Rosa Luxemburg


Brennende Zeitfragen


I
Krieg und Frieden

Die russische Revolution [1] war die erste durchschlagende Äußerung der proletarischen Klassenpolitik seit dem Bankerott des internationalen Sozialismus beim Ausbruch des Weltkrieges und damit der erste Vorstoß für den Frieden von welthistorischer Tragweite. Gleich am anderen Tage nach dem Siege über das alte Regime begann auch die Aktion des russischen Proletariats gegen den Krieg. Sie war zunächst darauf gerichtet, dem imperialistischen Kriege, wie er vom Zarenregiment und der russischen Bourgeoisie geführt worden war, seinen Charakter zu nehmen. Nach einigen heftigen Kämpfen hat es die russische Arbeitermasse siegreich durchgesetzt, daß von der Provisorischen Regierung offiziell als Formel der Kriegsziele anerkannt wurde: keine Annexionen, keine Entschädigungen, ein Friede auf Grund der Selbstbestimmung der Nationen. [2] Auf den ersten Blick hatte damit die proletarische Politik einen vollen und entscheidenden Sieg davongetragen. Für den Frieden und die Revolution schien freie Bahn geschaffen zu sein. In Wirklichkeit wurde das russische Proletariat durch seinen Sieg nur vor neue Schwierigkeiten und Probleme gestellt.

Die Friedensformel ist gefunden, aber von da bis zum Frieden ist noch ein weiter Weg. Wie ist der Friede zu erzielen? – das ist nun die Frage. Ein Sonderfriede wäre, wie anscheinend sämtliche sozialistische Richtungen in Rußland eingesehen haben, nicht eine Beendigung, sondern nur eine neue Entfachung des Weltkrieges. Jeder Sonderfriede ist überhaupt schon aus dem Grunde nicht proletarische, sondern rein bürgerliche Politik, weil er auf eine einseitig nationale Lösung des Kriegsproblems hinausläuft, weil er die Schicksale des europäischen Proletariats im ganzen außer acht läßt, um nur ein einzelnes Land aus den Krallen des Krieges zu befreien. Im gegebenen Falle wäre ein Sonderfriede noch mehr: Er wäre ein unschätzbarer Hilfsdienst an den deutschen Imperialismus, somit an den ärgsten Feind des deutschen Proletariats, an das stärkste Bollwerk der Reaktion in Europa und – an den gefährlichsten Feind der russischen Revolution am anderen Tage nach Beendigung des Krieges.

Aber ein allgemeiner Friede kann von Rußland allein nicht herbeigeführt werden. Das russische Proletariat kann den Widerstand der eigenen herrschenden Klassen niederzwingen, es ist nicht imstande, auf die imperialistischen Regierungen Englands, Frankreichs und Italiens ausschlaggebenden Einfluß auszuüben, da hier der entscheidende Druck naturgemäß, wie in Rußland selbst, nur von innen heraus, nur von dem englischen, französischen und italienischen Proletariat kommen könnte. So ist in Wirklichkeit, trotz der machtvollen und siegreichen Friedensaktion der russischen Volksmasse, zunächst weder ein Sonderfriede noch ein allgemeiner Friede praktisch zu erreichen. Solange diese Situation dauert, geht der Krieg weiter, und das russische Proletariat sieht sich vor die unabweisbare Frage gestellt: Wie sich nun in diesem Kriege verhalten?

Die offiziell in Rußland anerkannte Friedensformel des Arbeiter- und Soldatenrats nimmt dem Kriege scheinbar – wenigstens für Rußland – den Charakter eines imperialistischen Annexionskrieges und reduziert ihn auf reine Landesverteidigung. In diesem Falle ist sie es auch in dem einzig wahren Sinne des Wortes, denn sie ist die Verteidigung der Errungenschaften der Revolution unter der souveränen Leitung der revolutionären Massen. Allein politische Verteidigung läßt sich militärisch von der Offensive nicht trennen. Wer überhaupt Krieg führt, muß ihn, um welche Ziele immer der Krieg gehen mag, militärisch möglichst auf die Offensive stellen, eingedenk des alten bewährten Grundsatzes jedes Kampfes, daß ein kräftiger Hieb seit jeher die beste Parade ist. Offenbar durch diese Logik der Dinge gezwungen, beschloß der russische Kriegsminister Kerenski sowie die Mehrheit der Arbeiter- und Soldatenmasse, zur Offensive zu greifen.

Jedoch alle aktive Kriegführung und jede militärische Offensive von russischer Seite dient jetzt kraft der objektiven Sachlage und ihrer Logik nicht der Verteidigung der russischen Revolution, sondern den Interessen des Ententeimperialismus. Keine noch so radikale und demokratische Friedensformel vermag die faustdicke Tatsache zu beseitigen, daß jede von Rußland unternommene militärische Aktion den imperialistischen Kriegszielen Englands, Frankreichs und Italiens zugute kommt, daß also die russische Republik, indem sie die reine Landesverteidigung proklamiert, in Wirklichkeit an einem imperialistischen Kriege teilnimmt und, während sie das Selbstbestimmungsrecht der Nationen als Grundsatz ausruft, in der Praxis der Herrschaft des Imperialismus über fremde Nationen Vorschub leistet.

Wie aber nun, wenn Rußland sich auf keine Offensive einläßt und sich militärisch – wie in den ersten Monaten nach dem Revolutionsausbruch – auf eine passive abwartende Haltung beschränkt, indem es bloß Gewehr bei Fuß steht, um eventuelle Angriffe von deutscher Seite schlecht oder recht zu parieren? Mit dieser Passivität, die an sich eine Halbheit, ein Ausweichen dem Kriege, nicht dessen Beendigung bedeutete, leistete Rußland unschätzbare Dienste dem deutschen Imperialismus, indem es ihm gestattete, seine Hauptstreitkräfte nur gegen die westliche Front zu verwenden, indem es ihm im Osten gewissermaßen den Rücken deckte. So befindet sich die russische Republik zwischen der Szylla und der Charybdis. Will sie sich etwa durch einen Sonderfrieden aus der Schlinge des Völkermordens ziehen, dann verrät sie das internationale Proletariat und die eigenen Schicksale an den deutschen Imperialismus. Ist sie aber nicht imstande, einen allgemeinen Frieden allein durchzusetzen, dann bleibt ihr nur die Wahl zwischen aktiver Kriegführung, mit der sie die Interessen des Ententeimperialismus besorgt, und passiver Kriegführung, d. h. militärischer Untätigkeit, mit der sie ebenso todsicher die Geschäfte des deutschen Imperialismus fördert.

Dies ist die wirkliche Sachlage der russischen Republik – eine tragische Situation, an der die schöne Friedensformel, die wie ein erlösendes Zauberwort von allen begrüßt wurde, nicht das geringste ändert. Und diese Sachlage bedingt, daß das russische Proletariat, trotz all seiner heroischen Kämpfe und Siege, trotz seiner Machtentfaltung gegen den Krieg und den Imperialismus in Wirklichkeit heute verdammt ist, ein Spielball des Imperialismus zu sein, und daß jede Taktik, die es einschlagen mag, letzten Endes dem Imperialismus zugute kommt. Es gibt einfach – so paradox dies klingen mag – keine richtige Taktik, die von dem russischen Proletariat heute befolgt werden könnte: Welche es wählen mag, sie wird falsch sein. Und das hat einen sehr triftigen, tiefliegenden Grund. Der heutige Weltkrieg, der seinen objektiven Ursachen und seinem historischen Charakter nach eine internationale Auseinandersetzung des Imperialismus ist, läßt sich nicht in einem Winkel, in einem Lande, von einem Teilnehmer auch beim besten Willen in sein Gegenteil: in einen demokratischen Landesverteidigungskrieg, verwandeln. Vom Rade der imperialistischen Weltkatastrophe erfaßt, kann die russische Republik allein an ihrem Teil sich den Konsequenzen dieser Katastrophe nicht entziehen, sich aus dem Rad nicht befreien und auch das Rad allein nicht zum Stillstand bringen. Die internationale Katastrophe vermag nur das internationale Proletariat zu bändigen. Den imperialistischen Weltkrieg kann nur eine proletarische Weltrevolution liquidieren. Und die Widersprüche, in denen sich die russische Revolution unentrinnbar bewegt, sind nur praktische Äußerungen des Grundwiderspruchs zwischen der revolutionären Politik des russischen Proletariats und der Kadaverpolitik des europäischen Proletariats, zwischen der Klassenaktion der Volksmassen in Rußland und dem Verrat der deutschen, englischen, französischen Arbeitermassen an ihren Klasseninteressen und am Sozialismus.

Diejenigen, die sich bei der Bildung oppositioneller Minderheitsgruppen oder -parteien sowie bei entsprechenden Einzelvorstößen in den Parlamenten beruhigen und damit die Ehre des internationalen Sozialismus gerettet wähnen, vergessen immer, daß die wirklichen Schicksale des Sozialismus nicht in Konventikeln und nicht in parlamentarischen Schwatzbuden, sondern nur in großen Aktionen der Volksmassen entschieden werden können. Solange die Massen, wie das bis heute der Fall, sich nicht rühren, wiegen alle „unabhängigen“ Konventikel mitsamt ihren Resolutionen, Konferenzen und Denkschriften soviel wie die Spreu im Winde.

Anmerkungen

1. Die Revolution im Februar 1917 war eine bürgerlich-demokratische Revolution, durch die der Zarismus gestürzt wurde. Da keine Klasse über die ganze Macht verfügte, bildete sich eine Doppelherrschaft heraus. Die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft wurde verwirklicht durch den Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten, dessen Vorsitzender der Menschewik N.S. Tscheïdse war, und die diktatur der Bourgeoisie in form der Provisorischen Regierung, die von dem Fürsten G.J. Lwow geführt wurde. Als Außenminister gehörten ihr an der Führer der Kadetten, P.N. Miljukow, und als Kriegs- und Marineminister der Führer der Oktobristen, A.J. Gutschkow.

Die Innen- und Außenpolitik der Provisorischen Regierung auf die Festigung der Grundlagen des Kapitalismus und die Weiterführung des Krieges orientiert war, verschärften sich die Klassenauseinandersetzungen.

2. Die Provisorische Regierung hatte am 28. März 1917 in einem Aufruf an die Bürger Rußlands versucht, ihre imperialistische Politik zu verschleiern, indem sie erklärte, daß das Ziel Rußlands nicht die Herrschaft über andere Völker und die Eroberung fremder Gebiete sei, sondern ein Frieden auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen. Aber gleichzeitig wurde betont, daß Rußland alle vom Zarismus eingegangenen Verpflichtungen gegenüber den imperialistischen Staaten England und Frankreich einhalten würde.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012