Rosa Luxemburg


Kleinbürgerliche oder proletarische Weltpolitik?

(19. August 1911)


Leipziger Volkszeitung, 19. August 1911.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 26–31.
Transkription: Oliver Fleig und Sozialistische Klassiker.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Leipzig, 19. August

Kaum hat endlich die Massenaktion der Partei gegen die Marokkopolitik [1] begonnen, als auch schon der sicher sehr gutgemeinte, aber nichtsdestoweniger ganz verkehrte Versuch gemacht wird, diese Aktion in falsche Bahnen zu lenken. Im Vorwärts untersucht Genosse Bernstein in zwei Artikeln [2] – die die Redaktion des Zentralorgans ohne jede Verwahrung an leitender Stelle abdruckt – die Frage, welche konkrete Losung wir unsrer Protestbewegung gegen den Marokkokurs geben sollen. Bernstein will offenbar „praktische Politik“ treiben. Und diese versteht er so, dass die Sozialdemokratie verpflichtet ist, „positive“ Vorschläge für die Lösung der weltpolitischen Schwierigkeiten zu machen. Wir als Sozialdemokraten sollen jetzt einen Ausweg finden, den wir den kapitalistischen Staaten als den „besten“ von allen Standpunkten und den gangbarsten zur Beilegung der Marokkowirrnis empfehlen. Wie soll die Sozialdemokratie eine ihr so wesensfremde Aufgabe lösen und Rezepte für die kapitalistische Diplomatie und ihre Kabinette ausarbeiten? Bernstein zeigt uns, wie das Kunststück zu machen ist. Da er aber als Sozialdemokrat dabei auch in ein ihm fremdes Handwerk pfuscht, so kommt etwas ganz Merkwürdiges heraus. Bernstein hebt schließlich als eignen Vorschlag der Sozialdemokratie einen zerknüllten Papierfetzen vom Boden auf, den er unter dem Tisch der Diplomaten fand, diesen streicht er auf dem Knie mit aller Sorgfalt glatt und hält ihn freudig in die Höhe als die einzige, die beste Lösung des Marokkokonflikts, die einzige Politik im Sinne des „Friedens und der Gleichheit der Rechte“, im Sinne der „höchsten Gebote der Menschlichkeit“ wie der wohlverstandenen materiellen Interessen der Völker, die einzige der Sozialdemokratie und des 20. Jahrhunderts würdige Lösung: Es ist die Algecirasakte! [3] Welches Auge bleibt da trocken oder wenigstens ernst?

Die Algecirasakte war der Ausdruck jener weltpolitischen Lage, bei der Frankreich noch nicht offen Marokko als Kolonie an sich raffen konnte, andre Mächte aber um Marokkos willen keine kriegerischen Aktionen unternehmen mochten und konnten. Die internationale Garantie der Aufrechterhaltung der Souveränität des Sultans von Marokko, d.h. der formalen Unabhängigkeit des Landes, die alle Staaten damals „im Namen des Allmächtigen“ geleistet haben, bedeutete ein momentanes bestimmtes Gleichgewicht der Kräfte unter den verschiedenen weltpolitischen Interessen. Aus der Gaunersprache der diplomatischen Kabinette in gewöhnliches Deutsch übersetzt, bedeutete jene „Souveränitätserklärung“ des Sultans von Marokko also folgendes: Einstweilen mag diese Puppe auf ihrem Thrönchen sitzen und als Aushängeschild der Unabhängigkeit Marokkos dienen, denn vorläufig passt uns die Aufteilung Marokkos nicht in den Kram, wir haben andre Sorgen. Kommt Zeit, kommt Rat, einstweilen auf Wiedersehen bis zur nächsten Gelegenheit!

Dass die Souveränität des Sultans und die Unabhängigkeit Marokkos schon im Moment, der Unterzeichnung der Algecirasakte eine schale Farce war, die in der weiten Welt wohl niemand außer Bernstein ernst nahm, dass der Sultan ein bloßer Schürzenstipendiat französischer und deutscher Börsenwölfe, Marokko eine Satrapie des europäischen, in erster Linie französischen, Kapitalismus ist, das muss heute jeder einsehen. Seitdem hat sich aber die Lage nach derselben Richtung noch weiter verschoben. Frankreich hat sich in Marokko noch mehr eingenistet, die „Souveränität“ noch mehr zum Popanz gemacht. Und andre Mächte, Deutschland vor allem, haben es ruhig gewähren lassen, weil sie diesmal die Sache bereits für reif und den Zeitpunkt der endgültigen Verschacherung des Landes für gekommen glauben. Die Algecirasakte hat also ihre Arbeit getan, sie konnte gehen. Sie ist durch dieselbe Tendenz der Entwicklung, aus der sie geboren wurde, jetzt überholt. Sie ist ein ausgetretener Hausschuh der Diplomatie geworden, der auf den Kehrichthaufen wandert.

Und diesen edlen Gegenstand erhebt nun Ed. Bernstein als das Banner der sozialdemokratischen Weltpolitik! Aber Bernstein hat an dem verbrauchten Requisitenstück der kapitalistischen Weltpolitik eine wunderbare Seite entdeckt: Die Algecirasakte war „moralisch“, ihre Verletzung ist unmoralisch, ist ein Rechtsbruch. Und er verbreitet sich des langen über die Moral und Unmoral, sein ganzer Artikel trieft von Moral. „Unendlich ehrenhafter stünde Deutschland da“, sagt er, „wenn es erklärte: Kein Schacher, sondern das vertragsmäßige Recht.“ So aber hat sich Deutschland moralisch „erniedrigt“. Aber auch Englands Moral findet Bernstein zu seinem Schmerz nicht ganz makellos. „Wenn das offizielle England Deutschland in bezug auf Agadir und dessen Hinterland ‚Hände weg!‘ zuruft, so hat es in unsern Augen jedes moralische Recht dazu dadurch verwirkt, dass es Frankreich erlaubt hat und weiter erlaubt, im größten und zivilisiertesten Teil von Marokko den Bestimmungen des Algeciras-Vertrags ins Gesicht zu schlagen.“ [4] Allmählich entdeckt Bernstein, dass eigentlich alle Staaten hier unmoralisch handeln. Und nun hat er viel zu tun. Es ist ein erhebendes Bild: Genosse Bernstein, der mit sittlichem Ernst unter der Brille hervor Herrn Kiderlen-Wächter anblickt und mit gehobenem Zeigefinger ermahnt: Kiderlen, du bist ein Hehler geworden. Ja, ein Hehler. (Bernstein sagt es zweimal in seinem Artikel.) Kiderlen, bessere dich, werde ehrenhaft, werde moralisch! Es ist so unendlich besser, moralisch zu sein! – Wir fürchten, dass Kiderlen nur ungeduldig den Kopf halb umwenden und in seiner lakonischen Weise brummen wird: Herr Bernstein, gehen Sie zum Kuckuck!

In der Tat, welche unnütze Grausamkeit. Jemand Zumutungen zu machen, die er nie und nimmer erfüllen kann. Der kapitalistische Imperialismus soll „moralisch“ werden. Das ist ungefähr dasselbe, wie von der Prostitution zu verlangen, sie soll „moralisch“ werden. Und es zeugte genau von demselben Tiefsinn der sozialen Auffassung, die Bernstein dem Imperialismus gegenüber beweist, wenn jemand von der Prostitution nicht mehr zu sagen wüsste, als dass sie „unmoralisch“ sei. Das innerste Wesen, der Kern, der ganze Sinn und Inhalt der imperialistischen Politik der kapitalistischen Staaten ist das fortschreitende und unausgesetzte Zerreißen aller nichtkapitalistischen Länder und Völker in Fetzen, die von dem Kapitalismus nach und nach verschlungen und verdaut werden. Es ist also – wenn man den historischen Prozess von rechtsformalistischer und ethischer Seite erfassen will – nichts andres von Hause aus als ein fortlaufender, zum Gesetz erhobener Rechtsbruch und Gewaltakt. Der Kampf um diese Fetzen fremder Länder und Völker ist der einzige Inhalt und Zweck sowohl der kriegerischen Zusammenstöße wie der offenen und geheimen Staatsverträge, die nur eine andre Methode der imperialistischen Kriegführung sind, nur die jeweilige momentane Fixierung des gegenseitigen Kräfteverhältnisses in diesem Kampfe darstellen. Welches politische Kind weiß nicht heute, dass diese Verträge nur dazu gemacht werden, um bei entsprechender Verschiebung der Kräfte gebrochen zu werden? Wo ist bis jetzt ein internationaler Staatsvertrag imperialistischen Charakters, der nicht gebrochen worden wäre? An die Unverrückbarkeit und Unantastbarkeit der internationalen Verträge der kapitalistischen Staaten kann nur glauben, wer keine Ahnung davon hat, dass sich die internationale Lage in ständigem Fluss befindet, dass auch hier Verschiebungen, Entstehen und Vergehen, Entwicklung und Bewegung das Gesetz bilden. Ist doch diese internationale weltpolitische Entwicklung nichts andres als bloß die Kehrseite der inneren Entwicklung des Kapitalismus, auf ihr basiert unser Bestreben zur sozialistischen Umwälzung.

Und nun soll die Sozialdemokratie gerade die Heiligkeit der internationalen diplomatischen Verträge, die stets Ausgangspunkte neuer Gegensätze und Kämpfe sind, zu ihrer Losung machen! Sie soll die kapitalistische Welt zur „Moral“ bekehren!

Doch fragen wir einmal, welche Art Moral und Recht verficht hier eigentlich Bernstein? Nach ihm ist die Algecirasakte das „Recht“, ihre Verletzung ist „Rechtsbruch“. Nun hat Bernstein, der in der Algecirasakte bloß das gleiche Recht aller „Handelsnationen“ in Marokko bemerkt hat, merkwürdigerweise ganz übersehen, dass es außer europäischen Händlern noch einen andern Faktor gibt, der hier auch sozusagen gewisse „Rechte“ hat: Es ist das Volk der Eingeborenen, es sind die Stämme Marokkos, die jetzt rebellieren. Er hat gar nicht bemerkt, dass, indem die Algecirasakte die Souveränität des Sultans von Marokko garantierte, sie damit die Rechte der Eingeborenen mit Füßen trat, dass sie ihnen einen verächtlichen und gemeingefährlichen Blutegel auf den Rücken setzte, der den europäischen „Handelsnationen“ nur dazu dient, den Stämmen Blut abzuzapfen, das ihm nachher in die Taschen der Börsenwölfe ausgepresst wird. Ja, unser Moralprediger zeigt hier gar laxe Moralbegriffe. Er sagt z.B. kalten Blutes:

Es kann sich dort (in Marokko) nur um kapitalistische Unternehmungen von Europäern handeln, bei denen Afrikaner als Arbeiter beschäftigt werden. Das Recht, im Sus-Gebiet usw. Pflanzungen und Bergwerke zu betreiben, steht aber deutschen Unternehmern heute schon zu; der Algecirasvertrag spricht ihnen in Marokko das gleiche Recht zu wie Engländern und Franzosen. Die strenge Erfüllung dieses von allen interessierten Mächten unterzeichneten Vertrags zu verlangen ist nicht nur der ehrenhafteste und humanste, er ist auch der billigste Weg, Deutschen, die in Marokko Handel und Gewerbe betreiben wollen, zu dem zu verhelfen, was sie mit Ehren und Verstand verlangen können. [5]

„Mit Ehren und Verstand“ dürfen Mannesmann und Krupp verlangen, dass ihnen afrikanische Arbeiter als Leder zum Gerben ausgeliefert werden! „Das Recht“, afrikanische Arbeiter in Bergwerken und Pflanzungen für den kapitalistischen Profit zu Tode hetzen zu dürfen, das ist für unsern Bernstein der „ehrenhafteste und humanste Weg“! O Moralprediger! Aber so ergeht es immer unsern „praktischen Politikern“, die vor lauter staatsmännischem Drang durchaus auf „positivem Boden“ stehen wollen, dass sie mit beiden Beinen in der Luft zappeln und mit den edelsten Teilen auf den Boden zu liegen kommen.

Das Missgeschick Bernsteins beweist eben, dass er an die ganze Frage von verkehrter Seite herangetreten ist. Mit „Recht“ und „Moral“ kann man solche Erscheinungen wie den modernen Imperialismus nicht messen. Seine Tendenzen, seine Wurzeln, seine historische Bedeutung als Schlussperiode der kapitalistischen Entwicklung – das zu erfassen, das ist die Aufgabe der Sozialdemokratie. Die unzertrennliche Verbindung des Imperialismus mit der kapitalistischen Entwicklung, deren legitimes Kind er ist trotz seiner abschreckenden Hässlichkeit oder vielmehr gerade in seiner abschreckenden Hässlichkeit. – das ist, was wir die Arbeiterklasse begreifen lehren müssen. Und daraus muss sie die Konsequenz ziehen, dass man den Imperialismus, Krieg, Länderraub, Völkerschacher, Rechtsbruch, Gewaltpolitik nur bekämpfen kann, indem man den Kapitalismus bekämpft, indem man dem weltpolitischen Völkermord die soziale Revolution entgegenstellt. Sucht man aber innerhalb der imperialistischen Politik Abhilfe und Lösungsmittel für seine Konflikte und will man sich seinem Sturm und Drang widersetzen, indem man ihn einfach auf das bereits Überwundene zurückzuschrauben versucht, so ist das nicht proletarische, sondern kleinbürgerliche, hoffnungslose Politik. Diese Politik ist im Grunde nichts andres als stets die Verteidigung des Imperialismus von gestern gegen den Imperialismus von heute.

Die moralische Empörung spielt in unsrer Protestbewegung gegen die Weltpolitik freilich eine große Rolle. Sie wird aber nur dann zum politischen Faktor, wenn sie mit dem Verständnis der historischen Gesetze der Erscheinung verbunden ist, wenn sie sich nicht gegen äußere Formen, sondern gegen das Wesen, nicht gegen die Folgen, sondern gegen die Wurzel richtet, mit einem Wort: wenn sie die revolutionäre Empörung einer Masse ist, die gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung als solche Sturm läuft.

Fußnoten

1. Im Frühjahr 1911 hatte der französische Imperialismus den Versuch unternommen, seine Herrschaft auf ganz Marokko auszudehnen und endgültig zu festigen. Dieses Vorgehen nahmen die deutschen Imperialisten zum Anlass für die Erklärung, Deutschland fühle sich nicht mehr an das Algecirasabkommen (siehe Fußnote 3) gebunden. Am 1. Juli 1911 entsandte die deutsche Regierung die Kriegsschiffe Panther und Berlin nach Agadir und beschwor durch diese Provokation eine unmittelbare Kriegsgefahr herauf. Das Eingreifen Englands zugunsten Frankreichs zwang die deutschen Kolonialpolitiker zum Nachgeben. Zwischen Frankreich und Deutschland wurde ein Kompromiss geschlossen.

2. Eduard Bernstein, Die auswärtige Politik des Deutschen Reiches und die Sozialdemokratie, in Vorwärts (Berlin), Nr. 188 u. 189 vom 13. und 15. August 1911.

3. Mit dem Algecirasvertrag vom 7. April 1906 war die erste Marokkokrise von 1905 beendet worden. Der Vertrag garantierte Marokko formal die Unabhängigkeit, festigte aber den Einfluss Frankreichs in Marokko, indem er die Polizei des Landes auf fünf Jahre französischer und spanischer Kontrolle unterstellte. Deutschland hatte sich durch seine imperialistische Abenteuerpolitik außenpolitisch fast völlig isoliert.

4. Eduard Bernstein, Die auswärtige Politik des Deutschen Reiches und die Sozialdemokratie, in Vorwärts (Berlin), Nr . 189 vom 15. August 1911.

5. Ebenda.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012