der bürgerlichen Republik übrig: progressives Steuersystem, Reform des Volksunterrichts, Kampf mit dem Klerikalismus.

Während aber der politische Gegensatz zwischen dem Kleinbürgertum und der Bourgeoisie schwand, entwickelte sich der soziale zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse. Zu gleicher Zeit mit der Seele seines Programms verlor das Kleinbürgertum einen großen Teil seiner Anhängerschaft. Das Proletariat trat als eine selbständige Partei in schroffstem Gegensatz sowohl zum Radikalismus wie zum Opportunismus auf, und im Radikalismus selbst vollzog sich eine innere Differenzierung. Während ein Teil seiner Anhänger sich durch wesentlichste Interessen an die herrschende Bourgeoisie herangezogen fühlt, sieht sich ein anderer gezwungen, eine sozialistische Färbung anzunehmen.

Der „reine“ Radikalismus, auf diese Weise in der opportunistischen Republik auf eine schwache Zwischenpartei reduziert, konnte, um sein politisches Programm durchzusetzen, nur eines von beiden wählen: entweder sich in der Kammer auf die Opposition beschränken und ihr durch den außerparlamentarischen Einfluß der Massen Nachdruck verleihen oder aber sich nur auf parlamentarische Kombinationen und auf die Aussicht stützen, neben der opportunistischen Bourgeoisie zur Herrschaft zu gelangen.

Das erstere, neben der sozialistischen Arbeiterpartei die Anhängerschaft der Volksmassen wiederzugewinnen, war für den Radikalismus doppelt unmöglich. Nicht nur konnte er den Arbeitern wenig bieten. Bei der Vorherrschaft und der verhältnismäßigen Stabilität des Kleingewerbes in Frankreich mußten auch die sozialen Bestrebungen des Proletariats das Kleinbürgertum hier mehr als in irgendeinem Lande abschrecken. Indem der Radikalismus aber bei seinem dürftigen politischen Programm verharrte, verwies er sich selbst auf den ausschließlichen Weg der parlamentarischen Mitherrschaft mit der opportunistischen Bourgeoisie. Und hier begann sein Zusammenbruch.

In gewöhnlichen Zeiten neben dem Opportunismus in den „gemischten“ Regierungen zu der Rolle eines passiven Mitschuldigen verurteilt, gelingt es ihm von Zeit zu Zeit, sich als unentbehrlich aufzuspielen, nämlich jedesmal, wenn sich die opportunistische Bourgeoisie durch einen Skandal kompromittiert und die Republik eine Krise durchlebt. Der Radikalismus findet dann die Möglichkeit, wieder seinen alten Programmlappen der „Verteidigung der Republik“ hervorzuholen und für einige Zeit ans Ruder zu gelangen. Hier stellt sich aber regelmäßig die Tatsache heraus, die vorher auf der Hand lag und aus der er nur die Schlüsse zu ziehen unterließ, nämlich daß der Radikalismus zur Durchführung seiner radikalen Reformen in der Kammer tatsächlich keine Mehrheit besitzt.

Um zu regieren, um sich am Ruder zu erhalten, ist er deshalb gezwungen, sein eigenes Programm im Stiche zu lassen und entweder unter einer Scheintätigkeit das Nichtstun zu verbergen oder aber direkt opportunistische Politik zu treiben. In beiden Fällen beweist er aber bald der Kammer seine Überflüssigkeit, dem Lande seine Unzuverlässigkeit, und so wird er immer mehr zum ohnmächtigen Anhängsel der opportunistischen Bourgeoisie.

Die Aktion des Kabinetts Waldeck-Rousseau ist ein getreues Spiegelbild dieser radikalen Politik. Wenn man nämlich die heutige „vereinigte Linke“, auf die Jaurès die ganze gegenwärtige Politik des Sozialismus aufbauen will, als eine kompakte politische Gruppe auffaßt, die sich zur Sanierung und Reformierung der Republik zusammengetan hat, so liegt darin die gleiche Überschätzung wie in jener Auffassung, wonach das nationalistische Lager eine kompakte Masse mit ernsten monarchistischen Bestrebungen darstellt.

Ganz im Gegenteil sehen wir hier die verschiedenartigsten Elemente, die alle Schattierungen vom Sozialismus bis zur Reaktion repräsentieren – der äußerste rechte Flügel, die Progressisten der Gruppe Isembère streifen schon mit dem Ärmel die Schutztruppen Mélines. Innerlich zersplittert, hat sich die heutige Linke nur in dem gemeinsamen Bedürfnis nach der Herstellung der äußeren Ruhe und Ordnung zusammengefunden. Ist diese Aufgabe erfüllt – und das famose Amnestiegesetz erscheint unter den gegebenen Verhältnissen als ihre klassische Lösung –, so tritt das bindende Interesse in den Hintergrund, die Linke zerfällt, und die Regierung der republikanischen Rettung hängt in der Luft. Die Tatsache, daß in derselben Kammer das Kabinett Méline im Anfang eine Mehrheit hatte, beweist, daß die heutige Mehrheit nur eine vorübergehende ist. Und die neuliche Wahl Deschanels zum Kammerpräsidenten, die nur durch den Verrat eines Teiles der Linken an dem eigenen Kandidaten Brisson möglich war, zeigt, daß der Zerfall der Linken nur noch eine Frage der Zeit ist.

Aus dieser Lage ergibt sich ganz logisch das Verhalten des Kabinetts Waldeck-Rousseau. Ohne die Möglichkeit, irgendeine durchgreifende Aktion vorzunehmen, sieht es sich notgedrungen darauf beschränkt, die in der Krise zugespitzten Gegensätze durch eine Reihe von Kapitulationen abzustumpfen und so, getreu den Traditionen des Radikalismus, wieder einmal durch die Übernahme der Regierungsgewalt ohne die Voraussetzungen zur Durchführung des eigenen Programms zum Verräter am eigenen Programm zu werden.

Die Regierung Waldeck-Millerand ist also nicht, wie Jaurès annimmt, der Anfang einer neuen Ära der Herrschaft der Demokratie auf Grundlage der radikal-sozialistischen Allianz. Sie ist vielmehr die Fortsetzung der früheren Geschichte des radikalen Kleinbürgertums, das berufen ist, nicht das eigene demokratische Programm zu verwirklichen, sondern durch periodische Wegräumung des von der opportunistischen Bourgeoisie aufgehäuften politischen Schmutzes für die normale Fortexistenz der bürgerlichen Reaktion in republikanischer Form zu sorgen. Die mit dem Ministerium Waldeck-Rousseau eröffnete neue Ära besteht lediglich darin, daß zum erstenmal an dieser historischen Mission der kleinbürgerlichen Demokratie der Sozialismus teilnimmt, indem er, in der Illusion, dem sozialistischen Programm zu dienen, tatsächlich in derselben Weise dem Radikalismus Vorspanndienste leistet, wie dieser, in der Illusion, daß Programm der Demokratie zu verwirklichen, der opportunistischen Bourgeoisie stets Vorspanndienste geleistet hat.

Die Jaurèssche Taktik ist also auf Sand gebaut. Die Auferstehung der kleinbürgerlichen Demokratie, der die Teilnahme Millerands an der Regierung dienen sollte, der die sozialistische Opposition in der Kammer zum Opfer gebracht wurde, erweist sich als ein Phantom. Umgekehrt, indem Jaurès das sozialistische Proletariat an den Leichnam des kleinbürgerlichen Radikalismus gekettet hat, hat er die einzige lebendige Kraft lahmgelegt, die in Frankreich die Republik und die Demokratie verteidigen konnte.


Fußnote

1*. „Die Regierung wird es freilich nur zu leicht haben zu abtworten, daß, wenn sie hinter dem zurückbleibt, was das programm der Republik ist, wenn sie zunächst bloß die Kongregationen trifft, sie es tut, weil sie zunächst die größten Gefahren abwenden will. Ihre Aufgabe ist es, die Freiheit in die Lage zu versetzen, sich selbst zu verteidigen.“ (Petite République vom 17. Januar 1901)



Anmerkung

1. Dieses Gesetz wurde von Januar bis März 1901 in der französischen Deputiertenkammer beraten und von ihr angenommen. Siehe dazu Kapitel 4.


Zuletzt aktualisiert am 11.1.2012