Rosa Luxemburg


Die Krise der Sozialdemokratie


I

Die Szene hat gründlich gewechselt. Der Marsch in sechs Wochen nach Paris hat sich zu einem Weltdrama ausgewachsen; die Massenschlächterei ist zum ermüdend eintönigen Tagesgeschäft geworden, ohne die Lösung vorwärts oder rückwärts zu bringen. Die bürgerliche Staatskunst sitzt in der Klemme, im eigenen Eisen gefangen; die Geister, die man rief, kann man nicht mehr bannen.

Vorbei ist der Rausch. Vorbei der patriotische Lärm in den Straßen, die Jagd auf Goldautomobile, die einander jagenden falschen Telegramme, die mit Cholerabazillen vergifteten Brunnen, die auf jeder Eisenbahnbrücke Berlins bombenwerfenden russischen Studenten, die über Nürnberg fliegenden Franzosen, die Straßenexzesse des spionenwitternden Publikums, das wogende Menschengedränge in den Konditoreien, wo ohrenbetäubende Musik und patriotische Gesänge die höchsten Wellen schlugen; ganze Stadtbevölkerungen in Pöbel verwandelt, bereit, zu denunzieren, Frauen zu mißhandeln, Hurra zu schreien und sich selbst durch wilde Gerüchte ins Delirium zu steigern; eine Ritualmordatmosphäre, eine Kischinjow-Luft [1], in der der Schutzmann an der Straßenecke der einzige Repräsentant der Menschenwürde war.

Die Regie ist aus. Die deutschen Gelehrten, die „wankenden Lemuren“, sind längst zurückgepfiffen. Die Reservistenzüge werden nicht mehr vom lauten Jubel der nachstürzenden Jungfrauen begleitet, sie grüßen nicht mehr das Volk aus den Wagenfenstern mit freudigem Lächeln; sie trotten still, ihren Karton in der Hand, durch die Straßen, in denen das Publikum mit verdrießlichen Gesichtern dem Tagesgeschäft nachgeht.

In der nüchternen Atmosphäre des bleichen Tages tönt ein anderer Chorus: der heisere Schrei der Geier und Hyänen des Schlachtfeldes. Zehntausend Zeltbahnen garantiert vorschriftsmäßig! 100.000 Kilo Speck, Kakaopulver, Kaffee-Ersatz, nur per Kasse, sofort lieferbar! Granaten, Drehbänke, Patronentaschen, Heiratsvermittlung für Witwen der Gefallenen, Ledergurte, Vermittlung von Heereslieferungen – nur ernst gemeinte Offerten! Das im August, im September verladene und patriotisch angehauchte Kanonenfutter verwest in Belgien, in den Vogesen, in den Masuren in Totenäckern, auf denen der Profit mächtig in die Halme schießt. Es gilt, rasch die Ernte in die Scheunen zu bringen. Über den Ozean strecken sich tausend gierige Hände, um mitzuraffen.

Das Geschäft gedeiht auf Trümmern. Städte werden zu Schutthaufen, Dörfer zu Friedhöfen, Länder zu Wüsteneien, Bevölkerungen zu Bettlerhaufen, Kirchen zu Pferdeställen; Völker recht, Staatsverträge, Bündnisse, heiligste Worte, höchste Autoritäten in Fetzen zerrissen; jeder Souverän von Gottes Gnaden den Vetter von der Gegenseite als Trottel und wortbrüchigen Wicht, jeder Diplomat den Kollegen von der anderen Partei als abgefeimten Schurken, jede Regierung die andere als Verhängnis des eigenen Volkes der allgemeinen Verachtung preisgebend; und Hungertumulte in Venetien, in Lissabon, in Moskau, in Singapur, und Pest in Rußland, und Elend und Verzweiflung überall.

Geschändet, entehrt, im Blute watend, von Schmutz triefend – so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie. Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt – als reißende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit –, so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt.

Mitten in diesem Hexensabbat vollzog sich eine weltgeschichtliche Katastrophe: die Kapitulation der internationalen Sozialdemokratie. Sich darüber zu täuschen, sie zu verschleiern, wäre das Törichtste, das Verhängnisvollste, was dem Proletariat passieren könnte. „... der Demokrat“ (das heißt der revolutionäre Kleinbürger), sagt Marx, „geht ebenso makellos aus der schmählichsten Niederlage heraus, wie er unschuldig in sie hineingegangen ist, mit der neugewonnenen Überzeugung, daß er siegen muß, nicht daß er selbst und seine Partei den alten Standpunkt aufzugeben, sondern umgekehrt, daß die Verhältnisse ihm entgegen zureifen haben.“ [2] Das moderne Proletariat geht anders aus geschichtlichen Proben hervor. Gigantisch wie seine Aufgaben sind auch seine Irrtümer. Kein vorgezeichnetes, ein für allemal gültiges Schema, kein unfehlbarer Führer zeigt ihm die Pfade, die es zu wandeln hat. Die geschichtliche Erfahrung ist seine einzige Lehrmeisterin, sein Dornenweg der Selbstbefreiung ist nicht bloß mit unermeßlichen Leiden, sondern auch mit unzähligen Irtümern gepflastert. Das Ziel seiner Reise, seine Befreiung hängt davon ab, ob das Proletariat versteht, aus den eigenen Irrtümern zu lernen. Selbstkritik, rückisichtslose, grausame, bis auf den Grund der Dinge gehende Selbstkritik ist Lebensluft und Lebenslicht der proletarischen Bewegung. Der Fall des sozialistischen Proletariats im gegenwärtigen Weltkrieg ist beispiellos, ist ein Unglück für die Menschheit. Verloren wäre der Sozialismus nur dann, wenn das internationale Proletariat die Tiefe dieses Falls nicht ermessen, aus ihm nicht lernen wollte.

Was jetzt in Frage steht, ist der ganze letzte fünfundvierzigjährige Abschnitt in der Entwicklung der modernen Arbeiterbewegung. Was wir erleben, ist die Kritik, der Strich und die Summa unter den Posten unserer Arbeit seit bald einem halben Jahrhundert. Das Grab der Pariser Kommune hatte die erste Phase der europäischen Arbeiterbewegung und die erste Internationale geschlossen. Seitdem begann eine neue Phase. Statt der spontanen Revolutionen, Aufstände, Barrikadenkämpfe, nach denen das Proletariat jedesmal wieder in seinen passiven Zustand zurückfiel, begann der systematische Tageskampf, die Ausnützung des bürgerlichen Parlamentarismus, die Massenorganisation, die Vermählung des wirtschaftlichen mit dem politischen Kampfe und des sozialistischen Ideals mit der hartnäckigen Verteidigung der nächsten Tagesinteressen. Zum ersten Male leuchtete der Sache des Proletariats und seiner Emanzipation der Leitstern einer strengen wissenschaftlichen Lehre. Statt der Sekten, Schulen, Utopien, Experimente in jedem Lande auf eigene Faust erstand eine einheitliche internationale theoretische Grundlage, die Länder wie Zeilen in einem Band verschlang. Die marxistische Erkenntnis gab der Arbeiterklasse der ganzen Welt einen Kompaß in die Hand, um sich im Strudel der Tagesereignisse zurechtzufinden, um die Kampftaktik jeder Stunde nach dem unverrückbaren Endziel zu richten.

Trägerin, Verfechterin und Hüterin dieser neuen Methode war die deutsche Sozialdemokratie. Der Krieg von 1870 und die Niederlage der Pariser Kommune hatten den Schwerpunkt der europäischen Arbeiterbewegung nach Deutschland verlegt. Wie Frankreich die klassische Stätte der ersten Phase des proletarischen Klassenkampfes, wie Paris das pochende und blutende Herz der europäischen Arbeiterklasse in jener Zeit gewesen war, so wurde die deutsche Arbeiterschaft zur Vorhut der zweiten Phase. Sie hat durch zahllose Opfer der unermüdlichen Kleinarbeit die stärkste und mustergültige Organisation ausgebaut, die größte Presse geschaffen, die wirksamsten Bildungs- und Aufklärungsmittel ins Leben gerufen, die gewaltigsten Wählermassen um sich geschart, die zahlreichsten Parlamentsvertretungen errungen. Die deutsche Sozialdemokratie galt als die reinste Verkörperung des marxistischen Sozialismus. Sie hatte und beanspruchte eine Sonderstellung als die Lehrmeisterin und Führerin der zweiten Internationale. Friedrich Engels schrieb im Jahre 1895 in seinem berühmten Vorwort zu Marxens Klassenkämpfen in Frankreich: „Was auch in anderen Ländern geschehen möge, die deutsche Sozialdemokratie hat eine besondere Stellung und damit wenigstens zunächst auch eine besondere Aufgabe. Die zwei Millionen Wähler, die sie an die Urnen schickt, nebst den jungen Männern und den Frauen, die als Nichtwähler hinter ihnen stehen, bilden die zahlreichste, kompakteste Masse, den entscheidenden ‚Gewalthaufen‘ der internationalen proletarischen Armee.“ [3] Die deutsche Sozialdemokratie war, wie die Wiener Arbeiterzeitung am 5. August 1914 schrieb, „das Juwel der Organisation des klassenbewußten, Proletariats“. In ihre Fußstapfen traten immer eifriger die französische, die italienische und die belgische Sozialdemokratie, die Arbeiterbewegung Hollands, Skandinaviens, der Schweiz, der Vereinigten Staaten. Die slawischen Länder aber, die Russen, die Sozialdemokraten des Balkans, blickten zu ihr mit schrankenloser, beinahe kritikloser Bewunderung auf. In der zweiten Internationale spielte der deutsche „Gewalthaufen“ die ausschlaggebende Rolle. Auf den Kongressen, in den Sitzungen des Internationalen Sozialistischen Büros wartete alles auf die deutsche Meinung. Ja, gerade in den Fragen des Kampfes gegen den Militarismus und den Krieg trat die deutsche Sozialdemokratie stets entscheidend auf. „Für uns Deutsche ist dies unannehmbar“, genügte regelmäßig, um die Orientierung der Internationale zu bestimmen. Mit blindem Vertrauen ergab sie sich der Führung der bewunderten mächtigen deutschen Sozialdemokratie: diese war der Stolz jedes Sozialisten und der Schrecken der herrschenden Klassen in allen Ländern.

Und was erlebten wir in Deutschland, als die große historische Probe kam? Den tiefsten Fall, den gewaltigsten Zusammenbruch. Nirgends ist die Organisation des Proletariats so gänzlich in den Dienst des Imperialismus gespannt, nirgends wird der Belagerungszustand so widerstandslos ertragen, nirgends die Presse so geknebelt, die öffentliche Meinung so erwürgt, der wirtschaftliche und politische Klassenkampf der Arbeiterklasse so gänzlich preisgegeben wie in Deutschland.

Aber die deutsche Sozialdemokratie war nicht bloß der stärkste Vortrupp, sie war das denkende Hirn der Internationale. Deshalb muß in ihr und an ihrem Fall die Analyse, der Selbstbesinnungsprozeß ansetzen. Sie hat die Ehrenpflicht, mit der Rettung des internationalen Sozialismus, das heißt mit schonungsloser Selbstkritik voranzugehen. Keine andere Partei, keine andere Klasse der bürgerlichen Gesellschaft darf die eigenen Fehler, die eigenen Schwächen im klaren Spiegel der Kritik vor aller Welt zeigen, denn der Spiegel wirft ihr zugleich die vor ihr stehende geschichtliche Schranke und das hinter ihr stehende geschichtliche Verhängnis zurück. Die Arbeiterklasse darf stets ungescheut der Wahrheit, auch der bittersten Selbstbezichtigung ins Antlitz blicken, denn ihre Schwäche ist nur eine Verirrung, und das strenge Gesetz der Geschichte gibt ihr die Kraft zurück, verbürgt ihren endlichen Sieg.

Die schonungslose Selbstkritik ist nicht bloß das Daseinsrecht, sie ist auch die oberste Pflicht der Arbeiterklasse. An unserem Bord führten wir die höchsten Schätze der Menschheit, zu deren Hüter das Proletariat bestellt war! Und während die bürgerliche Gesellschaft, geschändet und entehrt durch die blutige Orgie, ihrem Verhängnis weiter entgegenrennt, muß und wird das internationale Proletariat sich aufraffen und die goldenen Schätze heben, die es im wilden Strudel des Weltkrieges in einem Augenblick der Verwirrung und der Schwäche hat auf den Grund sinken lassen.

Eins ist sicher: der Weltkrieg ist eine Weltwende. Es ist ein törichter Wahn, sich die Dinge so vorzustellen, daß wir den Krieg nur zu überdauern brauchen, wie der Hase unter dem Strauch das Ende des Gewitters abwartet, um nachher munter wieder in alten Trott zu verfallen. Der Weltkrieg hat die Bedingungen unseres Kampfes verändert und uns selbst am meisten. Nicht als ob die Grundgesetze der kapitalistischen Entwicklung, der Krieg zwischen Kapital und Arbeit auf Tod und Leben eine Abweichung oder eine Milderung erfahren sollten. Schon jetzt, mitten im Kriege, fallen die Masken, und es grinsen uns die alten bekannten Züge an. Aber das Tempo der Entwicklung hat durch den Ausbruch des imperialistischen Vulkans einen gewaltigen Ruck erhalten, die Heftigkeit der Auseinandersetzungen im Schoße der Gesellschaft, die Größe der Aufgaben, die vor dem sozialistischen Proletariat in unmittelbarer Nähe ragen – sie lassen alles bisherige in der Geschichte der Arbeiterbewegung als sanftes Idyll erscheinen.

Geschichtlich war dieser Krieg berufen, die Sache des Proletariats gewaltig zu fördern. Bei Marx, der so viele historische Begebenheiten mit prophetischem Blick im Schoße der Zukunft entdeckt hat, findet sich in der Schrift über Die Klassenkämpfe in Frankreich die folgende merkwürdige Stelle:

In Frankreich tut der Kleinbürger, was normalerweise der industrielle Bourgeois tun müßte (um die parlamentarischen Rechte kämpfen); der Arbeiter tut, was normalerweise die Aufgabe des Kleinbürgers wäre (um die demokratische Republik kämpfen); und die Aufgabe des Arbeiters, wer löst sie? Niemand. Sie wird nicht in Frankreich gelöst, sie wird in Frankreich proklamiert. Sie wird nirgendwo gelöst innerhalb der nationalen Wände. Der Klassenkrieg innerhalb der französischen Gesellschaft schlägt um in einen Weltkrieg, worin sich die Nationen gegenübertreten. Die Lösung, sie beginnt erst in dem Augenblick, wo durch den Weltkrieg das Proletariat an die Spitze des Volkes getrieben wird, das den Weltmarkt beherrscht, an die Spitze Englands. Die Revolution, die hier nicht ihr Ende, sondern ihren organisatorischen Anfang findet, ist keine kurzatmige Revolution. Das jetzige Geschlecht gleicht den Juden, die Moses durch die Wüste führt. Es hat nicht nur eine neue Welt zu erobern, es muß untergehen, um den Menschen Platz zu machen, die einer neuen Welt gewachsen sind. [4]

Das war im Jahre 1850 geschrieben, zu einer Zeit, wo England das einzige kapitalistisch entwickelte Land, das englische Proletariat das bestorganisierte, durch den wirtschaftlichen Aufschwung seines Landes zur Führung der internationalen Arbeiterklasse berufen schien. Lies statt England: Deutschland, und die Worte Marxens sind eine geniale Vorausahnung des heutigen Weltkrieges. Er war berufen, das deutsche Proletariat an die Spitze des Volkes zu treiben und damit „den organisatorischen Anfang“ zu der großen internationalen Generalauseinandersetzung zwischen der Arbeit und dem Kapital um die politische Macht im Staate zu machen.

Und haben wir uns etwa die Rolle der Arbeiterklasse im Weltkriege anders vorgestellt? Erinnern wir uns, wie wir noch vor kurzer Zeit das Kommende zu schildern pflegten.

Dann kommt die Katastrophe. Alsdann wird in Europa der große Generalmarsch schlagen, auf den hin 16 bis 18 Millionen Männer, die Blüte der verschiedenen Nationen, ausgerüstet mit den besten Mordwerkzeugen, gegeneinander als Feinde ins Feld rücken. Aber nach meiner Überzeugung steht hinter dem großen Generalmarsch der große Kladderadatsch. Er kommt nicht durch uns, er kommt durch Sie selber. Sie treiben die Dinge auf die Spitze, Sie führen es zu einer Katastrophe. Sie werden ernten, was Sie gesät haben. Die Götterdämmerung der bürgerlichen Welt ist im Anzuge. Seien Sie sicher: sie ist im Anzuge! [5] [Hervorhebungen – RL]

So sprach unser Fraktionsredner, Bebel, in der Marokkodebatte im Reichstag.

Die offizielle Flugschrift der Partei Imperialismus oder Sozialismus?, die vor einigen Jahren in Hunderttausenden von Exemplaren verbreitet worden ist, schloß mit den Worten:

So wächst sich der Kampf gegen den Imperialismus immer mehr zum Entscheidungskampf zwischen Kapital und Arbeit aus. Kriegsgefahr, Teuerung und Kapitalismus. – Friede, Wohlstand für alle, Sozialismus! so ist die Frage gestellt. Großen Entscheidungen geht die Geschichte entgegen. Unablässig muß das Proletariat an seiner welthistorischen Aufgabe arbeiten, die Macht seiner Organisation, die Klarheit seiner Erkenntnis stärken. Möge dann kommen, was da will, mag es seiner Kraft gelingen, die fürchterlichen Greuel eines Weltkrieges der Menschheit zu ersparen, oder mag die kapitalistische Welt nicht anders in die Geschichte versinken, wie sie aus ihr geboren ward, in Blut und in Gewalt: die historische Stunde wird die Arbeiterklasse bereit finden, und bereit sein ist alles. [6]

Im offiziellen Handbuch für sozialdemokratische Wähler vom Jahre 1911, zur letzten Reichstagswahl, steht auf S. 42 über den erwarteten Weltkrieg zu lesen:

Glauben unsere Herrschenden und herrschenden Klassen dieses Ungeheure den Völkern zumuten zu dürfen? Wird nicht ein Schrei des Entsetzens, des Zornes, der Empörung die Völker erfassen und sie veranlassen, diesem Morden ein Ende zu machen?

Werden sie nicht fragen: Für wen, für was das alles? Sind wir denn Geisteskranke, um so behandelt zu werden oder uns so behandeln zu lassen?

Wer sich die Wahrscheinlichkeit eines großen europäischen Krieges ruhig überlegt, kann zu keinen anderen Schlüssen, als den hier angeführten kommen.

Der nächste europäische Krieg wird ein Vabanquespiel, wie es die Welt noch nicht gesehen, er ist aller Voraussicht nach der letzte Krieg. [7]

>Mit dieser Sprache, mit diesen Worten warben unsere jetzigen Reichstagsabgeordneten um ihre 110 Mandate.

Als im Sommer des Jahres 1911 der Panthersprung nach Agadir [8] und die lärmende Hetze der deutschen Imperialisten die Gefahr des europäischen Krieges in die nächste Nähe gerückt hatten, nahm eine internationale Versammlung in Paris [9] am 4. August die folgende Resolution an:

Die deutschen, spanischen, englischen, holländischen und französischen Delegierten der Arbeiterorganisationen erklären, bereit zu sein, sich jeder Kriegserklärung mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu widersetzen. Jede vertretene Nation übernimmt die Verpflichtung, gemäß den Beschlüssen ihrer nationalen und der internationalen Kongresse gegen alle verbrecherischen Umtriebe der herrschenden Klassen zu handeln.

Als aber im November 1912 der Internationale Kongreß in Basel zusammentrat, als der lange Zug der Arbeitervertreter im Münster anlangte, da ging ein Erschauern vor der Größe der, kommenden Schicksalsstunde und ein heroischer Entschluß durch die Brust aller Anwesenden.

Der kühle, skeptische Victor Adler rief:

Genossen, das Wichtigste ist, daß wir hier an dem gemeinsamen Quell Unserer Kraft sind, daß wir von hier die Kraft mitnehmen, ein jeder in seinem Lande zu tun, was er kann, durch die Formen und Mittel, die wir haben, mit der ganzen Macht, die wir besitzen, uns entgegenzustemmen dem Verbrechen des Krieges. Und wenn es vollbracht werden sollte, wenn es wirklich vollbracht werden sollte, dann müssen wir dafür sorgen, daß es ein Stein sei, ein Stein vom Ende.

Das ist die Gesinnung, die die ganze Internationale beseelt.

Und wenn Mord und Brand und Pestilenz durch das zivilisierte Europa ziehen – wir können nur mit Schaudern daran denken, und Empörung und Entrüstung ringt sich aus unserer Brust. Und wir fragen uns: sind denn die Menschen, sind die Proletarier wirklich heute noch Schafe, daß sie stumm zur Schlachtbank geführt werden können?... [10] [Hervorhebungen – RL]

Troelstra sprach im Namen der „kleinen Nationen“, auch in Belgiens Namen:

Mit Gut und Blut steht das Proletariat der kleinen Länder der Internationale zur Verfügung in allem, was sie beschließen will, um den Krieg fernzuhalten. Wir sprechen weiter die Erwartung aus, daß, wenn einmal die herrschenden Klassen der großen Staaten die Söhne ihres Proletariats zu den Waffen rufen, um die Habgier und die Herrschaft ihrer Regierungen zu kühlen in dem Blute und auf dem Boden der kleinen Völker, daß dann die Proletariersöhne unter dem mächtigen Einfluß ihrer proletarischen Eltern, des Klassenkampfes und der proletarischen Presse es sich dreimal überlegen werden, ehe sie im Dienste dieses kulturfeindlichen Unternehmens uns, ihren Brüdern, ihren Freunden etwas zuleide tun. [11] [Hervorhebungen – RL]

Und Jaurès schloß seine Rede, nachdem er im Namen des Internationalen Büros das Manifest gegen den Krieg [12] verlesen hatte:

Die Internationale vertritt alle sittlichen Kräfte in der Welt! Und wenn einmal die tragische Stunde schlägt, in der wir uns ganz hingeben müßten, dieses Bewußtsein würde uns stützen und stärken. Nicht nur leichthin gesprochen, nein, aus dem Tiefsten unseres Wesens erklären wir, wir sind zu allen Opfern bereit. [13] [Hervorhebung – RL]

Es war wie ein Rütlischwur. Die ganze Welt richtete die Blicke auf den Basler Münster, wo die Glocken zur künftigen großen Schlacht zwischen der Armee der Arbeit und der Macht des Kapitals ernst und feierlich läuteten.

Am 3. Dezember 1912 sprach der sozialdemokratische Fraktionsredner David im Deutschen Reichstag:

Das war eine der schönsten Stunden meines Lebens, das bekenne ich. Als die Glocken des Münsters den Zug der internationalen Sozialdemokraten begleiteten, als die roten Fahnen im Chor der Kirche um den Altar sich aufstellten, und als Orgelklang die Sendboten der Völker begrüßte, die den Frieden verkünden wollten, da war das allerdings ein Eindruck, den ich nicht vergessen werde... Was sich hier vollzieht, das sollte Ihnen doch klarwerden. Die Massen hören auf, willenlose, gedankenlose Herden zu sein. Das ist neu in der Geschichte. Früher haben sich die Massen blindlings von denen, die Interesse an einem Krieg hatten, gegeneinanderhetzen und in den Massenmord treiben lassen. Das hört auf. Die Massen hören auf, willenlose Instrumente und Trabanten irgendwelcher Kriegsinteressenten zu sein. [14] [Hervorhebungen – RL]

Noch eine Woche vor Ausbruch des Krieges, am 26. Juli 1914, schrieben deutsche Parteiblätter:

Wir sind keine Marionetten, wir bekämpfen mit aller Energie ein System, das die Menschen zu willenlosen Werkzeugen der blind waltenden Verhältnisse macht, diesen Kapitalismus, der das nach Frieden dürstende Europa in ein dampfendes Schlachthaus zu verwandeln sich anschickt. Wenn das Verderben seinen Gang geht, wenn der entschlossene Friedenswille des deutschen, des internationalen Proletariats, der in den nächsten Tagen sich in machtvollen Kundgebungen offenbaren wird, nicht imstande sein sollte, den Weltkrieg abzuwehren, dann soll er wenigstens der letzte Krieg, dann soll er die Götterdämmerung des Kapitalismus werden. (Frankfurter Volksstimme)

Noch am 30. Juli 1914 rief das Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie:

Das sozialistische Proletariat lehnt jede Verantwortung für die Ereignisse ab, die eine bis zum Aberwitz verblendete herrschende Klasse heraufbeschwört. Es weiß, daß gerade ihm neues Leben aus den Ruinen blühen wird. Alle Verantwortung fällt auf die Machtbaber von heute.

Für sie handelt es sich um Sein oder Nichtsein.

Die Weltgeschichte ist das Weltgericht. [15]

Und dann kam das Unerhörte, das Beispiellose, der 4. August 1914.

Ob es so kommen mußte? Ein Geschehnis von dieser Tragweite ist gewiß kein Spiel des Zufalls. Es müssen ihm tiefe und weitgreifende objektive Ursachen zugrunde liegen. Aber diese Ursachen können auch in Fehlern der Führerin des Proletariats, der Sozialdemokratie, im Versagen unseres Kampfwillens, unseres Muts, unserer Überzeugungstreue liegen. Der wissenschaftliche Sozialismus hat uns gelehrt, die objektiven Gesetze der geschichtlichen Entwicklung zu begreifen. Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken. Aber sie machen sie selbst. Das Proletariat ist in seiner Aktion von dem jeweiligen Reifegrad der gesellschaftlichen Entwicklung abhängig, aber die gesellschaftliche Entwicklung geht nicht jenseits des Proletariats vor sich, es ist in gleichem Maße ihre Triebfeder und Ursache, wie es ihr Produkt und Folge ist. Seine Aktion selbst ist mitbestimmender Teil der Geschichte. Und wenn wir die geschichtliche Entwicklung so wenig überspringen können, wie der Mensch seinen Schatten, wir können sie wohl beschleunigen oder verlangsamen.

Der Sozialismus ist die erste Volksbewegung der Weltgeschichte, die sich zum Ziel setzt und von der Geschichte berufen ist, in das gesellschaftliche Tun der Menschen einen bewußten Sinn, einen planmäßigen Gedanken und damit den freien Willen hineinzutragen. Darum nennt Friedrich Engels den endgültigen Sieg des sozialistischen Proletariats einen Sprung der Menschheit aus dem Tierreich in das Reich der Freiheit. Auch dieser „Sprung“ ist an eherne Gesetze der Geschichte, an tausend Sprossen einer vorherigen qualvollen und allzu langsamen Entwicklung gebunden. Aber er kann nimmermehr vollbracht werden, wenn aus all dem von der Entwicklung zusammengetragenen Stoff der materiellen Vorbedingungen nicht der zündende Funke des bewußten Willens der großen Volksmasse aufspringt. Der Sieg des Sozialismus wird nicht wie ein Fatum vom Himmel herabfallen. Er kann nur durch eine lange Kette gewaltiger Kraftproben zwischen den alten und den neuen Mächten erkämpft werden, Kraftproben, in denen das internationale Proletariat unter der Führung der Sozialdemokratie lernt und versucht, seine Geschicke in die eigene Hand zu nehmen, sich des Steuers des gesellschaftlichen Lebens zu bemächtigen, aus einem willenlosen Spielball der eigenen Geschichte zu ihrem zielklaren Lenker zu werden.

Friedrich Engels sagte einmal: die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma: entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei. Was bedeutet ein „Rückfall in die Barbarei“ auf unserer Höhe der europäischen Zivilisation? Wir haben wohl alle die Worte bis jetzt gedankenlos gelesen und wiederholt, ohne ihren furchtbaren Ernst zu ahnen. Ein Blick um uns in diesem Augenblick zeigt, was ein Rückfall der bürgerlichen Gesellschaft in die Barbarei bedeutet. Dieser Weltkrieg – das ist ein Rückfall in die Barbarei. Der Triumph des Imperialismus führt zur Vernichtung der Kultur – sporadisch während der Dauer eines modernen Krieges, und endgültig, wenn die nun begonnene Periode der Weltkriege ungehemmt bis zur letzten Konsequenz ihren Fortgang nehmen sollte. Wir stehen also heute, genau wie Friedrich Engels vor einem Menschenalter, vor vierzig Jahren, voraussagte, vor der Wahl: entweder Triumph des Imperialismus und Untergang jeglicher Kultur, wie im alten Rom, Entvölkerung, Verödung, Degeneration, ein großer Friedhof. Oder Sieg des Sozialismus, das heißt der bewußten Kampfaktion des internationalen Proletariats gegen den Imperialismus und seine Methode: den Krieg. Dies ist ein Dilemma der Weltgeschichte, ein Entweder-Oder, dessen Waagschalen zitternd schwanken vor dem Entschluß des klassenbewußten Proletariats. Die Zukunft der Kultur und der Menschheit hängt davon ab, ob das Proletariat sein revolutionäres Kampfschwert mit männlichem Entschluß in die Waagschale wirft.

In diesem Kriege hat der Imperialismus gesiegt. Sein blutiges Schwert des Völkermordes hat mit brutalem Übergewicht die Waagschale in den Abgrund des Jammers und der Schmach hinabgezogen. Der ganze Jammer und die ganze Schmach können nur dadurch aufgewogen werden, daß wir aus dem Kriege und im Kriege lernen, wie das Proletariat sich aus der Rolle eines Knechts in den Händen der herrschenden Klassen zum Herrn des eigenen Schicksals aufrafft.

Teuer erkauft die moderne Arbeiterklasse jede Erkenntnis ihres historischen Berufes. Der Golgathaweg ihrer Klassenbefreiung ist mit furchtbaren Opfern besät. Die Junikämpfer, die Opfer der Kommune, die Märtyrer der russischen Revolution – ein Reigen blutiger Schatten schier ohne Zahl. Jene waren aber auf dem Felde der Ehre gefallen, sie sind, wie Marx über die Kommune-Helden schrieb, auf „ewige Zeiten eingeschreint in dem großen Herzen der Arbeiterklasse“. [16] Jetzt fallen Millionen Proletarier aller Zungen auf dem Felde der Schmach, des Brudermordes, der Selbstzerfleischung mit dem Sklavengesang auf den Lippen. Auch das sollte uns nicht erspart bleiben. Wir gleichen wahrhaft den Juden, die Moses durch die Wüste führt. Aber wir sind nicht verloren, und wir werden siegen, wenn wir zu lernen nicht verlernt haben. Und sollte die heutige Führerin des Proletariats, die Sozialdemokratie, nicht zu lernen verstehen, dann wird sie untergehen, „um den Menschen Platz zu machen, die einer neuen Welt gewachsen sind“. [17]

Anmerkungen

1. Im April 1903 hatten in Kischinjow die vom zaristischen Regime geschaffenen bewaffneten Organisation, die Schwarzhunderter, Juden, Studenten, Revolutionäre und klassenbewußte Arbeiter terrorisiert. Diese Pogrome waren eine Reaktion des Zarenregimes auf Streiks und Demonstrationen der Arbeiter.

2. Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke, Bd. 8, S. 145.

3. Friedrich Engels, Einleitung zu Marx’ Klassenkämpfe in Frankreich, in Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke, Bd. 22, S. 524.

4. Karl Marx, Klassenkämpfe in Frankreich, in Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke, Bd. 7, S. 79.

5. Verhandlungen des Reichstags. XII. Legislaturperiode. II. Session, Bd. 268, Stenographische Berichte, Berlin 1911, S. 7730.

6. Julian Marchlewski (J. Karski), Imperialismus oder Sozialismus?, Berlin 1960, S. 48–49.

7. Handbuch für sozialdemokratische Wähler, Berlin 1911, S. 42.

8. Den Versuch des französischen Imperialismus im Frühjahr 1911, seine Herrschaft auf ganz Marokko auszudehnen und endgültig zu festigen, hatte der deutsche Imperialismus mit der Entsendung der Kriegsschiffe Panther und Berlin nach Agadir beantwortet und durch diese provokation eine unmittelbare Kriegsgefahr heraufbeschworen. Das Eingreifen Großbritanniens zugunsten Frankreichs zwang die deutschen Kolonialpolitiker zum Nachgeben.

9. In der Quelle: London – Am 4. August 1911 führte die Confédération Général du Travail eine Kundgebung durch, an der neben Mitgliedern der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands und des Vorstandes der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Vertreter britischer, spanischer und holländischer Gewerkschaften teilnahmen.

10. Außerordentlicher Internationaler Sozialisten-Kongreß zu Basel am 24. und 25. November 1912, Berlin 1912, S. 18.

11. Ebenda, S. 33.

12. Das auf dem Außerordentlichen Internationalen Sozialisten-Kongreß zu Basel am 24. und 25. November 1912 angenommene Manifest der Internationale zur gegenwärtigen Lage bekräftigte die Beschlüsse der Kongresse von Stuttgart 1907 und Kopenhagen 1910 und forderte das Proletariat auf, alle wirksamen Mittel zur Verhinderung des Krieges einzusetzen und, falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, die durch ihn herbeigeführte Krise auszunutzen und dadurch die beseitigung der kapitalistischen Herrschaft zu beschleunigen.

13. Außerordentlicher Internationaler Sozialisten-Kongreß zu Basel am 24. und 25. November 1912, S. 27.

14. Verhandlungen des Reichstags. XII. Legislaturperiode. I. Session, Bd. 286, Stenographische Berichte, Berlin 1911, S. 2517–18.

15. Vor der Katastrophe, in Vorwärts (Berlin), Nr. 295, 30. Juli 1914.

16. Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, in Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke, Bd. 17, Berlin 1971, S. 362.

17. Karl Marx, Klassenkämpfe in Frankreich, in Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke, Bd. 7, S. 79.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012