Rosa Luxemburg


Entwurf zu den „Junius“-Thesen [1]

(1916)


Unter dem Banner des Marxismus (Berlin/Wien), Jg. 1, Heft 2, Juli 1925, S. 417–419.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4 (6. überarbeitete Auflage), Berlin 2000, S. 43–47.
Mit freundlicher Genehmigung des Karl Dietz Verlag Berlin.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


1. Der Weltkrieg hat die Resultate der vierzigjährigen Arbeit des europäischen Sozialismus zunichte gemacht, indem er die Bedeutung der revolutionären Arbeiterklasse als eines politischen Machtfaktors und das moralische Prestige des Sozialismus vernichtet, die proletarische Internationale gesprengt, ihre Sektionen zum Brudermord gegeneinander geführt und die Wünsche und Hoffnungen der Volksmassen in den wichtigsten Ländern der kapitalistischen Entwicklung an das Schiff des Imperialismus gekettet hat.

2. Durch die Zustimmung zu den Kriegskrediten und die Proklamierung des Burgfriedens haben die offiziellen Führer der sozialistischen Parteien in Deutschland, Frankreich und England dem Imperialismus den Rücken gestärkt, die Volksmassen zum geduldigen Ertragen des Elends und der Schrecken des Krieges veranlaßt und so zur zügellosen Entfesselung der imperialistischen Furien, zur Verlängerung des Massenmordes und zur Vermehrung seiner Opfer beigetragen, die Verantwortung für den Krieg und seine Folgen mit übernommen.

3. Diese Taktik der offiziellen Parteiinstanzen der kriegführenden Länder, in allererster Linie in Deutschland, dem bisherigen führenden Lande innerhalb der Internationale, bedeutet einen Verrat an den elementarsten Grundsätzen des internationalen Sozialismus, an den Lebensinteressen der Volksmassen, an den freiheitlichen und demokratischen Interessen ihrer Länder. Dadurch ist die sozialistische Politik auch in jenen Ländern zur Ohnmacht verurteilt worden, wo die Parteiführer ihren Pflichten treu geblieben sind: in Rußland, Serbien und Italien.

4. Indem die internationale Sozialdemokratie der führenden Länder den Klassenkampf im Kriege preisgegeben und ihn [auf die Zeit] nach dem Kriege, auf die Zeit des Friedens verschoben, hat sie dem Feind: den herrschenden Klassen, in allen Ländern Frist gewährt, um seine Positionen auf Kosten des Proletariats wirtschaftlich, politisch und moralisch ungeheuer zu stärken.

5. Der Weltkrieg dient weder der nationalen Verteidigung noch den wirtschaftlichen oder politischen Interessen irgendwelcher Volksmassen, er ist lediglich eine Ausgeburt imperialistischer Rivalitäten zwischen den kapitalistischen Klassen verschiedener Länder um die Weltherrschaft und das Monopol in der Aussaugung und Auspowerung der letzten Reste der noch nicht vom Kapital beherrschten Welt. In der Ära dieses entfesselten Imperialismus kann es keine nationalen Kriege mehr geben. Die nationalen Interessen dienen nur als Düpierungsmittel, um die arbeitenden Volksmassen ihrem Todfeind, dem Imperialismus, dienstbar zu machen.

6. Aus der Politik der imperialistischen Staaten und aus dem imperialistischen Kriege kann für keine unterdrückte Nation Freiheit und Unabhängigkeit hervorsprießen. Die kleinen Nationen sind nur Schachfiguren in dem imperialistischen Spiel der Großmächte und werden, ebenso wie die arbeitenden Volksmassen aller beteiligten Länder, während des Krieges als Werkzeug mißbraucht, um nach dem Kriege auf dem Altar der kapitalistischen Interessen geopfert zu werden.

7. Der heutige Weltkrieg bedeutet unter diesen Umständen bei jeder Niederlage und bei jedem Siege eine Niederlage des Sozialismus und der Demokratie. Er führt bei jedem Ausgang – ausgenommen die revolutionäre Intervention des internationalen Proletariats – nur zur Stärkung des Militarismus und Marinismus, der imperialistischen Appetite, der internationalen Gegensätze, der weltwirtschaftlichen Rivalitäten und der Reaktion im Innern (der Agrarier, der Scharfmacher, der Kartellindustrie, des Klerikalismus, des Chauvinismus, des Monarchismus) und umgekehrt zur Schwächung der öffentlichen Kontrolle, der Opposition sowie zur Herabdrückung der Parlamente zu gehorsamen Werkzeugen des Militarismus in allen Ländern. Der heutige Weltkrieg arbeitet so letzten Endes nur auf einen erneuten Ausbruch des Krieges nach kürzerer oder längerer Friedenspause hin.

8. Der Weltfriede kann weder durch internationale Schiedsgerichte kapitalistischer Diplomaten noch durch diplomatische Abmachungen über „Abrüstung“, über die sogenannte „Freiheit der Meere“, noch durch „europäische Staatenbünde“, „mitteleuropäische Zollvereine“, „nationale Pufferstaaten“ und dergleichen utopische oder in ihrem Grunde reaktionäre Projekte gesichert werden. Imperialismus, Militarismus und Kriege sind nicht zu beseitigen und nicht einzudämmen, solange die kapitalistischen Klassen unbestritten ihre Klassenherrschaft ausüben. Die einzige Sicherung und die einzige Stütze des Weltfriedens ist der revolutionäre Wille und die politische Aktionsfähigkeit des internationalen Proletariats.

9. Der Imperialismus als letzte Lebensphase und höchste Entfaltung der politischen Weltherrschaft des Kapitals ist der gemeinsame Todfeind des Proletariats aller Länder, und gegen ihn muß der proletarische Klassenkampf im Frieden wie im Kriege in erster Linie konzentriert werden. Der Kampf gegen den Imperialismus ist für das internationale Proletariat zugleich der Kampf um die politische Macht im Staate, die entscheidende Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Die Schicksale des sozialistischen Endzieles hängen davon ab, ob das internationale Proletariat sich dazu aufraffen wird, gegen den Imperialismus auf der ganzen Linie Front zu machen und die Losung „Krieg dem Kriege!“ unter Aufbietung der vollen Kraft und des äußersten Opfermutes zur Richtschnur seiner praktischen Politik zu machen.

10. Zu diesem Zwecke richtet sich die Hauptaufgabe des Sozialismus heute darauf, das Proletariat aller Länder zu einer lebendigen revolutionären Macht zusammenzufassen, es durch eine starke internationale Organisation mit einheitlicher Auffassung seiner Interessen und Aufgaben, mit einheitlicher Taktik und politischer Aktionsfähigkeit im Frieden wie im Kriege zu dem entscheidenden Faktor des politischen Lebens zu machen, zu dessen Rolle es durch die Geschichte berufen ist.

11. Die II. Internationale ist durch den Krieg gesprengt worden. Die Unzulänglichkeit ihrer Organisation hat sich erwiesen durch ihre Unfähigkeit, einen wirksamen moralischen Damm gegen die nationale Zersplitterung im Kriege aufzurichten und eine gemeinsame Taktik und Aktion des Proletariats in allen Ländern aufrechtzuerhalten.

12. Angesichts des Verrats der offiziellen Vertretungen der sozialistischen Parteien der führenden Länder an den Zielen und Interessen der Arbeiterklasse, angesichts ihrer Abschwenkung vom Boden der proletarischen Internationale auf den Boden der bürgerlich-imperialistischen Politik ist es eine Lebensfrage des Sozialismus, eine neue Arbeiterinternationale zu gründen, welche die Leitung und Zusammenfassung des revolutionären Klassenkampf es gegen den Imperialismus in allen Ländern übernehmen muß.
 

Sie wird auf folgenden Grundlagen aufgebaut:

1. Der Klassenkampf im Innern der bürgerlichen Staaten gegen die herrschenden Klassen und die internationale Solidarität der Proletarier aller Länder sind zwei unzertrennliche Lebensregeln der Arbeiterklasse in ihrem welthistorischen Befreiungskampfe. Es gibt keinen Sozialismus außerhalb der internationalen Solidarität des Proletariats, und es gibt keinen Sozialismus außerhalb des Klassenkampfes. Das sozialistische Proletariat kann weder im Frieden noch im Kriege auf Klassenkampf und internationale Solidarität verzichten, ohne Selbstmord zu begehen.

2. Die Klassenaktion des Proletariats aller Länder muß im Frieden wie im Kriege auf die Bekämpfung des Imperialismus und Verhinderung des Krieges als auf ihr Hauptziel gerichtet werden. Die parlamentarische Aktion, die gewerkschaftliche Aktion wie die gesamte Tätigkeit der Arbeiterbewegung muß dem Zwecke untergeordnet werden, das Proletariat in jedem Lande aufs schärfste der nationalen Bourgeoisie entgegenzustellen, den politischen und geistigen Gegensatz zwischen beiden auf Schritt und Tritt hervorzukehren sowie gleichzeitig die internationale Zusammengehörigkeit der Proletarier aller Länder in den Vordergrund zu schieben und zu betätigen.

3. In der Internationale liegt der Schwerpunkt der Klassenorganisation des Proletariats. Die Internationale entscheidet über die Taktik der nationalen Sektionen im Frieden in bezug auf Fragen des Militarismus, der Kolonialpolitik, Handelspolitik, Maifeier, ferner über die gesamte im Kriege einzuhaltende Taktik.

4. Die Pflicht der Disziplin gegenüber den Beschlüssen der Internationale geht allen anderen Organisationspflichten voran. Nationale Sektionen, die den Beschlüssen der Internationale im Kriege zuwiderhandeln, stellen sich dadurch außerhalb des internationalen Proletariats und entbinden ihre Mitglieder von allen Verpflichtungen sich gegenüber.

5. In den Kämpfen gegen den Imperialismus und den Krieg kann die entscheidende Wirkung nur von den kompakten Massen des Proletariats aller Länder in die Waagschale geworfen werden. Das Hauptaugenmerk der Taktik der nationalen Sektionen ist somit darauf zu richten, die breiten Massen zur politischen Aktionsfähigkeit zu erziehen, den internationalen Zusammenhang dieser Massenaktionen zu sichern, die politischen und gewerkschaftlichen Organisationen dahin auszubauen, um durch ihre Vermittlung jederzeit aufs rascheste und wirksamste den Willen und die Beschlüsse der Internationale zur Tat der breitesten Arbeitermassen aller Länder zu machen.

6. Die zweite dringende Aufgabe des Sozialismus ist die geistige Befreiung des Proletariats von der Vormundschaft der Bourgeoisie, die sich in dem Einfluß der nationalistischen Ideologie äußert. Die nationalen Sektionen haben ihre Agitation in den Parlamenten wie in der Presse dahin zu richten, um die überlieferte Phraseologie des Nationalismus als bürgerliches Herrschaftsinstrument zu denunzieren. Die einzige Verteidigung aller wahren nationalen Freiheit ist heute der revolutionäre Klassenkampf gegen den Imperialismus; das Vaterland der Proletarier, dessen Verteidigung alles andere untergeordnet werden muß, ist die sozialistische Internationale.


Anmerkung

1. Diese Thesen wurden mit einigen Änderungsvorschlägen Karl Liebknechts nach der Diskussion auf der Konferenz der Gruppe Internationale am 1. Januar 1916 im Prinzip gebilligt und nach redaktioneller Bearbeitung als Leitsätze über die Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie u. a. als Flugblatt, in den Politischen Briefen, Nr. 14 vom 3. Februar 1916, sowie als Anhang zur „Junius“-Broschüre illegal verbreitet.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012