Rosa Luxemburg


Die sozialistische Krise in Frankreich

 

V. Der Fall Millerand und die sozialistischen Parteien

In den vorhergehenden Artikeln haben wir uns ausschließlich auf den Boden der praktischen Politik gestellt und die Frage der sozialistischen Ministerschaft nur vom Standpunkt der unmittelbaren Ziele, denen sie nach Jaurès dienen sollte, untersucht.

Es hat sich gezeigt, daß man durch die Praxis auch hier wie jedesmal zu denselben Resultaten geführt wird, die sich aus der Theorie und den Prinzipien der Sozialdemokratie von vornherein ergeben. Wenn nämlich die Taktik Jaurès’ die praktischen Aufgaben, die sie sich stellte, verfehlt, so ist das nur ein logisches Ergebnis der Tatsache, daß sie zugleich durch die Verwandlung der sozialistischen Ministerschaft aus einer exzeptionellen Maßregel in ein normales Mittel des Kampfes der Arbeiterklasse die fundamentalen Grundsätze der Sozialdemokratie verleugnet.

Der Sozialismus, der zur Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und zur Aufhebung der bürgerlichen Klassenherrschaft berufen ist, nimmt an der Regierung des bürgerlichen Staates teil, welche die Aufgabe hat, das Privateigentum zu konservieren und die Klassenherrschaft der Bourgeoisie zu verewigen. Die Sozialisten, berufen, das Proletariat zu einer besonderen Klassenpartei zu organisieren und gegen alle bürgerlichen Klassen in den Kampf zu führen, verwandeln die Arbeiterklasse in ein Anhängsel der republikanischen Bourgeoisie.

Mitwirkung an der Unterjochung des Proletariats als Mittel zur Befreiung des Proletariats und politische Zusammenkettung mit bürgerlichen Parteien als Mittel des Kampfes gegen die Bourgeoisie – der innere Widerspruch scheint in die Augen zu springen.

Jaurès leugnet ihn freilich. In der Beteiligung der Sozialisten an der bürgerlichen Zentralregierung sieht er nur eine logische Erweiterung des anerkannten Prinzips der Beteiligung an den gesetzgebenden Körperschaften und den Munizipalitäten, ein weiteres Stadium in der Entwicklung der sozialistischen Taktik von utopisch-sektiererischer Abstention zu aktiver Realpolitik; die Allianz mit dem bürgerlichen Republikanismus ist ihm die Konsequenz des Grundsatzes, daß die Arbeiterklasse die fortschrittlichen Fraktionen der Bourgeoisie gegen die reaktionären unterstützen und ausspielen müsse.

Wir meinen, daß die Berufung Jaurès’ auf die anerkannte Taktik der Sozialdemokratie in dem einen wie in dem anderen Falle auf einer irrtümlichen Auffassung vom Wesen des Staates wie von der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft beruht.

Die gesetzgebende Körperschaft und die Zentralregierung des heutigen Staates stellen vom Standpunkt der sozialistischen Aufgaben ihrem Wesen und ihren Funktionen nach zwei grundverschiedene Institutionen dar.

Während das Parlament ein Organ der Klassen- und Fraktionskämpfe innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, deshalb das geeignetste Terrain für den systematischen Widerstand der Sozialisten gegen die Herrschaft der Bourgeoisie bildet, ist diese Rolle der Arbeitervertreter im Schosse der Regierung von vornherein ausgeschlossen. Berufen, das fertige Ergebnis der im Parlament und im Lande ausgefochtenen Parteikämpfe in die Tat umzusetzen, ist die Zentralgewalt vor allem ein Organ der Aktion, dessen Lebensfähigkeit auf innerer Homogenität beruht.

Ebenso wie in der kapitalistischen Wirtschaft ihre einzelnen Zweige, Produktion, Austausch, Kredit, Transportwesen, aufs innigste zusammenhängen und großindustrieller Welthandel bei mittelalterlichen Verkehrsmitteln, sozialistischer Austausch bei privatwirtschaftlicher Produktion undenkbar sind, ebenso ums in dem bürgerlichen Staate, der nur die politische Organisation der kapitalistischen Wirtschaft ist, zwischen den einzelnen Funktionen volle Harmonie bestehen.

Eine moderne großindustrielle Kolonialpolitik setzt eine entsprechende Gestaltung des Militarismus, seine Befähigung zur Weltpolitik voraus. Eine aggressive schutzzöllnerische Handelspolitik findet ihre natürliche Ergänzung in der eroberungslustigen Kolonialpolitik. Der moderne Militarismus ist undenkbar ohne eine Finanzpolitik, die durch das System der indirekten Steuern entsprechende Mittel aus der Volksmasse herauszupressen versteht. Die Finanzpolitik, das heißt das Steuer-, Staatsschulden- und Monopolwesen, hängt sowohl direkt wie durch das Mittelglied der Börse mit der Industriepolitik aufs innigste zusammen. Militarismus, Handels- und Kolonialpolitik bestimmen in ihrer Gesamtheit den Inhalt und die Richtung der auswärtigen Politik.

Somit stellt die Zentralregierung eines modernen Staates ein Räderwerk dar, dessen einzelne Teile von allen Seiten ineinandergreifen und gegenseitig ihre Bewegungen bestimmen und regulieren. Der unmittelbare Transmissionsmechanismus, der das ganze Räderwerk in Gang bringt, ist das bürgerliche Parlament, aber die treibende Kraft sind dabei zunächst die Klassen- und Parteiverhältnisse im Lande und in letzter Linie – die Produktions- und Austauschverhältnisse der gesellschaftlichen Wirtschaft. Der kapitalistischen Einheitlichkeit der Ökonomik hier entspricht die bürgerliche Einheitlichkeit der Regierungspolitik dort.

Daraus ergibt sich zweierlei.

Erstens, daß, wenn man die Verantwortlichkeit jedes einzelnen Regierungsmitglieds für die Politik der Regierung im ganzen bestreitet und jedes Ressort des Ministeriums als eine in sich geschlossene unabhängige Machtsphäre betrachtet, dies auf einer völlig mechanischen Auffassung vom Staate beruht. Aus dem inneren Zusammenhang der einzelnen Funktionen der Regierung erwächst naturgemäß die solidarische Verantwortlichkeit ihrer einzelnen Mitglieder. Und der Paragraph der französischen wie jeder auf parlamentarischem Regime beruhenden Verfassung, der alle Minister in ihrer Gesamtheit für die Regierungspolitik verantwortlich macht, ist weder ein Zufall noch eine staatsrechtliche Spitzfindigkeit, sondern der adäquate juristische Ausdruck der Einheitlichkeit in der Funktion, die das Lebensprinzip selbst der bürgerlichen Regierung bildet.

Jaurès freilich betrachtet die solidarische Haftung des Ministeriums vor dem Lande als eine leere Formalität, eine chinesische Zeremonie. [1*] Die Verantwortlichkeit eines sozialistischen Regierungsmitglieds für die Handlungen der bürgerlichen Regierung ist ihm nur „ein Schein“, analog dem Eide auf den König und die Verfassung, den die Sozialisten beim Eintritt in den sächsischen Landtag leisten müssen. Er beruft sich auf Liebknecht, der dies „papierne Hindernis“ mit souveräner Verachtung überschritten hat.

Jaurès vergißt dabei einen fundamentalen Unterschied zwischen den beiden Fällen. Während die erwähnte Eidesleistung die Sozialisten nicht im geringsten verhinderte, einmal in den Landtag hineingekommen, sofort in die grundsätzliche Opposition zur Regierung und zur Landtagsmajorität zu treten, wird der Sozialist in einer bürgerlichen Regierung gezwungen, ihre Politik mitzumachen. Die Analogie würde erst dann zutreffen, wenn die sozialistischen Abgeordneten im Landtag durch ihren Eid gezwungen worden wären, auf den Bänken der bürgerlichen Majorität Platz zu nehmen und mit ihr solidarisch zu votieren. Tatsächlich besteht hier nicht Analogie, sondern direkter Gegensatz: In die Volksvertretung treten die Sozialisten ein, um die bürgerliche Klassenherrschaft zu bekämpfen, in die bürgerliche Regierung – um die Verantwortlichkeit für die Akte dieser Klassenherrschaft auf sich zu laden.

Zweitens ergibt sich, daß es ein vollkommen utopischer Plan ist, zu denken, ein Ressort der Regierung könne bürgerliche, ein anderes sozialistische Politik treiben, und die Zentralgewalt könne somit stückweise, nach einzelnen Ressorts, für die Arbeiterklasse erobert werden.

Wenn die sozialistischen Anhänger Millerands sich mit aller Kraft bemühen, seine Verantwortlichkeit für die Handlungen der anderen Minister abzuleugnen und sie auf seine eigene Tätigkeit zu beschränken, so geschieht es, weil sie wenigstens die eigene Aktion Millerands als „sozialistische Politik“ darstellen zu können glauben. Letztere Illusion erreichen sie aber – abgesehen von der kritiklosen Verherrlichung der Millerandschen Sozialreformen – dadurch, daß sie die Sozialreformen als die einzige Beschäftigung des Handelsministers hinstellen und alle anderen mit Stillschweigen übergehen.

Allein, wie in der kapitalistischen Wirtschaft der Arbeiter nur eine Produktionsbedingung unter vielen anderen darstellt, ebenso ist die soziale Arbeiterfürsorge nur ein, und zwar ein untergeordneter Zweig in den Funktionen des bürgerlichen Handels- und Industrieministeriums, die alle auf das Gedeihen der kapitalistischen Produktion und des Austausches berechnet sind. Was hierin die erste Rolle spielt, ist – die Handelspolitik.

Wollte Millerand auf diesem Gebiet den sozialistischen Minimalforderungen gemäß handeln, so mußte er offenbar das von Médine 1892 errichtete System des autonomen, auf Minimal- und Maximaltarif basierten Hochschutzzolles zu unterminieren suchen und vor allem die Abschaffung der Lebensmittelzölle einführen. Was tut er aber in Wirklichkeit? Darauf gibt Antwort der Millerandsche Vertrag mit der nordamerikanischen Union vom Jahre 1899. Kaum versuchte der portefeuillelustige Méline dieses Abkommen als einen Verrat an den wohlerworbenen Rechten der agrarischen Schutzzöllner zu denunzieren, als die sozialistischen Freunde Millerands in der Lage waren, dies als schnöde Verleumdung zurückzuweisen. Mit Stolz konnten sie konstatieren: „... daß in dem Handelsabkommen die landwirtschaftlichen Produkte von dem Begünstigungstarif ausgeschlossen seien, daß der Handelsvertrag sich nicht auf Lebensmittel erstrecke, deren Einfuhr durch ein spezielles Gesetz geregelt sei, ... daß es die Interessen der Viehzüchter mehr und besser schütze, als es in dem Mélineschen Entwurf der Fall sei, indem die amerikanischen Häute und Leder von dem Minimaltarif ausgenommen seien.“ [2*]

Damit war glücklich dargetan, daß Millerand als Handelsminister den „père famine“ Méline mit vollem Erfolg ersetzt, und zugleich bewiesen, daß ein Sozialist in der bürgerlichen Regierung nur insofern funktionieren kann, als er seine Fähigkeit zur Besorgung der bürgerlichen und zur Verleugnung der sozialistischen Politik demonstriert.

Die handelspolitische Tätigkeit Millerands wirft auf die ganze Frage der sozialistischen Ministerschaft ein neues Schlaglicht. Nicht bloß ist der Sozialist als Mitglied einer heutigen Regierung gezwungen, solange die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft, das Privateigentum und die Klassenherrschaft, bestehen, bürgerliche Politik zu treiben. Auf dem Boden der heutigen Gesellschaft kann es ja überhaupt keine andere als bürgerliche Politik geben, und würde der Minister sogar alle Forderungen des sozialistischen Programms ausführen, die auf den gegenwärtigen Staat berechnet sind, auch dann hörte er nicht im mindesten auf, bürgerlicher Minister zu sein. Er würde dann höchstens mit seiner Tätigkeit den fortschrittlichen Tendenzen der bürgerlichen Entwicklung dienen. Aber nicht genug. Es stellt sich heraus, daß ein Minister in der heutigen Regierung nicht bloß an die bürgerliche Gesellschaftsordnung im allgemeinen, sondern an die jeweiligen herrschenden Gruppen- und Koterieninteressen gebunden, daß er nicht bloß Knecht der bürgerlichen Entwicklung, sondern auch Knecht der bürgerlichen Reaktion ist.

Jaurès hat, wie erwähnt, die Verantwortlichkeit Millerands für die allgemeine Politik des Kabinetts als leere Formalität mit dem Liebknechtschen Eid auf die sächsische Verfassung auf gleiche Linie gestellt. Wir haben gezeigt, daß diese Annahme auf einer ganz mechanischen Auffassung vom Wesen des bürgerlichen Staates beruht. Aber wir beschränken uns gern auf die Verantwortlichkeit Millerands für sein eigenes Ressort. Nur bleibt es Jaurès übrig, zu beweisen, daß der Eid, den Liebknecht dem sächsischen König schwor, dieselben Folgen für die Arbeiterklasse Sachsens hatte wie die Handelspolitik Millerands für das französische Volk. Dann wird er auch auf seine in Lille gestellte Frage, ob wir denn auch schwanken würden, wenn es für unsere Sache nötig wäre, einige von den Unsrigen in die Festung der bürgerlichen Regierung zu werfen [3*], eine direkte Antwort bekommen. Dieser Plan läuft nur darauf hinaus, daß „die Unsrigen“ aus der bürgerlichen Festung zusammen mit der Bourgeoisie auf unsere eigenen Reihen schießen.

Ganz anders liegt die Frage der Beteiligung an dem Gemeinderat. Es ist wahr, auch der Gemeinderat wie der Bürgermeister haben unter anderem übertragene administrative Funktionen und die Ausführung bürgerlicher Gesetze zur Aufgabe, allein historisch stellen beide ganz entgegengesetzte Elemente dar.

Während die Regierung die zentralisierte Staatsgewalt verkörpert, wächst die Munizipalität aus der lokalen Selbstverwaltung auf Kosten der Zentralgewalt, als Befreiung von der Zentralgewalt, heraus. Während für die Regierung die spezifischen Mittel der bürgerlichen Klassenherrschaft: der Militarismus, der Kultus, die Handelspolitik, die auswärtige Politik, das eigentliche Wesen ausmachen, ist die Munizipalität speziell zu kulturellen und wirtschaftlichen Aufgaben berufen, also zu denselben, die dem administrativen Mechanismus der sozialistischen, keine Klassenspaltungen kennenden Gesellschaft entsprechen. Zentralregierung und Gemeinde sind deshalb historisch zwei entgegengesetzte Pole in der heutigen Gesellschaft. Der ständige Kampf zwischen der Munizipalität und der Regierung, zwischen dem Bürgermeister und dem Präfekten in Frankreich sind der konkrete Ausdruck dieses geschichtlichen Gegensatzes.

Für die sozialistische Taktik ergibt sich daraus ein grundverschiedenes Verhalten: Die Zentralregierung des heutigen Staates ist die Verkörperung der bürgerlichen Klassenherrschaft, deren Beseitigung eine unumgängliche Voraussetzung des sozialistischen Sieges ist, die Selbstverwaltung ist das Element der Zukunft, an das die sozialistische Umwälzung in positiver Weise anknüpfen wird.

Freilich verstehen die bürgerlichen Parteien auch in die wirtschaftlichen und kulturellen Funktionen der Gemeinde ihren Klasseninhalt zu gießen. Allein die Sozialisten kommen hier nie in die Lage, der eigenen Politik untreu werden zu müssen. Solange sie in den Gemeindevertretungen in der Minderheit sind, machen sie genau in derselben Weise die Opposition zur Richtschnur ihres Verhaltens wie im Parlament. Werden sie aber zur Mehrheit, dann verwandeln sie die Gemeinde selbst in ein Kampfmittel gegen die bürgerliche Zentralgewalt.

Für seine Allianz mit dem bürgerlichen Republikanismus führt Jaurès einen Ausspruch von Marx ins Feld, worin den Sozialisten die Vereinigung mit der Bourgeoisie gegen die Reaktion empfohlen wird. [4*] Er hat offenbar die Schlußsätze aus dem Kommunistischen Manifest im Auge, wo es heißt: „In Deutschland kämpft die Kommunistische Partei, sobald die Bourgeoisie revolutionär auftritt, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute Monarchie, das feudale Grundeigentum und die Kleinbürgerei ... Mit einem Wort, die Kommunisten unterstützen überall jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände.“ (S. 32) [1] Dem angeführten Ausspruch liegt aber ein ganz bestimmter historischer Inhalt zugrunde.

Es ist nämlich der Kampf aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, der die Einsetzung der bürgerlichen Klassenherrschaft an Stelle der feudalen zum Zwecke hatte, worauf der Hinweis des Kommunistischen Manifests abzielt. Hier galt die Unterstützung des Proletariats einer aufstrebenden Klasse, deren politischer Sieg über die Reaktion eine wirtschaftliche Notwendigkeit war. Heute liegen die Verhältnisse grundverschieden. Die Bourgeoisie hat überall das Ziel ihrer Bestrebungen erreicht, und wir sehen sie heute nicht mehr gegen die Reaktion kämpfen, sondern vielmehr mit den Überresten des Feudalismus zur offiziellen Vertretung der Reaktion vereinigt.

Was heute bürgerliche Demokratie in den kapitalistischen Ländern heißt, ist fast ausschließlich das Kleinbürgertum. Die kleinbürgerliche Demokratie ist aber nicht die Äußerung einer aufsteigenden und zur Ablösung der Bourgeoisie strebenden Klasse. Wir gehen der politischen Herrschaft des Kleinbürgertums ebensowenig wie dem ökonomischen Siege des Kleingewerbes über den Großbetrieb entgegen. Den Inhalt der heutigen sozialen Entwicklung bildet, analog zu den Kämpfen des Bürgertums mit dem Feudalismus, nicht der Gegensatz zwischen Kleinbürgertum und Bourgeoisie, sondern zwischen Proletariat und Bourgeoisie.

Die Zwischenstellung des Kleinbürgertums bedingt freilich auch die zeitweise Gemeinsamkeit des Kampfes zwischen ihm und der Arbeiterklasse. In der gegenwärtigen Periode ist aber das Proletariat berufen, das dominierende, leitende Element, das Kleinbürgertum das beiläufige Anhängsel zu bilden und nicht umgekehrt. Das heißt, die sozialistische Partei hat die Aufgabe, auch dort, wo ihre Wege eine Strecke lang mit den Wegen der bürgerlichen Demokratie zusammenlaufen, nicht den eigenen Kampf auf das mit dem Kleinbürgertum gemeinsame Terrain zu beschränken, sondern umgekehrt die Bestrebungen der kleinbürgerlichen Parteien systematisch zu überholen und auf die Spitze zu treiben.

Schon in demselben Kommunistischen Manifest, auf das sich Jaurès stützt, wird der Arbeiterklasse nicht etwa politische Verschmelzung mit den revolutionären Parteien des Bürgertums angeraten. Ganz umgekehrt. Das Manifest stellt als Grundsatz die Unterstützung der revolutionären Bourgeoisie durch die Kommunistenpartei auf, fügt jedoch sofort hinzu: „Sie unterläßt aber keinen Augenblick, bei den Arbeitern ein möglichst klares Bewußtsein über den feindlichen Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat herauszuarbeiten.“ (S.32.)

Will aber Jaurès seine Taktik direkt an der Hand der Marxschen Lehre prüfen, so ums er vor allem die Anweisung berücksichtigen, die Marx dem Proletariat nach der Revolution von 1848, also nach der Hauptschlacht der Bourgeoisie gegen den Feudalismus, gegeben hat und die, zwar vorerst auf die erwartete Fortsetzung der Revolution berechnet, seitdem zur Richtschnur des Verhaltens der Sozialdemokratie auch in Friedenszeiten geworden ist. In der ersten Ansprache der Zentralbehörde an den Kommunistenbund vom Jahre 1850 wird den Arbeitern von Marx empfohlen:

„Sie müssen die Vorschläge der Demokraten, die jedenfalls nicht revolutionär, sondern bloß reformierend auftreten werden, auf die Spitze treiben und sie in direkte Angriffe auf das Privateigentum verwandeln ... Die Forderungen der Arbeiter“, sagt er zum Schluß nach einer Reihe von konkreten Beispielen, „werden sich also überall nach den Konzessionen und Maßregeln der Demokraten richten müssen“, und zwar in dem Sinne, daß die Arbeiter unbedingt in allem weiter gehen als die Kleinbürger. [5*] [Hervorhebungen – R.L.]

Welches ist aber das Verhalten des Jaurèsschen Flügels bei der Allianz mit dem französischen Radikalismus? Wir haben gesehen, wie das Festhalten an der Ministerschaft Millerands die Sozialisten gezwungen hat die Allianz mit dem Radikalismus zur festen Basis ihrer ganzen Taktik zu machen und deshalb den revolutionären Klassenkampf immer mehr einzuengen und zu verleugnen.

Erst fielen die sozialistische Kritik an der Regierung und die politische Aufklärungsarbeit im Lande fort, und der politische Kampf wurde auf das Parlament konzentriert. Dann wurde im Parlament selbst die Opposition preisgegeben. Die Abstimmung über das Amnestiegesetz zeigte uns die rechtsstehende sozialistische Fraktion in ihrem Verzicht auf selbständigen Kampf gegen die Regierung.

Aber der Abrutsch dauert fort. Und in den Verhandlungen über das Assoziationsgesetz haben die Freunde Jaurès’ noch einen weiteren Schritt getan. Zehn sozialistische Abgeordnete haben es in der Sitzung am 4. Februar fertiggebracht, weil die Regierung einen auf Sicherstellung des Koalitionsrechtes der Arbeiter hinzielenden, von der gesamten sozialistischen Fraktion gezeichneten Antrag abgelehnt hatte, gegen den eigenen Antrag zu stimmen! Hier sehen wir die Sozialisten aus einer zum grundsätzlichen Klassenkampf, zur Führung der gesamten Opposition im Lande berufenen Partei in eine haltlose Fraktion der parlamentarischen Augenblickskombinationen verwandelt, in einen Hampelmann, dessen Bewegungen durch die bürgerlichen Parteien bestimmt werden, in einen Haufen von „Mameluken“, wie sie der Radikale von gestern, Urbain Gohier, in der Aurore mit niederschmetternder Verachtung genannt hat.

Die Berufung Jaurès’ auf das Kommunistische Manifest von Marx und Engels ist somit ebenso unbegründet wie seine Berufung auf die Erfahrungen der deutschen Sozialdemokratie. Nirgends in der Geschichte und der heutigen Praxis unserer Partei findet sich irgendeine Analogie oder ein Stützpunkt für die Theorie der sozialistischen Ministerschaft.

Freilich hat sich die deutsche wie jede sozialistische Partei entwickelt und dementsprechend ihre Taktik geändert. Allein die dominierende Tendenz in ihrem historischen Werdegang war und bleibt die stetige Erweiterung und Potenzierung, niemals aber die Preisgabe des Klassenkampfes. Die von Jaurès befürwortete Taktik ist deshalb, weit entfernt, eine Konsequenz der Methoden der deutschen Sozialdemokratie zu sein, für die deutsche ganz wie für die französische Arbeiterbewegung eine völlig „neue Methode“.

Erst wenn man die letzten Konsequenzen der Jaurèsschen Taktik ins Auge fast, begreift man den tiefen inneren Gegensatz, der die beiden Richtungen des französischen Sozialismus trennt.

Es ist in der letzten Zeit, namentlich seit der Dreyfus-Affäre, auch in unsere Presse die Vorstellung eingedrungen, als läge der Grund des französischen Bruderzwistes darin, daß die Vertreter der revolutionären Richtung, die alten Parteien von Guesde und Vaillant, Anhänger eines rein sektiererischen Dogmenfanatismus, einer sterilen Abstentionspolitik seien, die sich den praktischen Anforderungen der alltäglichen Wirklichkeit verschließen, während die Fraktion Jaurès’ die lebendige Entwicklung der sozialistischen Taktik, die Anpassung an die ganze Mannigfaltigkeit des politischen und sozialen Lebens und die Wahrnehmung der unmittelbaren Interessen der Arbeiterklasse vertritt.

Diese Vorstellung beruht auf einer völligen Außerachtlassung der tatsächlichen Verhältnisse des französischen Sozialismus. Es waren gerade die alten Organisationen, die Arbeiterpartei (sog. Guesdisten) und die Sozalistisch-revolutionäre Partei (sog. Blanquisten), die alle die Bahnen des praktischen Kampfes eröffnet haben, in denen sich der Sozialismus in Frankreich bewegt, und eine Taktik geschaffen, die sich in den wesentlichsten Zügen mit der Taktik der deutschen Sozialdemokratie deckt, trotzdem die Ansichten in Frankreich und in Deutschland in einer wichtigen Frage, in der des Agrarprogramms, bekanntlich weit auseinandergehen.

Es war die Arbeiterpartei, die zuerst in Frankreich die parlamentarische Aktion nach dem Ausdruck des von Marx redigierten Programms dieser Partei „aus einem Werkzeug der bürgerlichen Prellerei in ein Werkzeug der proletarischen Emanzipation“ verwandelt hatte. Und zwar nicht nur zum Zwecke der agitatorischen Aufklärungsarbeit, sondern auch im Sinne des Kampfes um naheliegende praktische Reformen.

Wir greifen absichtlich die Parlamentssession 1889 bis 1893 heraus, also eine Zeitperiode, wo die besten Kräfte des Jaurèsschen Flügels sich noch nicht an der sozialistischen Bewegung beteiligten. Die Vertreter der Französischen Arbeiterpartei haben in der erwähnten Session beantragt und in der Kammer verfochten: 1. das volle Programm des Arbeiterschutzes, wie es auf dem Internationalen Sozialistenkongreß 1889 [2] ausgearbeitet wurde; 2. das Verbot von Geldstrafen in den Fabriken und die Revision der Fabrikreglements durch paritätische Lokalkommissionen; 3. die Unterstellung aller Hilfskassen der Arbeiter unter die ausschließliche Verwaltung durch Arbeiter; 4. das Verbot der Verwendung von Militär bei Arbeitskonflikten; 5. die strafrechtliche Verfolgung der Unternehmer für Beeinträchtigungen des Koalitionsrechtes; 6. die Reorganisierung des Obersten Arbeitsrates in der Weise, daß die Hälfte der Mitglieder von den Gewerkschaften gewählt wird; 7. die Einführung des achtstündigen Arbeitstags, eines gleichen Minimallohns für Arbeiter und Arbeiterinnen und das Verbot der Kinderarbeit bis zum sechzehnten Lebensjahr in den staatlichen Zündholzfabriken; 8. die Verstaatlichung der Kohlenbergwerke; 9. die Ausdehnung des Arbeiterschutzes auf Magazine und die Hausindustrie, endlich die Wahl der Fabrikinspektoren durch die Arbeiter. Wir sehen hier eine ins kleinste Detail gehende parlamentarische Reformarbeit, die genau der Aktion unserer sozialdemokratischen Fraktion in Deutschland entspricht.

Dasselbe Bild bietet uns die Tätigkeit der genannten beiden Parteien im Parlament auch in der gegenwärtigen Session. Ob es sich um den Arbeiterschutz oder um die Getränkesteuer, um die auswärtige Politik oder um Gewerbegerichte, um die Verteidigung der Kontroll- und Budgetrechte des Parlaments oder um die Verteidigung der Republik gegen das Pfaffentum handelt, stets ficht der vorzügliche Trupp der blanquistischen Abgeordneten mit seinen Verbündeten von der „kommunistischen Allianz“ und von der Französischen Arbeiterpartei – die Breton, Dejeante, Groussier, Sembat, Vaillant, Zévaès – in der ersten Reihe.

Es sind desgleichen die genannten zwei Parteiorganisationen, die in Frankreich eine Aktion in den Gemeinderäten entfaltet haben, die für die Sozialisten aller anderen Länder als Muster gelten kann. Die Französische Arbeiterpartei allein, vertreten in mehr denn hundert Munizipalitäten als Mehrheit, in mehreren Hunderten als starke Minderheit, verrichtet jahraus, jahrein eine unermüdliche positive Kleinarbeit, die sich auf verschiedenste Gebiete: auf das Schulwesen, Gesundheits- und Armenwesen, Beleuchtung, Wasserversorgung, sogar auf Theater und Kunst, erstreckt. Und wohlgemerkt gehört diese Arbeit nicht etwa der Vergangenheit an, sondern sie wird in immer größerem Masse bis auf den heutigen Tag betrieben. [6*]

Endlich haben auch auf dein Gebiet des gewerkschaftlichen Kampfes die Parteien von Guesde-Lafargue und von Vaillant großartige Leistungen aufzuweisen.

Nachdem die Französische Arbeiterpartei bereits 1882 die Notwendigkeit und Wichtigkeit der gewerkschaftlichen Organisation anerkannt hatte, empfahl sie 1890 allen ihren Mitgliedern, den respektiven Gewerkschaften beizutreten – ein Beschluß, der dem Wunsche unserer deutschen Gewerkschaften entspricht. 1895 beschließt sie, ein Gesetz zu beantragen, das in allen Arbeitszweigen die Gewerkschaftssatzungen für alle beschäftigten Arbeiter obligatorisch macht. Durch eigene unermüdliche Agitation ruft sie ins Leben: den Nationalverband der Textilarbeiter, der Seeleute, der Lederarbeiter, mehrere lokale Bergarbeitergewerkschaften usw. und leitet alle wichtigen Streikbewegungen: in Roanne 1882, Decazeville 1885, Calais 1890, Carmaux 1892 und 1895, im Augenblick ist sie tätig in Chalon und in Montceau-les-Mines. Während endlich Jaurès und seine Freunde dem Wahne der französischen Gewerkschaftler – der Idee des Generalstreiks – mit allen Mitteln Vorschub leisten, sucht die Arbeiterpartei durch systematische Bekämpfung dieser Idee die Gewerkschaftsbewegung auf realen Boden zu stellen. Und während die Fraktion Jaurès’ den politischen Interessen zuliebe die Gewerkschaften durchaus der sozialistischen Partei einverleiben will, vertreten Guesde und Vaillant im Interesse einer freien Entwicklung der Gewerkschaften ihre organisatorische Selbständigkeit gegenüber der politischen Partei.

Es ist nach alledem klar, daß es sich zwischen der sogenannten „antiministeriellen“ und der „ministeriellen“ Fraktion des französischen Sozialismus nicht darum handelt, ob praktische Arbeit oder „revolutionäre Phrase“. Wenn die Anhänger Millerands ihren Gegnern Vernachlässigung der praktischen Reformarbeit zur Last legen, so ist es nur, weil ihnen praktische Arbeit mit bedingungsloser Zustimmung zu allem Tun und Lassen der heutigen Regierung identisch ist.

Wer gegen das Gesetz Millerand-Colliard, das heißt gegen die Verdammung der Kinder zu gleicher Arbeitsdauer mit den Erwachsenen ist, der ist –gegen den Arbeiterschutz! Wer die Regierungsvorlage betreffend die Kongregationen als eine Halbheit und Impotenz hinstellt, der arbeitet für den Triumph der klerikalen Reaktion! Wer die „republikanischen“ Erbärmlichkeiten des Kabinetts Waldeck-Rousseau dem Lande denunziert, der ist – gegen die Verteidigung der Republik!

Diese Behauptungen stehen auf demselben Boden wie das famose Schlagwort der Reaktionäre des deutschen Reichstags, die deutsche Sozialdemokratie sei, weil sie die Bismarcksche Arbeiterversicherung seinerzeit ablehnte, Gegnerin der sozialen Reformen.

In Wirklichkeit handelt es sich in dem französischen Parteistreit nicht um die praktische Arbeit, sondern um die Art und Weise, um die „zwei Methoden“ der praktischen Arbeit, deren Gegensatz in seiner ganzen Schärfe sich nur aus den besonderen politischen Verhältnissen Frankreichs beurteilen und begreifen läßt.

Während in monarchisch regierten Ländern, wie in Deutschland, die Republik ausschließlich eine Forderung der sozialistischen Arbeiterklasse und deshalb mit dem Sozialismus aufs innigste verbunden ist, war sie in Frankreich umgekehrt diejenige konkrete Form der bürgerlichen Klassenherrschaft, gegen die der Sozialismus seine Kritik und Opposition vom ersten Augenblick an richten mußte. Nur in dem Masse, als es den Sozialisten gelang, die Illusionen über die republikanische Staatsform zu zerstören, ihren sozialen Inhalt herauszukehren, vermochten sie die Arbeiterklasse von dem bürgerlichen Lager abzulösen und in einer besonderen Klassenpartei zu organisieren. Die Existenz des Sozialismus war von vornherein an den unaufhörlichen Kampf gegen den bürgerlichen Republikanismus gebunden. Und es ist das unvergängliche historische Verdienst der alten Parteien, der Guesdisten und Blanquisten (zum Teile – wenn auch auf anderem Wege, nämlich durch extreme Negation des politischen Kampfes – auch der sogenannten Allemanisten), die Spaltung zwischen der Arbeiterklasse und den bürgerlichen Republikanern herbeigeführt zu haben.

Diesen Graben zwischen dem Proletariat und dem republikanischen Kleinbürgertum, an dessen Vertiefung Guesde, Lafargue, Vaillant und ihre Freunde – bald fünfundzwanzig Jahren unermüdlich arbeiten, wieder vollständig zu verschütten – das ist die objektive Tendenz der Jaurèsschen Taktik. Wenn diese Tendenz in der Haltung der Kammerfraktion nicht zur vollen Geltung kommt, so liegt es daran, daß neben den Anhängern Jaurès’ seine entschiedenen Gegner, Vaillant, Zévaès und Genossen, die Taktik der parlamentarischen Gruppe mitbestimmen und den Einfluß der Direktiven Jaurès’ in hohem Masse paralysieren.

Freilich führt die Gruppe Jaurès auch sozialistische Propaganda, und sie glaubt fest, durch ihre „neue Methode“ gerade dem Sozialismus ungeheure Dienste leisten zu können. Und Jaurès selbst hat sich sogar in einem Vortrag, gehalten in Paris am 10. Februar 1900, mit allen wesentlichen Punkten der Theorie mit den Ansichten des wissenschaftlichen Sozialismus einverstanden erklärt. Aber eine Partei ist nicht daß, was sie von sich sagt und glaubt, sondern was sie tut. Das entscheidende Moment der Tätigkeit, die politische Taktik des Jaurèsschen Flügels führt trotz seiner aufrichtigsten sozialistischen Überzeugung und der größten Hingebung an die Sache des Proletariats geradenwegs dahin, die Arbeiterklasse wieder in dem republikanischen Lager der Bourgeoisie aufzulösen, das heißt, das ganze vom Sozialismus seit einem Vierteljahrhundert vollbrachte Werk wieder zunichte zu machen.

Es sind gerade die Befürchtungen vor diesem Rückfall in die Rolle des Anhängsels der bürgerlichen Parteien, die die alten sozialistischen Organisationen dazu geführt haben, in der Wahrung der souveränen Interessen des Sozialismus auf Kosten der tagespolitischen Interessen manchmal zu weit zu gehen und in den Krisen der Republik die Abstention der Arbeiterklasse als Losung auszugeben. So bleibt es auch zweifellos eine unendlich zu bedauernde Tatsache, daß sich die Französische Arbeiterpartei und die Sozialistisch-revolutionäre Partei in der Dreyfus-Krise beiseite hielten, statt sich umgekehrt an die Spitze der Bewegung zu stellen und damit ihre Richtung zu bestimmen.

Aber es ist total falsch, wenn man diese Haltung aus der Gleichgültigkeit für die politischen Formen erklärt. Bereits 1889 in ihrem Manifest aus Anlas der Boulanger-Krise [3] haben die Guesdisten und die Blanquisten klipp und klar ausgesprochen: „Die Republik ist die zur Emanzipation des Proletariats notwendige politische Form. Sie ums um jeden Preis aufrechterhalten werden!“

Auch heute unterstützen die beiden Parteien im Parlament das Ministerium „der republikanischen Verteidigung“ als geringeres Übel, trotz all seiner Erbärmlichkeit.

Worum es sich handelt. ist nicht die Frage, ob Verteidigung der Republik oder nicht, sondern die Frage, ob die Arbeiterklasse eine selbständige politische Partei im Gegensatz zu allen bürgerlichen Klassen oder ob sie nur ein passiver Bestandteil der republikanischen Fraktion der Bourgeoisie sein soll.

Und wenn Kautsky vor zwei Jahren gesagt hat, daß Jaurès durch seine Dreyfus-Kampagne die Ehre des französischen Sozialismus gerettet hat, so ums heute gesagt werden, daß Guesde und Vaillant durch ihren unbeugsamen Widerstand gegen die sozialistische Ministerschaft nicht bloß die Ehre des Sozialismus, sondern noch ein übriges, nämlich den Sozialismus selbst retten.

Seit dem letzten Internationalen Kongreß in Paris haben sich die Verhältnisse des französischen Sozialismus gänzlich verschoben, ohne daß man es im Ausland gewahr wurde und die Tragweite des Umschwungs gewürdigt hätte.

Zur Zeit des Kongresses rührten die lebhaften internationalen Sympathien für die Fraktion Jaurès von zwei Momenten her: von ihrer mutigen Dreyfus-Kampagne und von ihrer kräftigen Aktion für die sozialistische Einigkeit. [4]

Seither ist das Zusammengehen der Sozialisten mit den bürgerlichen Elementen in der Dreyfus-Krise dank dem Dazwischentreten der Ministerschaft Millerands in die Taktik des Kadavergehorsams gegenüber der Regierung und der radikalen Partei ausgeartet. Damit haben Jaurès und seine Anhänger die führende Rolle im politischen Kampfe der Arbeiterklasse, die sie während der Dreyfus-Affäre für eine Zeitlang erobert hatten, wieder an die alten Parteiorganisationen verloren, die heute wie seit jeher in der Politik des Landes der vorwärtstreibende Teil sind.

Desgleichen ist die Ministerschaft Millerands infolge des Frontwechsels, der sich in der Haltung des Jaurèsschen Flügels ihr gegenüber vollzogen hat, für die Frage der sozialistischen Einigkeit verhängnisvoll geworden. Wenn der Fall Millerand als ein Ausnahmefall während der Dauer der Dreyfus-Krise noch eine schwache Rechtfertigung finden konnte, wo die Republik nicht nur den Beteiligten in Frankreich, sondern auch den Beobachtern im Ausland in den letzten Zügen zu liegen schien, so ist nach dem Fiasko der Verteidigungsaktion des Kabinetts jede Entschuldigung für den Schritt Millerands verschwunden. Indem Jaurès aber aufgehört hat, die Beteiligung des Sozialismus an der Regierung als eine außerordentliche Maßregel zu betrachten, und in seinen Reden in Lille und in Bourges im direkten Gegensatz zu der auch von ihm akzeptierten Resolution des ersten französischen Einigungskongresses (1899) [5] wie zu der Kautskyschen Resolution des Pariser Internationalen Kongresses die sozialistische Ministerschaft als normales Kampfmittel der Arbeiterbewegung, als „neue Methode“ erklärt, hat er die Tätigkeit seiner Gruppe auf einen Boden gestellt, auf dem die Vereinigung mit den anderen sozialistischen Gruppen außerordentlich schwer ist. Heute ist es also gerade Jaurès, der unermüdliche Träger der Einigkeitsidee, der durch das Festhalten an einer Taktik, die zu bekämpfen nicht bloß das Recht, sondern die Pflicht seiner sozialistischen Widersacher ist, sein eigenes Werk untergräbt und zum Faktor der Uneinigkeit wird.

Die Sachlage hat sich also seit dem Internationalen Kongreß um ganze 180 Grad verschoben, und dieser Umstand macht eine gründliche Revision der Ansichten der sozialistischen Welt in bezug auf die französischen Parteiverhältnisse notwendig.

Dies besonders für uns in Deutschland. Wir haben meines Erachtens durchaus keinen Grund, eine Partei im Ausland zu bekämpfen, die in allen wesentlichen Zügen auf dem gleichen Boden mit uns steht, und eine Richtung im Ausland zu verherrlichen, deren schwache Ansätze bei uns zu Hause die Partei in allen praktischen Fällen bekämpft.

In der Taktik Jaurès’ finden wir in der Tat alle Grundzüge des sozialistischen Opportunismus wieder, wie wir sie auch in Deutschland kennengelernt haben. Die Theorie von dem Wiederaufleben des kleinbürgerlichen Radikalismus in Frankreich ist nur das politische Gegenstück zu der Theorie von der Unerschütterlichkeit des Kleingewerbes. Die Reduzierung der sozialistischen Politik auf die mit dem bürgerlichen Republikanismus gemeinsame Aktion – das ist die praktische Überwindung der „Freßlegende“. Die Beseitigung jeder Kritik an der „republikanischen“ Regierung in der Erwartung ihres segensreichen Wirkens – das ist die Verwirklichung des Prinzips: „Dem guten Willen die offene Hand.“ Die prinzipienlose Politik in den Tag hinein, gerichtet einzig nach den parlamentarischen Augenblickskombinationen – das ist die fleischgewordene Politik „von Fall zu Fall“. Und ein sozialistischer Minister, der Brotwucher treibt – das ist der höchste Triumph der „praktischen Politik“ über die graue „Theorie“.

Es erscheint deshalb erklärlich, wenn der Ministerschaft Millerands und der sich daran knüpfenden Taktik in Frankreich die lebhaftesten Sympathien der Anhänger des Opportunismus bei uns wie anderwärts zuteil geworden sind. Derselbe Umstand ist es aber auch, der die enorme internationale und geschichtliche Bedeutung des Falles Millerand für die sozialistische Bewegung ausmacht.

Wir erleben gegenwärtig in Frankreich ein eklatantes Experiment der opportunistischen Taktik des Sozialismus, für das anderswo alle Voraussetzungen fehlen. In Deutschland erscheint es sowohl angesichts der politischen Verhältnisse des Landes wie angesichts der organischen und theoretischen Geschlossenheit der Sozialdemokratie ausgeschlossen, daß die Anhänger dieser Taktik in die Lage kommen, die Arbeiterbewegung nach eigenen Theorien zu modeln und so ihre Tendenzen in die Tat umzusetzen. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die Phrase von der „praktischen Arbeit“ zu kultivieren, ohne auf die Gestaltung dieser letzteren nennenswerten Einfluß zu gewinnen.

In Frankreich sehen wir heute den Opportunismus in der Aktion. Durch ausnahmsweises Zusammentreffen eigenartiger Momente in der Entwicklung der Arbeiterbewegung wie der bürgerlichen Gesellschaft ist er plötzlich zur Macht geworden. Die Phrase von der „praktischen Arbeit“ ist an der Arbeit, der Kartenkönig ist plötzlich zum wirklichen König geworden. Er hat den Herrscherstab in der Hand, er kann zeigen, was er kann.

Und er zeigt es.

Zur Hälfte hat er sich schon kompromittiert, bald dürfte er sich bis auf die Knochen blamieren. Die Erfahrungen mit dem Ministerium Waldeck-Millerand sind geeignet, der gesamten internationalen Sozialdemokratie die Lust an opportunistischen Experimenten zu verderben. Wir wünschen ihm deshalb ein langes Leben!

Fußnoten

1*. Siehe Jaurès’ Rede in Lille, in Les deux Méthodes, S. 8.

2*. Fournière, Petite République vom 17. August 1899.

3*. Les deux Méthodes, S. 8.

4*. Siehe die Rede Jaurès’ in Lille, in Les deux Méthodes, S. 4.

5*. Enthüllungen über den Kommunistenprozeß in Köln, 1885, S. 83 [Karl Marx u. Friedrich Engels, Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850, in Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke, Bd. 7, Berlin 1964, S. 253.]

6*. Um nur eine Probe aus dem Bulletin Mensuel de la Féderation Nationale des Élus du Parti Ouvrier vom 1. November 1900 herauszugreifen, so beschlossen die Gemeinderäte dieser Partei um jene zeit: in Vieux-Condé – die unentgeltliche Verteilung der Schulhilfsmittel für alle Kinder der Gemeinde; in Armentières – die Verteilung von dreißig Freibillets zu jeder Theatervorstellung unter die Arbeiter; in Lille – die Bewilligung von Unterstützungen im Betrag von 100 bis 250 Francs an eine Reihe von Gewerkschaften zur Deckung der Beschickungskosten von Gewerkschaftskongressen, ferner Alterspensionen für Gemeindearbeiter vom siebzigsten Lebensjahr im Betrag von 150 bis 300 Francs jährlich; in Roubaix – eine Abmachung mit der Kompanie der Trambahnen, wonach den Arbeitern und Angestellten dieser Kompanie gesichert werden: der achtstündige Arbeitstag, ein Minimallohn von 4 Francs, volle Auszahlung des Lohnes für die zeit der Militärübungen bei Reservisten, eine durch das Personal verwaltete Krankenkasse, die durch 1 Prozent der ausbezahlten Lohnsumme und im übrigen durch Beiträge der Kompanie unterhalten wird und dem kranken Arbeiter zwei Monate vollen Arbeitslohn garantiert, eine Alterspension und eine ständige paritätische Einigungskommission für Arbeitskonflikte; in Hem – die Unentgeltlichkeit der Totenbestattung; in Issoudun – die obligatorische Erhaltung der Feuerwehr durch die Versicherungsanstalten; endlich in Saint-Pourçain – die unentgeltliche kommunale waschanstalt.

Anmerkungen

1. Karl Marx u. Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke, Bd. 4, Berlin 1964, S. 492 u. 493.

2. Der Internationale Arbeiterkongreß, der Gründungskongreß der II. Internationale, fand vom 14. bis 20. Juli 1889 in Paris statt.

3. Der französische General Georges-Ernest Boulanger, ein Feind der Republik, hatte 1889 versucht, eine reaktionäre Militärdiktatur zu errichten. Er floh nach Belgien, nachdem seine Staatsstreichpläne gescheitert waren.

4. Jean Jaurès und seine Anhänger hatten im Gegensatz zu anderen sozialistischen Gruppen in Frankreich während der Dreyfus-Affäre eine konsequenten Kampf gegen den Militarismus geführt und traten für die Einigung der einzelnen Gruppen ein.

5. Am 3. Dezember 1899 begann im Pariser Gymnasium Japy ein allgemeiner Kongreß aller sozialistischen Gruppen Frankreichs, der über die Beteiligung sozialdemokratischer Minister an bürgerlichen Regierungen beriet. Der Kongreß verurteilte den Ministerialismus, ließ aber gegen die Stimmen der Guesdisten Ausnahmeregelungen zu. die einzelnen Gruppen einigten sich über bestimmte Maßnahmen, die zukünftige gemeinsame Aktionen ermöglichen sollten.


Zuletzt aktualisiert am 11.1.2012